„Was für ein Kuriosum“, stellte der Bürgermeister überrascht fest. „Ich sagte doch – ein Weib und alles regelt sich wie von selbst. Weiber haben schon die Politik verändert, meine Herren. Vielleicht hatte er eine Mutter und erinnert sich an sie.“
„Oder er will sie noch mal beißen, Euer Wohlgeboren!“, grinste Müller und fügte hinzu: „Wir sollten die Gelegenheit nutzen und der Kreatur den Zuber überstülpen, bevor das Wasser ganz kalt wird.“
Grete war ebenso fasziniert wie die Männer von dem veränderten Gebaren des tierischen Knaben. Gleichzeitig ließ sie aus Mitleid alle Vorsicht außer Acht und nutzte die kurze Verwirrung, um vor ihm in die Hocke zu gehen. Als sie auf Augenhöhe mit dem Wilden war, lächelte sie ihm zuversichtlich zu.
Wie ein kleines, mageres Fellbündel hockte er vor ihr auf dem Steinfußboden und verfolgte jede ihrer Bewegungen. In dem Blick seiner braunen Augen stand keine Panik. Eher war es Neugierde und so etwas wie blindes Vertrauen, das sie seltsam berührte. Der Kommissar flüsterte ihr zu: „Der Wilde hat keinerlei Erfahrung mit Menschen. Es sieht wahrscheinlich zum ersten Mal eine Frau. Sie beeindrucken ihn, Jungfer.“ Seine Worte schmeichelten ihr. Gleichzeitig spürte sie, dass der Knabe in seiner Hilflosigkeit nach etwas suchte, woran er sich orientieren konnte, dass er am Ende seiner Kräfte war und Hilfe bei ihr suchte.
Wie gern hätte sie die Hände nach ihm ausgestreckt und ihn von diesem traurigen Ort weggeführt. Doch ein schmerzlicher Stich in der Bisswunde erinnerte sie daran, es nicht zu tun. Stattdessen hegte sie die Hoffnung, dass er sie verstehen möge, obwohl sie einsah, dass ein Bad für ihn wichtiger war, ebenso ein Bett und etwas zu essen. Leise redete sie zu ihm: „Gib deinen Widerstand auf, Peter. Dir wird nichts geschehen, solange ich bei dir bin. Ich verspreche dir, dich zu beschützen.“
Die Männer waren inzwischen nicht untätig gewesen und hatten die Ablenkung genutzt, um rasch einen Holzbottich über seinen Kopf zu stülpen. Die Antwort war Geschrei und Gepolter, und Grete wurde unsanft zur Seite gestoßen. Die strampelnde Kreatur wurde an Armen und Beinen unter dem Bottich hervor gezerrt und kopfüber in die mit Wasser gefüllte Wanne getaucht. Der Knabe gurgelte und spuckte. Doch all seine Abwehr half ihm nun nichts mehr. Mit vereinten Kräften wurde er solange unter Wasser gehalten, bis er aufgab und unter den kräftigen Händen ganz ruhig in dem Zuber zum Sitzen kam.
„Habe ich gerade ‚Peter‘ gehört? Hat das Kind einen Namen oder hat Sie ihm diesen gerade gegeben, Jungfer?“, vernahm Grete wie versteinert den Bürgermeister in ihrem Rücken.
„Ja, Euer Ehren. Ich habe ihm den Namen gegeben. Mein kleiner Hund fiel mir ein, der Pepe hieß“, antwortete sie, noch verwirrt über die brutalen Maßnahmen.
„Hat Sie ihn noch, Jungfer?“
„Nein, Euer Ehren. Er ist an Altersschwäche gestorben“, log sie und schlug demütig die Augen nieder, als sie den warnenden Blick des Vaters bemerkte.
„Dann hat Sie ihn jetzt wieder, Ihren Pepe. Peter ist ein guter Name. Sie hat großen Einfluss auf ihn. Möge Sie mithelfen, dass aus ‚Peter‘ ein menschliches Wesen werde und später einmal ein wohlerzogener junger Mann. Ich stelle ihm eine Leibrente zur Verfügung, die zunächst alle seine Kosten decken wird. Dafür wird er hier im Spital gut versorgt“, entschied er mit einem wohlwollenden Blick auf Grete und einem entsprechenden in Müllers Richtung, während er noch ganz außer Atem seine Perücke zurechtrückte.
Inzwischen war Müllers Eheweib herbeigerufen worden. In der Tür des Waschhauses erschien ein schwarzhaariges, hochgewachsenes Weib mit früh gealterten Zügen. Ihre Röcke waren geflickt und ihr Mieder nachlässig geknöpft. Sie brachte eine Bürste aus Schweinsborsten mit und ein großes Stück Seife, das man zum Waschen der Wäsche verwendete. Mit einer Verbeugung sank sie vor den Herren nieder wie eine Königin in ihren Lumpen.
„Mach schon, Weib, schrubb das Balg endlich von oben bis unten ab!“, herrschte Müller sie an, als er sah, dass sie sich vor dem wilden Tier im Zuber fürchtete. Der folgende drohende Blick genügte, um sie an ihre Pflicht zu erinnern. Mit saurer Miene und zwischendurch immer wieder zurückschreckend, packte sie den Knaben und schrubbte ihn, bis dem Kommissar überrascht entschlüpfte: „Seine Haut ist ja weiß wie die eines Fürstensöhnchens …“
Der Junge verhielt sich während des Schrubbens seltsam ruhig. Mit wachen Augen verfolgte er den Weg der Bürste und es schien offenbar, dass er die Behandlung genoss. Nur einmal begehrte er auf, als der herbeigerufene Barbier ihm das lange, verfilzte Haar entfernte. Er ging dabei nicht zimperlich vor und entfernte zusätzlich mit einem Messer die wolfsähnlichen Haare, die ihm an manchen Körperstellen wie Borsten aus der Haut wuchsen. Bei jedem Haar, das man ihm entfernte, zuckte und strampelte der Knabe. Letztendlich half ihm alles nichts und die Anwesenden staunten nicht schlecht, welche Verwandlung Wasser, Seife und Schere bei ihm bewirkten.
Befreit von Haaren und Schmutz, barfuß auf dem kalten Steinfußboden, wurde er wie ein frisch geschuppter Fisch von sechs Augenpaaren eingehend begutachtet. Er war von kleiner Statur, aber nicht verwachsen. Mit einem kräftigen Brustkorb, einer schmale Taille, dunklen Locken und einem schön geschwungenen Mund gab er den Männern erneut Rätsel auf. Nach der ersten Verblüffung rief Grete überrascht: „Warum hat er überall Narben auf der Haut?“
„Es stimmt!“, bestätigte der Kommissar und griff nach der Kerze auf dem Tisch. „Die schöne weiße Haut ist voller Narben. Eine geht sogar vom Mund bis zum Hals. Es sieht aus, als stamme sie von einem Messer.“ Er reichte das Licht dem Stadtschulzen, der dem Jungen am nächsten stand. Interessiert zog der sich einen Stuhl heran und begann die weiße Knabenhaut genauer abzuleuchten. Sofort kam wieder Bewegung in den Jungen. Äußerlich ein ansehnlicher Knabe, innerlich aber immer noch ein Wilder, antwortete er in Wolfsmanier und bleckte die Zähne abwehrend gegen den Schulzen. Diesmal schlug Müller rechtzeitig zu und traf den Jungen an der Schulter. Der Schlag bewirkte Wunder. Offenbar schien er mit dieser Art der Züchtigung schon Erfahrung gemacht zu haben. Denn wie vom Blitz getroffen, sackte der Wilde in die Knie und berührte wie schon zuvor auf dem Markt, den Steinfußboden mehrmals kurz hintereinander mit den Lippen.
„Welch seltsames Gebaren“, murmelte der Bürgermeister kopfschüttelnd, suchte nach seinem Vergrößerungsglas im Rock und begann, als er es gefunden hatte, die tiefen Narben auf dem gebeugten Rücken eingehend zu inspizieren.
„Na, zumindest scheinen Schläge das Einzige zu sein, was bei ihm wirkt“, bemerkte Müller triumphierend.
„Ich glaube, er will etwas sagen“, bemerkte der Schulze und ging zum besseren Verständnis neben dem Knaben in die Hocke.
„Ja, es hört sich an wie ‚Ala, Ala‘. Diese seltsamen Laute hat schon Braumeister Meyer beschrieben. Entweder ist es eine fremde Sprache oder es sind tierische Laute. Beides ergibt aber keinen Sinn“, antwortete Burchardy vom Tisch aus, wo er sich Notizen in ein kleines Buch mit goldenem Einband machte. „Aber ich werde es herausfinden, ich schwöre es, meine Herren. Was sagt Ihr zu den Wunden, Euer Ehren?“
„Ich bin zu wenig erfahren im Narbenlesen. Sie können sowohl älteren als auch neueren Ursprungs sein. Da Ihr, Herr Burchardy, ein Mann der Verbrechensaufklärung seid, habt Ihr sicher bald eine Erklärung dafür. Zunächst sollte der Barbier einen Blick darauf werfen. Vor allem sollte er sich die Zähne und die Zunge ansehen. Vielleicht ist ja etwas in seiner Mundhöhle, das ihn am Sprechen hindert?“
Der Barbier war sofort zur Stelle, als der Bürgermeister ihn herbeiwinkte. Er öffnete dem Knaben den Mund. Müller und sein Knecht leisteten ihm dabei Hilfe. Diesmal genügte dem Knaben allein der Anblick der Peitsche, um sich mit dem Gehorsam eines geprügelten Hundes seinem Schicksal zu ergeben.
„Die meisten Narben sind sehr tief. Sie könnten von mächtigen Krallen stammen. Vom Mund bis zum Hals hat er eine schlecht vernarbte Biss- oder Schnittwunde. Sie muss ihm ordentlich zu schaffen gemacht haben. Wahrscheinlich war sie lange entzündet. Möglich, dass sie von einem Wolfsbiss stammt“, stellte der Barbier fachkundig, nach eingehender Inspizierung, fest.
„Nun gut. Könnt Ihr eine medizinische Ursache finden, warum der