„Halten Sie den Mund, sonst kommen Sie auch noch mit!“
Auf die Straße geschubst, in einen PKW gedrückt, ab ging es mit Gerd Bauer.
Der Tag X war zu Ende.
Wie ein Lauffeuer verbreitet sich am folgenden Morgen, dass weitere Kollegen verhaftet wurden. Auch der Konditor Döring war dabei. Es wird gestreikt.
„Der Gerd ist doch so ein ruhiger Kerl! Außerdem, solchen Einfluss, uns angeblich aufzuhetzen, hat der nicht. Auf den hätten wir schon gar nicht gehört“, war der Tenor der Leute.
Bauer wurden Verbindungen zum Hetzsender RIAS angedichtet. Er wäre am Sonntag vor dem Tag X dort in Westberlin gewesen, hätte am Tag X von der Ladefläche eines Lasters an die Streikenden aufrührerische Reden gehalten. Der Konditor hätte dem Ratsmitglied Borchert nach dem Rededuell am Rathausportal geohrfeigt, angespuckt. Die Gerüchteküche hat Hochkonjunktur.
Vier Zeugen gab es dafür, dass Bauer am bewussten Sonntag auf dem Fußballplatz war. Alle Proteste der Kollegen halfen nichts. Logischster Grund für die Stasi-interne Auswahl, ausgerechnet diesen Unschuldigen als angeblichen Provokateur festzunehmen, könnte dessen Schwiegervater, Brunnenbaumeister Kutschenreuter, Edubs Onkel, gewesen sein. Der Kapitalist könne Schlimmes im Schilde führen. Vielleicht wollte man dem über die Festnahme des Schwiegersohnes was anhängen, später enteignen?
Lokale Partei- und Ratsführung, auch Vater und Sohn Horn, an exponierten Positionen arbeitend, waren machtlos, die Stasi agierte, der „Staat im Staate“.
Als die Ehefrau Didi nach acht Tagen Ungewissheit von der Inhaftierung ihres Mannes im Untersuchungsgefängnis Altenburg erfuhr, dort vorstellig wurde, war Bauer schon wieder unterwegs. Mit Viehwaggons transportierte man die Häftlinge, in Holzverschlägen getrennt, ein großer Behälter diente als Klo, an Händen und Füßen gefesselt. Für die wenigen Kilometer nach Leipzig, tagelang unterwegs, wurden die rollenden Gefängnisse in alle Richtungen kreuz und quer, auf Abstellgleise geschoben, bis der Sonderbau für die „Provokateure des Tages X“ eingerichtet war.
Dort hat man der Ehefrau die Anwesenheit Bauers verleugnet. Sie weigerte sich zu gehen, bekam ihn kurz zu Gesicht. Gefesselt, in Häftlingskleidung, verdreckt, an den nackten Füssen Holzpantinen, kam er vom Verhör. Auf dem Rücken ein großes X sollte den Provokateur brandmarken. Sein Gesicht blutig geschlagen, das Hemd zerrissen, am ganzen Körper gezeichnet, gebrochen, weint er im Vorbeiführen seiner Frau entgegen: „Didi, hilf mir!“
Ein Verzweiflungsschrei - schon wurde er fortgezogen.
Jeden Abend gab es Verhöre, Schläge, um fingierte Geständnisse zu erpressen. Fünf Verhandlungen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Kollegen aus der Schuhfabrik wollten für ihn aussagen, kamen kaum zu Wort, wurden später ausgeschlossen.
Die Verhandlung - eine Farce!
Die Anklage der staatsfeindlichen Hetze mit der Verbindung zum RIAS, musste nach den Aussagen der vier Zeugen, welche mit Gerd Bauer zum Fußball auf dem Sportplatz waren, fallen gelassen werden.
Die Ankläger hatten auch den alten Siebelt, selbst Funktionsträger in Bauers Fabrik, als Zeugen verpflichtet. Hatte man diesen zur Aussage zwingen, überreden wollen?
Didi, als Ehefrau zur Verhandlung zugelassen, sitzt abwesend, starr vor Angst im Gerichtsaal, als Siebelt seine Aussage macht. „Horst ist aufgesprungen, hat Siebelt mit starrem, festem Blick angesehen, tief in die Augen, und gerufen: Alles was Sie sagen ist Lüge!”
Die Staatsanwältin, es war die berüchtigte stalinistisch agierende Vizepräsidentin des Obersten Gerichtes der DDR, Hilde Benjamin, putzt sich gelangweilt die Fingernägel: „Dann beantrage ich die Vereidigung des Zeugen!“
Da bricht Siebelt erschrocken zusammen, rutscht in die Bank, wird rausgeführt. Auf die Vereidigung wird, um die Aussage nicht zu gefährden, verzichtet.
Die Abschlussverhandlung dauerte nur wenigen Minuten, während dessen man die Ehefrau im Gebäude hin und her schickt, ihr die zeitgleiche Verurteilung verleugnet, diese als verschoben vorgibt.
Gerd Bauer bekam anderthalb Jahre Gefängnis wegen staatsfeindlicher Hetze als Provokateur, welcher den Aufstand vom 17.Juni mit angezettelt, die Aberkennung aller Bürgerrechte für vier Jahre, die Zahlung der gesamten Gerichtskosten auferlegt. Das Urteil gründete sich nur noch auf der Aussage eines gewissen „Danneberg“, den keiner kannte, der an keiner Verhandlung teilgenommen.
War der Name erfunden oder Deckname eines IMs, eines von der Stasi angeworbenen Spitzels, zur Falschaussage überredet?
Der Verurteilte kam als kranker Mann aus der eineinhalbjährigen Haft. Seine Didi war zwischenzeitlich nach Chemnitz gezogen. Zum Schweigen verpflichtet, sprach er nie über die Kerkerbedingungen, musste durch die vielen Schläge auf den Kopf danach mit ständigen Kopfschmerzen leben. Deren Ursachen wurden erst nach Jahren gefunden. Ein Gehirntumor hatte sich aus einem Blutgerinnsel, Produkt der Misshandlungen, gebildet. Die Operation erfolglos, Invalidität, vor Schmerzen Unmengen von Tabletten einnehmend, halbseitig gelähmt, starb der junge Mann neun Jahre nach der Haftentlassung, hinterließ Frau und Kind.
Seine Rehabilitierung erfolgte durch Gerichtsbeschluss, wieder in Leipzig, im Dezember 1992. Eine nur minimale finanzielle Wiedergutmachung an die Witwe gab es im Jahr 2002 - der Tod wäre ja zu DDR-Zeiten eingetreten!
Zeuner, der angebliche Kampflied-Anstimmer auf dem Rathausportal, war mit einem blauen Auge davon gekommen, löste später sogar Vater Horn als Gewerkschaftsführer ab. Ursache waren Querelen wegen dessen Gewerkschaftskasse, die verschwunden, geleert am Weihwehr gefunden wurde, dem Liebestreffpunkt von Edubs Rivalen Lederburkardt.
Der alte Horn, verdächtigt, seine eigene Kasse gestohlen zu haben
- ein Unding!
Borchert, parteitreuer Redner vom Rathausportal, hatte sich von der Stasi nicht ausnutzen lassen, die angeblich erhaltene Backpfeife des Konditors dementiert.
Dieser wurde am frühen Morgen nach dem Tag X abgeholt, saß zwei Wochen in Altenburg. Man hat sich sogar bei Konditor Döring entschuldigt, finanzielle Wiedergutmachung angeboten, was er ablehnte.
Sieben Jahre später flüchtet der samt Familie „´gen Westen“, nachdem er telefonisch von einem anonymen Anrufer mehrfach vor angeblicher Verhaftung gewarnt wurde. Ob provoziert, um ihn los zu werden oder ehrlich gemeint, weiß man heute noch nicht - hat seine Konditorei mit schönem Lokal geopfert.
Mein Freund Donath, verliebt in Konditors Tochter, verlor die Freundin.
Sohn Horn, anständiger überzeugter Weltverbesserer, bekleidete später höchste Posten. Der spätere Chef der ABI, Arbeiter- und Bauern-Inspektion, der SDAG WISMUT (sowjetisch-deutsche Aktiengesellschaft für Uran-Abbau), der ehrenhaften Institution zur Bekämpfung von Korruption, Miss- und Vetternwirtschaft, gewissenhaft auf eine redliche Parteilinie achtend, war trotzdem vor Kompromissen nicht gefeit.
Mit der streng gottgläubigen Ruth, welche am Tag X auch neugierig über den Markt geschlendert, verheiratet, meistert Sohn Horn aus Liebe auch diese weltanschaulichen Gegensätze - heiratete kirchlich, auswärts in einer Dorfkirche. Viele SED-Jahre zahlte dessen Schwiegervater für beide Eheleute heimlich Kirchensteuer, bar gegen handschriftliche Quittung - vor Ort. Keiner wusste dies - wahrscheinlich der Begünstigte damals auch nicht.
Und noch ein Zeuge des Marktgeschehens an diesem unheilvollen Tag X soll erwähnt werden.
Schräg gegenüber dem revolutionären Rathausportal, vor dem Schaufenster von Vogel-Emils Papiergeschäft, gegenüber dem Haus mit Turm, in welchem der Zeuge Edub das Revolutionsgeschehen beobachtete, lag nach den Tumulten eine zertretene Violine. Ein 11-jähriges Mädchen, Enkelin des alten Horn, vom Unterricht kommend, hatte diese dort abgestellt, um neugierig besser den Marschierenden folgen zu können. Sie wusste nicht, dass ihr Onkel Heinz Horn auf dem Rathausportal Frieden stiften wollte, dass ihre große Schwester im Blauhemd auf der gegenüberliegenden Marktseite am geschlossenen Fenster der FDJ-Kreisleitung, über der Gaststätte „Schwarzer Bär“, mit Gewehr