Grete sah den Vater fragend an, als er das Pferd vor dem Eingang zügelte und vom Bock kletterte.
„Komm schon!“, befahl er ihr und reichte ihr die Hand, als er sah, dass sie zögerte. „Keine Bange, hier gibt es kein Bier. Das hier ist ein Kaffeehaus. Es gehört dem Hugenotten Jacques Recolin. Vielleicht hat er etwas von dem Wilden gehört“, erklärte er.
„Aber das Haus ist dunkel. Hier ist niemand.“ Ungläubig sah sie ihn an und blieb abwartend neben dem Fuhrwerk stehen.
Müller grinste geheimnisvoll. Dabei verschwand die Härte aus seinem Gesicht. Er wirkte fast wieder so unbeschwert wie früher, als er sie noch auf den Armen umhergetragen hatte. „Jedes Haus hat auch einen Hintereingang.“
Er griff nach ihrer Hand und zog sie an zwei steinernen Löwen vorbei zur Hinterseite des Gebäudes. Hier war es so dunkel, dass sie ihn neben sich nur als Schatten wahrnahm, als er leise erklärte: „Der Wirt vom Kaffeehaus hat versucht mit Cabaret, Karten- und Billardspielen reich zu werden. Doch das Billardspiel fand zu viele Freunde unter den Herren Offizieren und Kolonisten. Deshalb beschlagnahmte der Magistrat den Billardtisch und schloss das Kaffeehaus wegen Verschwendung und Völlerei. Bis dahin war das Haus voller Leben und in der Franzosenstraße der Stern von Paris gewesen. Der Magistrat musste also mit der Empörung der Offiziere rechnen. Das zwang ihn, einzulenken. Alsbald wurde es wieder geöffnet, allerdings nur bis zehn Uhr abends und auch das nur für die Bürger, die hier Kaffee trinken und ihre Zeitung lesen.“
„Und woher kennt Ihr das Kaffeehaus, Vater?“
„Dumme Frage …“, erwiderte er. „Dein Bruder geht doch bei dem französischen Leineweber in der Fabrik gegenüber in die Lehre.“ Grete erinnerte sich, dass der jüngere Bruder sich gern vor ihr brüstete, in was für einer großen Manufaktur er arbeitete und dass sich der gesamte hannoversche Hof, einschließlich des Kurfürsten, in seines Meisters Stoffe kleidete.
Die Uhr hoch oben im Turm der Franzosenkirche schlug vier Uhr. Für viele Hamelner Bürger begann jetzt bereits ein neuer Arbeitstag mit neuen Sorgen und Entbehrungen, während Grete die Morgenkälte durch die müden Glieder kroch. Sie zog unbewusst den Schal fester um die Schultern. Der Vater klopfte zweimal kurz an die Tür. Offenbar ein verabredetes Zeichen. Gleich darauf drangen leise gesprochene französische Wortfetzen an ihr Ohr und hinter einem der Fenster flackerte ein Licht. Hinter der Tür erklangen Schritte.
„Qui est là?“, erklang es leise durch den Türspalt.
„Lass den Quatsch. Ich bin es, August Müller“, zischte der Vater leise. „Nun öffne schon, Alexandre!“
Ein kleines Männlein in einer Schürze vor der hautengen Culotte aus braunem Samt schob seinen dürren Körper durch den Spalt. Vorsichtig mit erhobener Nase, wie ein witternder Hund, durchforschte er die Dunkelheit und sah sich nach beiden Seiten ängstlich um. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass die Luft rein war, zog er Müller hastig in den Flur.
„Du hast ein Weib mitgebracht“, knurrte er und warf einen scheelen Blick auf Grete.
„Das ist meine Älteste. Ich musste sie mitnehmen. Es geht um mein Leben“, antwortete Müller, während sie dem Zwerg über eine versteckte Treppe in die unteren Kellerräume folgten.
Sie durchquerten ein schwach beleuchtetes Gewölbe und blieben endlich vor einer Doppeltür stehen. Durch den Spalt am Boden schimmerte Licht. Leise Musik war zu hören. „Seltsam, dass es immer um dein Leben geht, wenn du mal bei mir vorbeischaust“, bemerkte der Zwerg ironisch und öffnete die Tür. „Na dann, mon ami, stärke dich erst mal. Ich hoffe, du kannst heute Nacht bezahlen“, krächzte er und forderte ihn mit einer einladenden Geste auf einzutreten.
Das Erste, was Grete sah, waren die bunten Uniformen der Offiziere in einem lang gestreckten Saal. In leicht gebeugter Haltung umstanden sie einen mit einem grünen Tuch bespannten Tisch und bewegten farbige Kugeln mittels eines langen Stockes. Aus den dunklen Nischen der zwei Seitenflügel erklang Frauenlachen. Wohlhabende Kolonisten und Kommandanten der Festungsmauer schlürften dampfenden Kaffee aus winzigen Porzellantassen. Einige prosteten sich mit Wein aus Kristallkaraffen zu. Sie rauchten fremdländischen Tabak in zierlichen Pfeifen und spielten mit ihren Damen an kleinen Tischen aus geschwungenen Zargenrahmen Karten. Barocke Fresken über dem Schanktisch zeigten einen stattlichen Osmanen neben Amor in Kindergestalt. Sie überreichten sich eine Schale Kaffee. Ein bildhaftes Symbol dafür, dass der Kaffee ein Kulturgeschenk des Morgen- an das Abendland sein sollte. Die riesigen, goldenen Kronleuchter in dem Saal brannten auf Sparflamme und warfen ihr trübes Licht von den goldfarbigen Tapeten zurück.
Grete glaubte sich in einem Palast zu befinden, obwohl es doch nur ein Kaffeehaus war, und blieb wie gelähmt an der Tür stehen. Beim Anblick solcher Herrlichkeit verstand sie, warum der Vater sich betrank und in ihrer bescheidenen Behausung mit einem zänkischen Weib und sieben Kindern nicht leben wollte. Etwas beklommen zupfte sie den Vater am Rockschoß. „Niemand wird uns hier bei unserer Suche helfen. Wir gehören nicht an diesen Ort.“
„Dumme Trine“, zischte Müller leise über die Schulter. „Lass mich nur machen und halte den Mund.“ Ohne sie weiter zu beachten, griff er nach dem Krug, den ihm der Wirt über den Tisch aus Marmor schob. Doch der hielt ihn einen Augenblick fest und sah Müller ernst an. Dann wies er mit einer Kopfbewegung auf Grete. „Ich kann dir doch vertrauen, dass sie nichts weitererzählt? Sie ist immerhin ein Weib und die sind bekanntlich schwatzhaft.“
„Keine Bange. Reich mir lieber gleich noch ein Maß von dem köstlichen Getränk rüber. Auf einem Bein kann man bekanntlich schlecht stehen. Sie wird nichts sagen, dafür werde ich schon sorgen“, beruhigte ihn Müller und wies auf die Peitsche in seinem Gürtel. „Das hier hat schon Wunder bewirkt.“ Er setzte den Krug an die Lippen, trank ihn in einem Zug leer und wischte sich mit dem Handrücken genüsslich über den Mund. „Ein feiner Tropfen ist das, Alexandre. Besser als das Gesöff, das du am Tag in den Vorderstuben ausschenkst. Kann schon verstehen, dass du Furcht vor dem Magistrat hast. Aber weshalb ich gekommen bin … Es geht um den Wilden. Hast du etwas davon gehört?“
„Natürlich. Die ganze Stadt spricht davon, dass der Wolf, den der Bürger Meyer gefunden haben soll, zu dir ins Spital gebracht wurde“, antwortete der Wirt und schob, geschmeichelt durch Müllers Lob, den dritten Humpen über den Tisch. Grete sah es mit Besorgnis.
„Es ist kein Wolf, Alexandre, sondern ein verwildertes Kind, und es ist mir entlaufen. Ich dachte, ich erfahre etwas von dir, wo ich nach ihm suchen könnte.“
„Hier, in meinem Kaffeehaus …?“ Der Franzose sah Müller ungläubig an und überlegte einen Moment. Dabei streichelte er nachdenklich seinen bemerkenswerten Spitzbart, bevor er misstrauisch feststellte: „Ist es nicht vielleicht die Angst vor dem Magistrat, dem du das Geld zurückzahlen musst, wenn der Wilde weg ist? Gib es zu, du bist nur gekommen, um es in meinem Spielsalon zu versaufen.“
Müller nickte zustimmend und grinste über das ganze Gesicht. Er begann bereits zu lallen. „Was ich nicht mehr habe, kann ich nicht zurückgeben. Aber vielleicht weiß ja doch von einer von deinen Offizieren etwas über das Kind.“
Der Wirt zögerte und sah Müller merkwürdig an. So richtig schien er dem Freund nicht zu trauen. Doch dann gab er sich einen Ruck und rief laut in den Saal: „Meine Herren, das wölfische Kind ist in Hamelns Straßen auf der Flucht. Ist ihm vielleicht jemand auf dem Weg hierher begegnet?“
Langeweile und Überdruss standen auf den übernächtigten Gesichtern, als sie kurz von ihrer Beschäftigung aufblickten. Das Ergebnis war ein allgemeines Schulterzucken neben leisem, unverständlichem Murren und einem mitleidigen Lächeln. Ebenso rasch war ihr Interesse verflogen und sie vertieften sich wieder in ihr Spiel. Nur einer erwiderte grinsend: „Den Wilden haben sie sicher längst erschlagen.“
„Vater