Mit der politischen Wende 1990 erfolgte im Zuge der Treuhandtätigkeit, welche die in Volkseigentum übergegangenen Altlasten des Ostens verwaltete und marktwirtschaftlich bewertete, die komplette Stilllegung der Fabriken.
Edubs Freund, „Der Lange“, war zu Kinderzeiten entsprechend der sozialistischen Klassifizierung echter „Kapitalistensohn“, durfte nicht studieren. Hat sich jahrelang in der „Produktion bewährt und Armeedienst geleistet“, sich das Medizinstudium redlich verdient.
Als späterer hochangesehener Chefarzt für die Medizinische Akademie Magdeburg in Osterwieck, volksnah dort Karnevalspräsident, war er natürlich kein Freund des Sozialismus, hatte sich widerwillig arrangiert. Bis seine kleine Tochter im ersten Schuljahr „Landesverteidigung“ spielen musste. „Wer beim Schießen auf die vorgetäuschten Angreifer auf einen vergrabenen Luftballon tritt, ist tot, muss sich auf den Boden werfen“. So geschehen, heulend berichtet, brachte das Fass zum Überlaufen. Die Familie stellte einen Ausreiseantrag. Vieles zurücklassend, durfte er in Schimpf und Schande, vom Dienst entlassen, nach Monaten an die Küste zur mütterlichen Lotsenfamilie „emigrieren“.
Der andere Freund, Zahnarztsohn mit Spitznamen „Paulus“, hätte als „Bürgerliche Intelligenz“ des Doktor-Vaters natürlich auch keinen Studienplatz bekommen, das war vorprogrammiert. Studieren in der DDR war ein Privileg, das der Staat von Anfang an gezielt vergab: Soziale Herkunft, gesellschaftliches Engagement, Religionszugehörigkeit, Bekenntnis zum Sozialismus waren wichtiger als die intellektuelle Eignung zum Studium. Mit der Auswahl der Studenten sollte jeglicher „bürgerlicher“ Einfluss ausschaltet und akademische Eliten der sogenannten „Arbeiter- und Bauernklasse„ etabliert werden.
Paulus hat sicherheitshalber nicht mal sein Abiturzeugnis mitgenommen, war vorsichtshalber sofort „nach dem Westen abgehauen“, durfte dort studieren, nachdem das über die Grenze geschmuggelte Zeugnis angekommen. Sein Vater folgte ihm.
Als gestandener Ingenieur hat Paulus später einer Investitionsabteilung der DEUTSCHEN BAHN vorgestanden, die Leipziger Messe besucht, welche halbjährlich den Besuch im Osten vereinfachte, regelmäßig für Treffen mit einem weiteren Schulfreund genutzt.
Eine tiefe innige Liebe zwischen dessen Frau Manuela und dem Westfreund Paulus entstand, die Scheidung unumgänglich. Die beiden Verliebten trafen sich danach mehrfach in Berlin, Prag und Leipzig, zuletzt 1977 im schönen Ungarn.
Es war so ein wundervolles Erlebnis, dass die entflammte Manuela, jugendliche und unternehmungslustige mit 5-jährigem Sohn sich spontan entschied: „Ich will mit dir leben, ich hau mit meinem Torsten ab – jetzt, sofort - die Grenze ist so nahe, das wird schon klappen!“ Paulus zögert. Sie einigen sich, dass der Fluchhelfer nach Eisenstadt, zehn Kilometer jenseits der ungarischen Grenze in Österreich, auf beide wartet.
„Wir sind einfach losgegangen ohne irgendwas mitzunehmen, durch hohes Gras und Gestrüpp gestolpert, immer der Nachmittagssonne nach. Plötzlich tauchen vor mir fünf Drähte auf, im Abstand von cirka 30 cm zwischen Pfosten gespannt. Ich versuche die Drähte zum Durchkriechen auseinander zu biegen, da sehe ich aus den Augenwinkeln ein riesiges Monster hinter uns. Stehen da etwa verkleidete Grenzer? Nein, ein furchterregender Schädel mit glänzenden Glubschaugen, groß, wie Kaffeetassen, und meterbreitem Geweih glotzt mich an, weniger als einen Meter entfernt! Starr vor Angst, wie gelähmt hat mir der teuflische Kollos allen Mut verscheucht. Schützend werfe ich mich auf meinen Sohn, mit dem Gesicht zum Boden. Der gruslige Anblick des Ungeheuers, so groß wie ein Pferd, welches dort über uns thront, ohne sich zu bewegen, raubt mir jeglichen Verstand. Bei dem Schreck bin ich mit dem einen an den anderen Draht gestoßen. Hatte ich da einen Kontakt ausgelöst? Eine gefühlte Ewigkeit liegen wir dort, verängstigt, dass Bewacher der Grenze auf uns schießen, Dann kommt ein Jeep mit den Grenzsoldaten, nimmt uns mit. Da ist das Untier schon längst weg.“ Es ist kaum zu glauben, wie der Zufall die Flucht verhinderte. Und das ausgerechnet an einem 13. August, dem Jahrestag des Mauerbaus. Ohne die Schrecken des Elchs wären beide durch die Drähte gekrochen und rechtzeitig auf westlichem Boden angekommen.
In Budapest wurden die Flüchtlinge der DDR-Staatssicherheit übergeben. Von dort mit einer zufällig zurückfliegenden Regierungsmaschine ausgeflogen.
„Die Regierungsmaschine auf ihrem Rückflug war leer. Ich hockte allein mit den Stasi-Leuten im Samtsessel mit Handschellen gefesselt vor einem Clubtisch mit schachbrettartiger Intarsienverzierung, bekam nicht mal was zu trinken bis nach Berlin. Ich saß in der Stasi-Behörde, dann im Untersuchungsgefängnis von Leipzig ein.“
Paulus hatte sofort nach dem gescheiterten Fluchtversuch über den allseits bekannten DDR-Unterhändler für den Häftlingsfreikauf, Wolfgang Vogel, durch die Vermittlung des Ostbeauftragten der Bundesregierung Hans Otto Bräutigam die Auslieferung eingefädelt, viel Geld gelöhnt. Dadurch wurde der Ablauf der zwangsverordneten Wartezeit des „Auswanderungsverfahrens“ von anderthalb Jahren durch die Stasi gesteuert.
„Nach sechs Wochen haben die mich ohne einen Pfennig Geld entlassen. Einen Kioskbesitzer habe ich um das Straßenbahngeld angebettelt. Dann musste ich mich im Fleischkombinat vorstellen, ausgerechnet beim obersten SED-Parteisekretär - paradox, was? Als der mich fragt, was ich verbrochen habe, habe ich dem reinen Wein eingeschenkt: Ich bin in Ungarn aufgegriffener Westflüchtling! – Der ist fast aus dem Jackett gesprungen, mit wehendem Arbeitskittel zur Kaderleitung gestürmt, protestiert, dass ihm als oberste politische Autorität ein rebellierendes Weib ins Büro gesetzt wird. Wahrscheinlich war er meine Aufsicht, sollte mich bekehren? Wir waren beide arbeitsscheu, haben uns anderthalb Jahre arrangiert. Dann kam Halsüberkopf ein Anruf gegen 14 Uhr auf Arbeit, dass ich in einer Stunde am Bahnhof sein müsse. Mein Sohn wäre dann schon dort.“
Ausschlaggebend für die relativ problemlose Auslieferung soll gewesen sein, dass von ungarischer Seite an die DDR-Stasi keine Auskünfte zum Fluchtgeschehen mitgeteilt wurden.
Das spätere Ehepaar hat sich dann in Westberlin bei Hans Otto Bräutigam, dem Leiter der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR in Ost-Berlin, persönlich bedankt.
Kurz vor dem Mauerfall haben sich die Jugendfreunde der „Lange“, „Paulus“ und „Edub“ erstmals wieder getroffen. Vorher hatte Edub über seinen Bruder Albrecht sein väterliches Erbe, die goldene wertvolle Glashütte-Uhr, nach dem Westen geschmuggelt und für mehrere Tausender versteigen lassen. So konnte er sich mit dem für Ostbürger illegal beschafftem Westgeld bei seinem ersten Westbesuch anlässlich des 60. Geburtstags vom Bruder ordentlich bei Peek & Cloppenburg einkleiden, um seinen Freunden auf gleicher Augenhöhe gegenüber treten zu können.
Weitere zehn Jahre später trafen sich die Drei in der Heimat. Es kostete dem „enteigneten Kapitalistensohn“, dem Langen, Nachkommen der Gründerfamilie des Wirtschaftsaufschwungs zur Knopfstadt Schmölln, große Überwindung dorthin zurückzukehren. Die demütigenden Erinnerungen waren so stark, dass er beim Hickhack zwischen der mehr als zehnköpfigen Erbengemeinschaft und der Treuhand auf die wahrscheinlich verhältnismäßig kärgliche Wiedergutmachungszahlung sogar verzichten wollte.
Eindringlich musste Edub ihn überreden, das stillgelegte Fabrikgelände trotzdem zu besichtigten. Die Kindheitserinnerungen, das Streunen durch die Hallen, Tischtennisspielen, klettern über Dächer, alles erzeugte nur Wehmut angesichts der verwahrlosten Ruinen, des mannshohen Gestrüpps, der zugewachsenen Straßen und Wege.
Nach vielen Jahren des ruinösen Tiefschlafes wurde alles dem Erdboden gleichgemacht. Seit 2004 steht dort ein wunderschönes Seniorenheim mitten im Grünen, benachbart zum Flüsschen Sprotte und mitten in der Stadt. Ein Schmuckkästchen der nach der politischen Wende aufblühenden Stadt. Helmut Kohls „blühende Landschaften“ sind dort Wirklichkeit geworden.
„Der Lange“ ist tot, wollte, wie seine mütterliche Verwandtschaft, immer Lotse werden, erfüllt wurde nur sein letzter Wunsch - die Seebestattung.
7.Jungendliebe
Per Gesetz wird beschlossen, dass mindestens 60 Prozent aller öffentlich gespielten Schlager-Titel von Ostkomponisten stammen müssen.
Der