Mit einem aufmunternden Blick auf das Mädchen schob sie ihre Rundungen am Verkaufsstand des Knochenhauers vorbei, der seine Wurst und sein Fleisch hinter einem Scharren feilbot. Sie kannte die Grete, wie viele hier auf dem Markt, als ein fleißiges und aufgewecktes Kind. Sie wusste auch, dass sie unter den Wutausbrüchen ihres Vaters August Müller, dem Aufseher des Armenhauses, litt. Dennoch schürte sie mit ihrem losen Mundwerk das Gerücht, dass die fünfzehnjährige Grete gar nicht seine Tochter sei, sondern dass er sein Weib Marie einst mit dem Kuckuckskind geheiratet habe und er seine Älteste deshalb so schlecht behandelte. Denn dass sie für ihre kranke Mutter den kinderreichen Haushalt führte und von ihrem meist betrunkenen Vater mehr Schläge als Liebe erfuhr, pfiffen schon die Spatzen von den Dächern. „Das arme Mädchen wird für die verdorbene Hose bestimmt wieder Schläge bekommen“, begrüßte sie den Knochenhauer und wies auf die kauende Grete, deren Blick nun vom Getümmel auf dem Marktplatz angezogen wurde.
„Ja, seitdem der August sich die teuren, englischen Stoffe nicht mehr leisten kann, achtet er umso mehr darauf, dass ihm das niemand ansieht. Nun auch noch die einzige gute Hose verdreckt – die Grete wird’s ausbaden müssen“, antwortete ihr der Knochenhauer knurrend. „Es ist schon ein Graus mit dem August. Ein Weib und sieben Kinder und er schafft ständig das Geld ins Wirtshaus.“
„Ach, der heutige Markttag ist kein Gewinn für uns, Meister Bernard“, lamentierte die Bäckersfrau. „Erst vergrault uns der Regen die Käufer und nun braut sich auch noch etwas auf dem Marktplatz zusammen. Seht Euch das an, Nachbar.“ Sie wies mit einer Handbewegung zum Stadttor, wo ein Ochsengespann von einer johlenden Schar halbwüchsiger Burschen verfolgt wurde. „So viele junge, kräftige Burschen. Sie werden wieder eine handfeste Schlägerei vom Zaun brechen und wir sind gezwungen, unsere Waren vor ihnen zu retten. Daran sind nur die Hugenotten schuld. Immer mehr Bürger der Gilde lassen ihre Söhne bei ihnen als Lehrlinge arbeiten. Und was kommt dabei heraus? Hanswurste, die glauben, die Welt verändern zu müssen.“
„Ach Gevatterin, warum seht Ihr immer so schwarz?“, versuchte sie der Knochenhauer zu bremsen. „Unsere Söhne lernen doch auch von den französischen Fabrikanten. Viele der jungen Burschen führen bereits eigene Manufakturen.“
„Aber unsere Burschen heiraten auch ihre Töchter! Gott sei Dank hat man dafür gesorgt, dass die Hugenotten einen eigenen Friedhof und eine eigene Kirche bekamen. Diese Leute leben in den Tag hinein, mögen kein Bier, nur Wein, essen nur Weizenbrot und trinken sogar zweimal des Tages Kaffee.“
„Ich habe etwas anderes gehört. Dass sie fleißig sind und unserem Kurfürsten Georg Ludwig gute Waren liefern, feine Stoffe, Spitzen, Bänder, gewebte Strümpfe und Seidenhüte. Aber sie sind auch Hitzköpfe, Gevatterin. Spiel- und Trunksucht greifen unter den Jungen immer mehr um sich. Sogar Duelle wie die hohen Herren liefern sie sich schon. Das kann einem schon zu denken geben.“
Die Bäckerin erinnerte sich wieder an Grete. Sie trat zu ihr, strich ihr übers Haar und seufzte: „Na, dem Herrgott sei Dank, gibt es noch Mädchen wie dich, Grete, hübsch anzusehen und sittsam. Du wirst einmal einen guten Mann finden.“ Aber da ihr nichts in der Stadt entging, galt ihre Aufmerksamkeit rasch wieder dem Fuhrwerk, das nun, umringt von der Menge, mitten auf dem Marktplatz stehen geblieben war. „Seht doch, Meister Bernard! Das ist ja Jürgen Meyers Gespann. Er führt etwas am Wagen mit. Es sieht aus wie ein Wolf.“ Neugierig reckte sie den Hals.
Der Knochenhauer warf einen mitleidigen Blick auf die Bäckerin und dann einen kurzen auf das Geschehen, während er Grete aufforderte: „Du solltest dich beeilen, dass du nach Hause kommst!“ Dann schwang er das Beil über einem Kotelettstück und antwortete der Bäckerin. „Wenn es ein Wolf ist, soll er ihn gleich zu mir bringen, damit ich Wolfslende aus ihm mache. Gestern Nacht hat so ein verfluchter Isegrim meine letzte Kuh gerissen.“
So schnell, wie der Regen gekommen war, so rasch riss nun die Wolkendecke wieder auf. Ein farbenprächtiger Regenbogen teilte den Horizont. Grete beobachtete so fasziniert das Schauspiel, dass sie die Worte des Knochenhauers überhörte und erst aufschreckte, als sie die Hand der Bäckerin auf ihrem Arm spürte. „Das müssen wir uns ansehen, Kind. So etwas erlebt man nicht jeden Tag.“
Grete sah verwirrt auf. „Was meint Ihr, gute Frau?“
„Na, das seltsame Tier am Fuhrwerk auf dem Markt. Es muss eine besondere Bewandtnis damit haben. Fast alle Burschen unserer Stadt sind seinetwegen auf den Beinen.“
„Das Mädchen wird Ärger bekommen, Gevatterin“, hörte Grete den Knochenhauer im Rücken, der es gut mit ihr meinte. Doch die Bäckersfrau hatte bereits nach ihrer Hand gegriffen und drängte sie zur Marktmitte. Grete folgte ihr zögernd, den Korb mit der Hose fest an sich gedrückt. Das Grölen der Burschen vor ihr ängstigte sie. Doch ihre Neugierde gewann die Oberhand und so folgte sie ihr trotz der Schelte, die sie erwartete. Sie hatte am Morgen kein Frühstück bekommen. Die Brezel der Bäckerin hatte ihren Hunger gestillt. Sie war es der Frau schuldig.
„Ich weiß nicht, ob der Vater es gutheißt, wenn ich ihn noch länger warten lasse …“, unternahm sie einen letzten Versuch den Weg nach Hause zu nehmen.
Doch die Bäckerin rauschte unbeirrt über das Pflaster, den Blick fest auf das Geschehen gerichtet. Während sie mit den Ellbogen Platz schuf, zerstreute sie Gretes Bedenken. „Hab keine Angst, Grete. Dein Weg führt dich doch sowieso hier vorbei. Dann kannst du den Vater wenigstens mit interessanten Neuigkeiten ablenken.“ Dabei entging ihr, dass sich das Mädchen von ihrer Hand losgemacht hatte und von der Menge abgedrängt wurde. Grete rief noch nach ihr. Doch ihre Worte gingen im Geschrei der Burschen unter. Den Korb an die Brust gedrückt, kämpfte sie sich nun allein durch die aufgebrachte Menge.
„Um Gottes willen, was ist das für ein Tier? Sie werden es noch umbringen“, dachte Grete laut und bekreuzigte sich, als sie bis fast vor die Füße der seltsamen Gestalt geschoben wurde. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf das verwilderte Geschöpf, das sie für einen verwunschenen Wolfsjungen hielt und das, wie ein Hund an das Fuhrwerk angebunden, sich verzweifelt gegen die Spötteleien und tätlichen Übergriffe wehrte. Rasch suchte sie Schutz in der Nähe eines der Wagenräder, wo sie tief Luft holte. Gleichzeitig beäugte sie mitleidig aber auch ängstlich den seltsamen Wolf, der den Körper eines Knaben hatte und der nur wenige Schritte vor ihr an seinen Seilen zerrte und bei jedem Stein, von dem er getroffen wurde, aufheulte. Der Anblick der geschundenen Kreatur und seine spitzen, gequälten Schreie gingen ihr nahe. Nur zu gut konnte sie sich in die Schmerzen und die Demütigungen hineinversetzen, die er erlitt. Mittlerweile war sie dem Knaben so nahe gekommen, dass sie diesen hätte berühren können, wenn sie es gewollt hätte. Doch sie zögerte, weil sein Verhalten sie gerade jetzt an ihren vierbeinigen Freund „Pepe“ erinnerte, der sich ähnlich verhalten hatte, als der Vater ihn in ihrem Beisein in einem Wutanfall erschlug, weil der kleine Mischlingshund es gewagt hatte ein Stückchen Brot vom Tisch zu stehlen. Der Wolfsknabe war splitternackt. Beschämt und zugleich nach Abhilfe suchend, sah sie sich um. Dabei kam sie ihm unvorsichtigerweise näher. In diesem Moment traf ihn ein Stein direkt an der Stirn. Er schüttelte sich. Durch die ungestümen Bewegungen teilten sich die Haare über seiner Stirn und ihre Blicke kreuzten sich. Für einen Moment schien es, als erstarrte er. Verwundert stierte er sie an, begann sie zu hypnotisieren. Sie sah die Verzweiflung und die Angst in seinen Augen. Am liebsten hätte sie ihm die Hose zugeworfen, damit er sich bedecken konnte. Das Geschrei der Burschen wurde immer dreister.
„Das soll ein Wolf sein? Ein Depp ist das. Seht doch, er ist splitternackt und schämt sich nicht einmal! Springt auf allen Vieren umher, dass man ihm zwischen die Backen sehen kann! Pfui, wie er stinkt!“
Die Menge wieherte. Man wollte sich ausschütten vor Lachen. Selbst als einige böswillig forderten: „Von solchen Deppen haben wir schon genug in der Stadt! Tötet den Idioten!“, ebbte der Lachsturm nicht ab. Aber auch ängstliche Rufe wurden laut. „Der Jürgen Meyer führt die Ausgeburt der Hölle mit sich! Steinigt sie beide!“
Vor Angst versuchte das Wolfskind, sich unter dem Wagen zu verstecken. Es schaufelte wie ein Maulwurf mit den Krallen in der Erde, sodass sie links und rechts von ihm aufspritzte.