„Man kann bis auf wenige Meter an die Fundstelle heranfahren“, sagte Piper eher ungeduldig.
Bis auf den Fotografen und Herrn Wagner gingen alle zur Fundstelle. Maik blieb erst zurück und sagte leise zu Rafi: „Bitte wieder einige extra.“ Als er schon wieder am Gehen war, rief er lauter: „Kommt dann mit dem Transporter nach.“
Der Förster hatte es dennoch gehört und fragte ungläubig ebenso leise: „Extra?“
„Aufnahmen, die nicht unbedingt in die Akte müssen“, erklärte Rafi locker und zog eine Kamera aus seiner Tasche. „Die beiden Kollegen brauchen sie manchmal.“
Er begann zu fotografieren: ein Bild vom Eingang in den Steinbruch, dann die Felswände zu beiden Seiten, eins in den Bruch hinein. „Der Fund macht Ihnen zu schaffen, nicht wahr?“
„Mein Hund entdeckt da hinten diesen Mann und …“ Der Förster stutzte. „Wieso sage ich Mann? Vielleicht ist’s ja auch eine Frau.“
Was sollte Rafi dazu sagen?
Inzwischen liefen die sechs durch die breite Schlucht, die vor langer Zeit nach und nach in den Berghang gesprengt worden war. Rechts standen ausgewachsene Salweiden, die im Geröll siedelten, und dicht hinter ihren kahlen Zweigen ragte die Wand weit hinauf senkrecht empor. Die Schatten der auf Mittag zugehenden Sonne lagen darauf und leckten bereits an ihren Füßen. Der Hirschholunder trug seine kleinen roten Beerentrauben. Die niedrige Wand gegenüber ragte kaum über das davorliegende Geröll. Dort leuchteten im Gesträuch die orangeroten Früchte der Pfaffenhütchen in der Herbstsonne.
Die Sohle des Steinbruchs führte sie jetzt näher an die hohe Wand bis dorthin, wo am Morgen der Jeep des Försters gestanden hatte. Dort lag vor der senkrechten Wand ein Wall kantiger Felsbrocken. Herr Pieper zeigte hinauf zu den großen Brocken, bei denen der Hund anschlagen hatte.
Maik Haberland und Fritz Hämmerle stiegen die wenigen Schritte nach oben und sahen in einer Kuhle mit reichlich Laub ein Stück grünen Ärmel mit einer Hand in einem Lederhandschuh. Sie hörten den Transporter starten.
„Rafi fotografiert zuerst“, sagte Maik.
Dr. Friedrich war ihnen nachgegangen und stand bei ihnen. „Herr Haberland, wir machen das zusammen.“
Maik sah die Wand empor zu den Ästen, die über die Felskante ragten. Von dort oben tanzten einige rostrote Blätter herab.
„Okay“, erwiderte Maik, „gehen wir zum Auto, der Fotograf schickt uns sowieso gleich hier weg. Overalls, Handschuhe, Masken. Wohin mit dem Laub? Vielleicht in Säcke? Dann sehen wir weiter.“
Fritz Hämmerle redete mit Piper, sie wollten den Förster wieder fahren lassen.
Dr. Friedrich hängte sich seine große, wohl recht schwere Tasche über die Schulter und Maik trug einen Behälter mit allem, was sie brauchten. Die beiden weiß gekleideten Männer stiegen hinter den großen Stein.
Piper zog seine Zigaretten aus der Tasche und ging mit Wachtmeister Süß in den hinteren Teil des Bruchs. Fritz Hämmerle blieb im Umkreis der Fundstelle und kletterte zwischen den Felsbrocken umher. Er hörte das Rascheln der Plastiksäcke, in die das Laub gefüllt wurde, und konnte gelegentlich verstehen, was die beiden redeten. „Drei bis vier Wochen“, meinte der Doc, „eher vier. Es ist erst seit zwei Tagen wieder wärmer, davor war es lange ausgesprochen kühl.“
Hämmerle entdeckte die Ecke eines Holzwürfels und schob etwas Laub beiseite. Es war die Ecke eines Spankorbes aus richtigem Holz. Aus dem Gartenschuppen seines Großvaters kannte er solche, innen mit reichlich Erdbeerflecken. Damals hatte er beim Ausräumen geholfen, nachdem sein Opa gestorben war.
Fritz Hämmerle ließ den Korb im Laub stecken. Das ist Maiks Arbeit, sagte er sich, und kletterte weiter. Manchmal schien er auf dürre Äste zu treten, die sich unter dem Laub versteckten und mit dumpfem Knacken zerbrachen. Er war in der Nähe der weißen Overalls und wollte sehen, wie weit die beiden waren. Er stieg durch die Felsbrocken und blieb zuletzt noch an einem verzweigten Ast hängen, den er schon ungehalten aus dem Laub ziehen und beiseite werfen wollte. Er hatte dessen Ende, oder auch seinen Anfang, der so dick war wie sein kleiner Finger, schon in der Hand und stutzte.
Der Ast war nicht morsch und auch nicht irgendwie glatt abgebrochen. Es war ein Ast, der von einem lebendigen Baum abgerissen worden war mit einem Fähnchen aus Holz und Rinde. Der Abriss war ergraut, ganz frisch war er also nicht mehr. Er ließ ihn wieder los und wollte auch das lieber Maik zeigen, der gleich hinter dem nächsten Felsbrocken mit dem Doc arbeitete.
Maik tauchte zwischen den Felsblöcken auf und rief nach Rafi, der im Auto saß und eben die Aufnahmen auf seinen Laptop übertragen hatte. Dann sah er sich nach Fritz um, der ihn fragte, ob er einen Moment Zeit hätte. Maik wäre Rafi im Moment eh nur im Weg und stieg zu ihm. Fritz zeigte ihm den Zweig und sagte: „Sieht aus wie abgerissen, aber wie ist der hierhergekommen?“
Maik begann, das Laub beiseitezuräumen. „Den ziehen wir nicht einfach so aus den Blättern, hilf mir mal mit dem Laub.“
Maik hob schließlich den Ast heraus und als er die letzten festklebenden Blätter abgezupft hatte, sah er sich um und sagte: „Salweide ist es nicht, Hirschholunder schon gar nicht.“ Dann schaute er die Wand nach oben. „Könnte von einer Buche sein. Die scheinen da oben zu wachsen. Hier unten im Bruch sind keine.“
Fritz Hämmerle sagte nichts dazu.
Maik griff unter seinen Overall und kramte etwas hervor, das sich nach dem Aufklappen als Lupe entpuppte. Er sah sich damit am Zweig eine Stelle an: „Fritz, sieh dir das an und sag mir, was das ist.“ Er gab ihm die Lupe und hielt ihm die Stelle vor die Nase.
„Wenn ich sehe, was du siehst, dann ist es ein Stück abgerissenes Leder oder etwas Ähnliches.“
„Sieht so aus“, sagte Maik. „Dann muss der Ast ins Labor, aber wie machen wir das? In den großen Säcken ist Laub.“
„Frag den Doc. Vielleicht hat der was.“
„Frag du ihn“, bat Maik.
Er stieg durch die Felsbrocken hinab zu Dr. Friedrich und kam mit einer Folie zurück. Maik wollte Fotos von dem Ast und der Stelle, wo er gelegen hatte, und sagte es Rafi, der wohl an der Fundstelle eben fertig geworden war.
Fritz Hämmerle wartete, bis die Fotos gemacht waren, und gab Maik die Folie. Der schlug den Zweig ein und brachte ihn zum Auto.
Der Doc und Piper trugen die Mulde mit Haube an die Fundstelle. Fritz Hämmerle stand neben dem Toten und sah zwischen den braunschwarzen Flecken der Blätter, die sich beim Verwesen auf dem Gewebe der Kleidung gebildet hatten, einen grünen Stoff, Jacke und Hose. Die Fersen der knöchelhohen Schuhe ragten nach oben, der Kopf war bedeckt von vielen Laubresten.
Ein metallener Aufschlag hinter ihm ließ Hämmerle zusammenzucken. „Mann, müsst ihr mich so erschrecken?!“
Piper und der Doc waren ins Straucheln geraten und hatten unsanft die Leichenmulde auf den Steinen abgesetzt.
Der Doc hockte sich neben die Leiche und sagte: „Der Anzug ist aus Kunstfaser und deshalb nicht verrottet. Ist nicht kompliziert. Herr Haberland und ich bringen das zu Ende.“
Fritz Hämmerle ließ die beiden arbeiten und stieg zum Auto hinunter.
Wachtmeister Süß hatte ihm vom hinteren Teil des Bruchs nichts zu berichten.
„Wieso liegen hier diese großen Steine“, fragte er ihn, „und nach hinten raus diese Massen, die die gesamte Sole zugeschüttet haben?“
„Sehen Sie die Bohrlöcher?“, antwortete der Wachtmeister und deutete auf die Wand. „Jeden halben Meter eins, von oben bis unten durchgehend. Die haben damals die gesamte Wand vorbereitet, mehr als fünf Meter dick, dreißig Meter hoch und mit einer einzigen Sprengung die gesamte Länge runtergeholt. Das