Das Wolfskind und der König. Bettina Szrama. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bettina Szrama
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347127289
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Ohrenspiel seines Pferdes als Zustimmung wertend. „Ihn hat mir das Schicksal gesandt. Welches Glück für mich, dass der junge Prince of Wales, Georg August, die Opposition gegen seinen Vater schürt. Mit seiner Hilfe wird es mir gelingen, den König und seine Schwester mit einem illegitimen und ausgesetzten Bastard ins Gerede zu bringen. Die britischen Zeitungen werden sich das Maul zerreißen. Wenn ich schon den Mord nicht an die Öffentlichkeit bringen kann, dann wenigstens dieses Gerücht, damit er nicht länger den Thron beschmutzt, der viel besser seinem Sohn anstünde und auf dass ich meine Ehre zurückbekomme.“

      Das Wirtshaus befand sich im Wald, aber noch nahe genug am Wasser für die Flößer und Schiffer, die ihr geschlagenes Holz transportierten und hier ihre Rast einlegten. Ein starker Zaun aus Eichenholz schloss die einstige Köhlerhütte völlig ein. Als Aristide vor dem hohen Tor aus Rundholz vom Pferd sprang, traf er auf ein Mädchen mit ebenso dichtem, krausem Haar, wie der wilde Knabe. Es tauchte wie ein Schatten aus dem Nichts auf und jagte ihm einen ordentlichen Schrecken ein. Es stand einfach so da und glotzte ihn unverwandt an. Dabei rollte es unruhig mit den Augäpfeln, bis das Weiße hervortrat. Zwischendurch lallte es unverständliche Worte und kicherte dümmlich. Als er es nach dem Wirt fragte, wies es auf das Tor hinter ihm und kreischte laut. Verwundert schüttelte er den Kopf und ließ es mit einem schlechten Gewissen stehen. Der Gedanke, ein Kind mutterseelenallein im Wald zurückzulassen, behagte ihm nicht sehr. Aber schließlich hatte er den Ritt hierher nicht gemacht, um sich um fremde kleine Herumtreiber zu kümmern. Als er das Tor öffnete und sich noch einmal nach ihm umdrehte, stand es immer noch unverändert an der gleichen Stelle.

      „Willst du mit mir kommen, mein Kind?“, forderte er es nun seinem Gewissen nachgebend auf. Doch das Mädchen fing erneut an zu kreischen, mit so schrillen Tönen, dass er sich die Ohren zuhielt und zurückschrie: „Was soll das, du kleine Furie, willst du mich verhöhnen?“

      Vor Schreck über seine Reaktion hielt das Mädchen inne und verzog weinerlich den Mund. Plötzlich bückte es sich, hob blitzschnell die Röcke und lüftete sein nacktes Hinterteil. Angewidert von der vermutlich Irren, führte er das Pferd eilig an ihr vorbei in den dunklen Hof, wo er das Tier neben der Eingangstreppe an einem der Eisenringe im Mauerwerk festband. „Dich hat sie wohl auch erschreckt, mein Freund“, redete er dem auf der Stelle tänzelnden Gefährten zu und sah sich fast ein wenig ängstlich nach dem Kind um. „Gott sei Dank! Sie ist weg.“ Er war ein Mann, der mit dem Degen umgehen konnte, aber nicht mit idiotischen Gespenstern. „Gleich bekommst du Wasser und Stroh, mein Freund“, unterhielt er sich erneut mit dem Pferd, diesmal mehr um sich selbst zu beruhigen. „Findest du nicht auch, dass sie Ähnlichkeit mit dem Wilden aus Hameln hat?“ Er tätschelte den Pferdehals und lenkte dann seine Schritte zur Eingangstür, wobei er laut dachte: „Na, mal sehen, was wir in Erfahrung bringen. Ob es nun für den Knaben etwas bringt oder nicht, sei dahingestellt. Von meinen Plänen wird es mich nicht abbringen.“

      Im Wirtshaus empfing ihn ein trübes Licht, das einzig von der Feuerstelle genährt wurde. Darüber hing ein großer, runder Topf, in dem es kochte und brodelte. Die Schenke schien menschenleer. Da er sich erst an die Lichtverhältnisse gewöhnen musste, verharrte er unschlüssig an der Tür, bis eine Stimme aus dem Dunkel heraus fragte: „Was ist Euer Begehr, Fremder? Um diese Zeit ist die Herberge geschlossen.“

      „Ich komme im Auftrag der kurfürstlichen Regierung, guter Mann, und suche den Wirt dieser Gastlichkeit, um ihm Fragen zu einem gewissen Kind zu stellen. Ich wäre Ihm natürlich sehr verbunden, würde Er mir für die Nacht ein Quartier einrichten und mein Pferd mit Wasser und Futter versorgen.“ Er gab sich extra förmlich und hatte Glück damit. Der Mann kroch aus seiner dunklen Ecke hervor. Er verneigte sich tief und sah sich dabei etwas verwundert um.

      „Der hohe Herr sind ohne Begleitung?“

      „Ja, ich bin bei Tage ohne Rast geritten. Denn es geht um eine dringliche Angelegenheit, die ich zu klären habe. Ist Er der Wirt?“, fragte er und warf seine Handschuhe auf einen der Tische, eine Aufforderung für den Mann ihm unterwürfig aus dem Rock zu helfen.

      „Der Wirt des Wirtshauses von Polle steht zu Euren Diensten, mein Herr.“

      In einer langen, speckigen Lederschürze, mit einem Bauch, den er wie ein Fass vor sich hertrug, verschwand der Wirt und kam rasch mit zwei Krügen in der Hand zurück. An einem langen Holztisch im Feuerschein des Herdes setzte er sich Aristide gegenüber. „Ihr meint sicher das Kind, das von den Schiffern am Westufer gesehen wurde, Herr?“

      Der Kommissar nahm einen kräftigen Schluck, leckte sich über die Lippen und fasste den Mann scharf ins Auge, bevor er antwortete: „Es geht um das Gerücht, dass Er einen idiotischen Sohn gehabt haben soll.“

      „Ach, darum geht es?“

      Der Wirt atmete hörbar aus und lehnte sich entspannt zurück. Unter seinen buschigen Augenbrauen blitzte es verwundert. „Die Geschichte liegt aber schon eine Weile zurück. Der Herr muss wissen, mein Weib ist vor Jahren am Kindbettfieber gestorben und ich habe meine drei Kinder allein aufgezogen, zwei Knaben und ein Mädchen. Leider haben sich der größere Junge und das Mädchen nicht recht entwickelt. Je älter beide wurden, umso ungebärdiger und blödsinniger verhielten sie sich. Zudem haben sie nie richtig sprechen gelernt. Sicher ist der Herr dem Mädchen am Tor begegnet. Es treibt sich gern bei Dunkelheit im Wald umher, wie ihr Bruder, der darin umgekommen ist.

      „Umgekommen?“ Aristide horchte auf. „Dem Mädchen bin ich begegnet. Es hat dunkles, krauses Haar?“

      „Nein, brandrot sind sie, wie bei einer kleinen Hexe!“ Der Wirt strich sich über den Bart und schmunzelte. „Hat der Herr Kinder?“

      „Ich hätte schwören können, dass ihr Schopf dunkel war.“ Aristide hob die Kanne und trank sie in einem Zug leer. „Kinder habe ich Gott sei Dank nicht. Mir fehlt noch das Weib dazu“, antwortete er mit schwerer Zunge, nachdem er das Gefäß wieder absetzte. Der Raum begann sich leicht um ihn zu drehen. Seitdem er von Hameln weggeritten war, hatte er nichts mehr gegessen und so entfaltete der Wein rasch seine Wirkung. Rote Haare, dunkle, krause Haare, schwirrte es durch seinen Kopf. Der wilde Peter hatte schwarzes, krauses Haar gehabt. Log der Wirt? Eine Lüge war nicht verkehrt. Sie würde seine Ermittlungen nur in die rechte Richtung lenken. Benommen beugte er den Hals vor, um den Blick des Wirtes festzuhalten. Doch die grauen Augen in dem runden von feinen Äderchen durchzogenen Gesicht schienen ihm immer wieder zu entwischen.

      „Dann wird es für den Herrn sicher unverständlich sein, dass man solche kleinen Idioten lieben kann“, vernahm Aristide wie aus weiter Ferne. „Für mich sind sie trotz allem Gottes Geschöpfe, die empfindsam auf Stimmungen und Gefühle reagieren. Es hat lange gebraucht, mich an die Kinder zu gewöhnen, und deshalb bereue ich es zutiefst, dass ich meinen Jungen in den Tod getrieben habe, als ich wieder ein Weib ins Haus nahm. Diese Kinder brauchen sehr viel Liebe und sie geben sie tausendfach zurück. Ein Blick in ihre Augen und aller Ärger und alle Mühen sind vergessen. Nur das wollte mein Weib, ihre Stiefmutter, nicht erkennen. Sie hasste die Kinder vom ersten Tag an.“ Der Wirt sah den Kommissar mit besorgtem Blick an. „Ihr habt sicher Hunger. Verzeiht meine Nachlässigkeit“, stellte er eilfertig fest und unterbrach seine Ausführungen. „Ich werde Euch sofort etwas auftragen lassen.“ Er erhob sich, ging nach nebenan in die Küche und kam nach ein paar Minuten mit einer dampfenden Suppenschüssel, etwas geröstetem Schwarzbrot und Speck zurück.

      Dankbar griff Aristide nach der Schüssel und löffelte sie schweigsam bis auf den letzten Löffel leer. Der Wirt beobachtete den Kommissar, bis er der Meinung war, dass er gesättigt war, und redete dann weiter: „Mein Sohn entlief schon im Jahr 1723 in den Wald. Das war das Jahr, als das Weib bei mir einzog. Nachdem ihn wohl einige der Weserschiffer mit etwas zu Essen versorgt hatten, tauchte er wieder auf. Ich war gerade mit dem Gesinde im Heu, da soll ihn das böse Weib so furchtbar aus dem Haus geprügelt haben, dass er in seiner Not wieder zurück in den Wald gelaufen ist. Ich habe Tag und Nacht nach ihm gesucht, bis ich seine Leiche von Wölfen zerrissen im Sollinger Holz fand. Das Weib habe ich darauf aus dem Haus gejagt und meinen Sohn auf dem Friedhof im nächsten Kirchdorf begraben. Wenn der Herr Kommissar es sehen möchte, werde ich ihn an sein Grab führen.“

      Aristide spürte, wie ihm die Müdigkeit durch die Glieder zog. Sein Kopf wurde immer