Grete nahm auf dem Bock die Haltung ein, die sie schon als Kind angenommen hatte. Sie schlang die Arme um die angezogenen Knie und presste diese fest zusammen. Den Blick hielt sie auf den Boden gerichtet und hob ihn nur, wenn der Vater etwas von ihr wollte. Sie sprach kein Wort, denn das war ihr nicht erlaubt, auch nicht, als die Bäckersfrau mit hochrotem Gesicht heranwirbelte, dem Esel in die Zügel griff und zu Müller hinaufrief: „Ihr braucht gar nicht so scheinheilig zu tun, Gevatter. Wenn ihr zum Tor hinaus seid, dann zeigt Ihr wieder Euer wahres Gesicht. Wehe ich erfahre, dass Ihr sie wieder geschlagen habt, dann werde ich dafür sorgen, dass man Euch die Bierspende streicht und Ihr keinen Fuß mehr in die Stadt setzt!“
„Geh mir aus dem Weg, alte Vettel!“, brüllte Müller vom Wagen. „Ich habe Wichtigeres zu tun, als mir dein Geschwätz anzuhören! Außerdem werde ich vom Bürgermeister erwartet.“
„Der Bürgermeister hat Euch längst durchschaut. Aber jetzt bekommt Ihr ja ein neues Prügelopfer. Ich hoffe, dass es Euch die Kehle durchbeißt!“, rief sie ihm wütend hinterher. Doch Müller störte sich nicht daran. Er trieb den Esel an und malte sich in Gedanken eine goldene Zukunft aus. Denn sobald er an das wilde Kind und die Grete dachte, klingelten Münzen in seinen Ohren und türmten sich zu Bergen vor seinen Augen. Die Tochter neben sich hatte er über der Träumerei vergessen. Nur einmal erinnerte er sich an sie, als er ihr vor einer steilen Anhöhe befahl, vom Bock zu klettern und den Esel am Halfter hinaufzuführen.
Als sie im Armenhaus ankamen, warteten die zwei herrschaftlichen Kutschen bereits vor dem Eingang zum Haupthaus und Meyer trieb gerade seine Ochsen an ihnen vorbei. Er rief ihnen zu: „Ihr werdet schon ungeduldig erwartet, Gevatter! Sie sind alle im Waschhaus versammelt!“
Müller beeilte sich, den Esel auszuschirren.
Die Worte des Brauers waren nicht notwendig gewesen. Ohrenbetäubendes Geschrei wies ihnen den Weg zum Waschhaus, welches im Untergeschoss lag. Grete quetschte sich hinter dem Vater durch die Tür, der sie über ihren Kopf hinweg achtlos hinter sich zuknallte und sich hastig für sein Zuspätkommen bei den Herrschaften entschuldigte. Nicht ohne dabei die Schuld auf den lahmen Esel und die Tochter abzuwälzen.
„Lasse Er das Gestammel und helfe Er uns endlich“, wurde er vom Bürgermeister unterbrochen, einem greisen, würdigen Mann mit wallender, brauner Allongeperücke, der auf einen mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Stock gestützt neben dem Waschzuber stand und seine Anweisungen gab, während ein Knecht den Holzzuber mit heißem Wasser befüllte. Er hatte dabei große Mühe das heiße Wasser mit einem Eimer aus dem Wasserkessel über dem Feuer zu schöpften, denn das wilde Kind machte es den Anwesenden nicht leicht. Anstatt sich säubern zu lassen, wie man es vorhatte, versuchte es dem zu entkommen und war dabei flink wie ein Wiesel.
Grete drückte sich neben der Tür hinter einen Schrank und beobachtete das Geschehen mit gemischten Gefühlen. Zum einen empfand sie erneutes Mitleid mit dem seltsamen Geschöpf, zum anderen war sie neugierig zu erfahren, was sich wohl unter der ledernen Haut verbarg, wenn sie erst mit dem Wasser in Berührung gekommen war. Doch der Knabe, den nun vier kräftige Männer einzufangen suchten — der Schulze, der Aufseher, ein Knecht und ein von Kopf bis Fuß in schwarz gekleideter Fremder — gebärdete sich schlimmer als ein Raubtier. Er sprang die Wände hinauf und flitzte an ihnen entlang wie eine in die Enge getriebene Katze. Man hätte die Töne, die er ausstieß, auch mit einem Fauchen vergleichen können. Jedenfalls sprangen seine Häscher abwechselnd vor ihm zurück und fluchten derb, wenn einer von ihnen in den Finger gebissen wurde oder das Gesicht zerkratzt bekam.
„Er benimmt sich wie ein junger Wolf“, stellte irgendwann der Schulze außer Atem fest und wischte sich mit einem Spitzentuch über die schweißnasse Stirn. Er atmete schwer, die Leibesfülle machte ihm zu schaffen und so sah er hilflos zu dem Bürgermeister, der Müller heranwinkte und ihm befahl: „Hole Er die Peitsche, das kann Er doch am besten. Gerbe Er ihm beim nächsten Fluchtversuch ordentlich das Fell.“
Grete sah den triumphierenden Zug im kantigen Gesicht des Vaters, sah das Leuchten in seinen Augen, während er vor dem Bürgermeister kuschte und ihm beipflichtete: „Ja, Euer Wohlgeboren, schon der Volksmund sagt, gehe nie ohne Zucker und Peitsche zu deinem Weib oder deinem Pferd.“
„Wo hat Er denn das wieder her?“, murrte der Bürgermeister, den die Angelegenheit schon viel zu lange in Anspruch nahm. „Sicher vom Spieltisch. Die Kreatur ist weder ein Weib noch ein Pferd. Sie benimmt sich eher wie ein wildgewordener Affe. Sie hat ganz sicher unter Wölfen gelebt. Ich habe mal gelesen, dass diese Rudel schon ausgesetzte Kinder aufgezogen haben sollen! Was mein Ihr dazu, Meinke Rechtern?“
„Er muss erst in den Waschzuber, dann werden wir sehen, um was für ein Wesen es sich handelt“, keuchte der angesprochene Stadtschulze und gab Müller, der die Lederpeitsche einsatzbereit in Händen hielt, das Zeichen sie anzuwenden.
Müller schlug zu, als der Knabe wieder unter ihren Händen davonflitzte, und traf die Wand. Als er erneut zum Schlag ausholte, kam von dem Schwarzgekleideten ein schwacher Einwand. „Meine Herren, ich weiß nicht, ob das klug ist. Die Kreatur weiß doch gar nicht, was mit ihr geschieht. Sie hat vielleicht noch nie Wände von innen gesehen, geschweige denn Menschen, noch dazu welche mit solchen Werkzeugen in den Händen.“
Der Mann im schwarzen Rock stand vornübergebeugt vor dem Knaben, der in einer Ecke unter sich machte und Müllers Hand mit weit aufgerissenen Augen fixierte. „Er ängstigt das Kind doch nur. Gibt es denn nichts anderes, mit dem wir ihn fangen können? Vielleicht ruft Er Sein Weib herbei, Müller. Frauen bewirken manchmal Wunder.“
Er sprach Grete aus dem Herzen. Um in das Gesicht des Mannes zu sehen, der offenbar als Einziger Mitleid für das Kind empfand, trat sie einen Schritt aus ihrem Versteck hervor. Der Mann bemerkte es und drehte sich nach ihr um. „Da ist ja ein Weib …“, stellte er erstaunt fest. „Und was für eine Schönheit sie ist.“
„Sie ist noch ein Kind und meine Tochter“, knurrte Müller ärgerlich über ihr Auftauchen und herrschte Grete augenblicklich an. „Was hältst du hier Maulaffen feil? Gibt es keine Arbeit im Haus?“
Grete nahm sofort eine Demutshaltung ein und wollte sich gehorsam zurückziehen, als der Mann nach ihrer Hand fasste und sie an seine Lippen zog. „Wie kann man die Jungfer nur so zurechtweisen. Ich denke, sie ist Seine Tochter. Er sollte dem Herrgott für diese schöne Gabe danken“, sagte er, während seine Augen Grete anlächelten. Es waren diese himmelblauen Augen, umgeben von tausend kleinen Lachfältchen, unter einem Kranz fein geschwungener Brauen, die ihn sympathisch machten. Eine leicht gebogene Nase und schmale Lippen über einem energischen Kinn gaben dem Männergesicht mit der vornehmen Blässe zudem eine gewisse Verwegenheit.
„Herr Burchardy, können wir nicht weitermachen?“, tönte es ungeduldig aus dem Hintergrund. „Euch, in Eurer Eigenschaft als kurfürstlicher Kommissar, sollte es ein Bedürfnis sein, die Sache schnell zu Ende zu bringen. Die Jungfer ist uns keine Hilfe und kann gehen. Sie wurde schon auf dem Markt von der Kreatur gebissen.“
Grete versuchte rasch die verletzte Hand auf dem Rücken zu verstecken und blieb an den Augen des Kommissars hängen. Sie hoffte auf seine Fürsprache. Mit ihrem kindlichen Herzen im Körper einer jungen Frau hatte sie sofort Vertrauen zu dem Mann gefasst. Der Kommissar dachte auch nicht daran, Grete hinauszuschicken. Stattdessen rief er überrascht: „Seht nur, meine Herren, die Kreatur! Welch seltsame Wandlung!“
Während sich auf den Gesichtern Überraschung breitmachte, führte er Grete ein Stück auf den Knaben zu, der sich vor ihnen wie eine schwarze Spinne mit angezogenen Beinen, in eine Ecke hinter dem Schornstein zurückgezogen hatte. Als er das