Hämmerle. Jochen Rinner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jochen Rinner
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347069022
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können sie wohl erst in den nächsten Tagen.“

      Während der erste Schluck Kaffee anfängt, für Beruhigung zu sorgen, legt Frau Micha nach: „Ist gerade ausgenommen viel los, Herr Hämmerle. Sie haben’s echt getroffen.“

      Sie telefoniert. „Ja, Herr Hämmerle ist jetzt da. --- Nein, die Baustelle am Zubringer.“

      Jetzt redet offenbar sein Chef: Harald Scheffer, Hauptkommissar. Er wundert sich, warum die Dienstgrade hier in den Gesprächen irgendwie unter den Tisch fallen, und nimmt sich vor, bei passender Gelegenheit zu fragen, am besten Frau Micha - Frau Micha, das klingt ja schon merkwürdig genug.

      „Okay.“ Das ist alles, was sie sagt, ehe sie auflegt. „Ihr Chef will, dass Sie hinkommen, sofort.“ Sie greift zum Telefon und wählt eine kurze Nummer.

      „Du, Kate, wann fährt der Leichenwagen zu Schäffer? --- Zehn Minuten? Ich schick dir Herrn Hämmerle runter, er ist neu bei uns, der muss auch mit. ---“ Sie legt auf.

      „Sie fahren mit dem Leichenwagen, bevor sie wieder irgendwo in der Stadt stecken bleiben. Nehmen Sie den Aufzug ins Untergeschoß und gehen Sie nach links durch die Stahltür in die Garage. Das Auto können Sie nicht übersehen.“

      Zehn Minuten, das geht noch, denkt er und so ist das Erste, was Fritz Hämmerle nach seiner verunglückten Entschuldigungsserenade bereits in der Tür stehend über die Lippen bringt: „Wieso hört man in dieser Etage so selten Dienstgrade und warum sagen alle Frau Micha zu Ihnen?“ Dabei schaut er demonstrativ auf das Türschild. Sie lächelt, bemerkt er. Freut sie sich - weil ihr Patient endlich wieder den Mund aufmacht oder über die Frage selbst?

      „Das war er“, sagt sie belustigt und blickt ihrerseits demonstrativ Richtung Chefbüro: Alexander Dietrich, Leiter der K30. Er habe in einer Konferenz gesagt, dass er mit diesen Dienstgraden zu viel reden müsse und es auch nicht nötig sei, dauernd an seinen Dienstgrad erinnert zu werden und damit an die Besoldungsgruppe. Er habe sogar abstimmen lassen. Zuerst habe er nach den Enthaltungen gefragt – es seien viele Hände hochgegangen –, dann nach den Gegenstimmen – keine Hände. Bei der Frage, wer dafür sei, habe nur er die Hand gehoben und dann gesagt: „Also gut, einstimmig angenommen.“

      „Elke von der Drofa hat zuerst losgeprustet, so heiter war es seitdem in keiner Sitzung mehr. Ja, und mit meinem Namen hat er ein paar Wochen später angefangen, einfach so, und jetzt ist es, wie es ist. Aber jetzt gehen Sie, sonst bleiben Sie bereits im Haus wieder stecken.“

      Auf dem Flur denkt er: ‚Jetzt ist es, wie es ist‘ - scheint ihr aber zu gefallen.

      Bartel lenkt den Transporter flott aus der Garage die Auffahrt hinauf auf den Innenring, die Straße im Inneren des riesigen Häusergevierts. Die nächste Einfahrt ist die zur Pathologie. Fritz Hämmerle fragt, wohin es geht. Bartel fällt ihm mürrisch ins Wort, er wisse nur Straße und Hausnummer.

      Sie schweigen, bis sie vor dem Absperrband halten. Wieder steigt dieses beklemmende Gefühl in ihm auf. Immerhin hat er sich so weit im Griff, sich nicht in die längliche Edelstahlbüchse hinten im Transporter zu wünschen, atmet durch und steigt über die Absperrung. Er zeigt zum ersten Mal seinen Dienstausweis und sagt zum Uniformierten an der Eingangstür: „Hauptkommissar Schäffer.“

      „Treppe hoch rechts“, antwortet der Kollege, tritt zur Seite und weist ihn nach oben.

      Das wäre wohl auch gegangen, wenn er ihm seinen Führerschein unter die Nase gehalten hätte.

      Welche Treppe?, fragt er sich. Er steht an der rechten Ecke eines alten, vierstöckigen Wohnhauses und sieht die fensterlose Giebelwand hinauf. An dieser Wand ist ein Anbau, etwas zurückgesetzt, mit einem Spitzdach. Er hat drei große Tore - vielleicht für LKWs. Zwischen dem ersten Tor und der Giebelwand steht eine nicht allzu breite Tür offen und dort drin, halb im Dunkel, sieht er die Treppe. Und wenn der Kollege sagt, oben rechts, muss es also in dieses fensterlose, spitze Dach über den drei Toren gehen.

      Die eher dämmrige, rötliche Beleuchtung und die Bilder in diesem Treppenaufgang deuten auf den Zugang zu den Geschäftsräumen eines eher leichteren Gewerbes hin und als er vor der einzigen Tür oben rechts ankommt, liest er neben einem Klingelknopf: Rita, und neben einem zweiten: Kitty. Hinter dieser Tür trifft er jetzt gleich seinen Chef und hofft inständig, dass alle sehr beschäftigt sind und von ihm keine ausgedehnten Erklärungen erwarten.

      Die Tür ist angelehnt. Er klopft zaghaft - nichts. Langsam drückt er die Tür auf und tritt in einen Vorraum mit niedrigen, runden Tischen, Sesseln, einer kleinen Bar, zwei Stativen mit Scheinwerfern und einem Aluminiumkoffer. Links gegenüber sieht er einen Gang. Der Fransenvorhang ist zur Seite gebunden. Die Türen auf der linken Seite in diesem Flur sind offen und aus der zweiten dringt grelles Licht.

      Bisher hat ihn keiner bemerkt und er zögert, ehe er langsam weitergeht. Er verharrt an der ersten Tür, die zu einer ziemlich geräumigen Küche mit einer offenen Tür zum rechten Nebenraum führt. Von dort fällt das gleiche grelle Licht auf die Küchenzeile gegenüber. Die Küche hat eine Dachgaube, vor der ein gedeckter Tisch mit zwei gepolsterten Stühlen steht. Er geht zur zweiten Tür und sieht, als seine Augen sich auf das grelle Licht eingestellt haben, das Opfer. Es liegt auf einem Bett ähnlich dem in seinem eigenen Schlafzimmer, welches den Winters früher gehörte, nur sind die Metallstäbe trist gerade und keineswegs schief und das niedrige Fußteil dient nur dazu, die dicke Matratze zu halten. Die junge Frau ist mit einem Laken zugedeckt. Die Füße ragen rechts und links an den Ecken des Lakens heraus und sind mit Handschellen an dem kurzen Gitter angekettet, ebenso wie die Arme rechts und links am Kopfteil. Um den Hals liegt ein mit silberglänzenden Noppen besetzter Riemen, der im mittleren Stab eingehängt ist. Die Augen sind weit offen und trotz der Starre noch voller Schrecken. Langes blondes Haar wallt nach allen Seiten über das Kopfkissen. Der Kollege im weißen Overall sieht ihn kurz wortlos an und beginnt, die erste der Handschellen zu lösen.

      „Guten Tag, Herr Hämmerle.“ Er erschrickt, es ist Hauptkommissar Schäffer, der ihn von hinten anspricht. „Kommen Sie, wir gehen nach vorn.“

      Im Vorraum deutet er wortlos auf einen der Sessel. Er setzt sich schräg gegenüber und kommt wider Erwarten umgehend zum Fall:

      Die Tote sei Rita Kämpf, sechsundzwanzig Jahre, seit mehr als fünf Jahren an dieser Adresse gemeldet. Die Reinigungskraft, eine Vietnamesin, neunundfünfzig Jahre alt, habe sie kurz nach sieben Uhr gefunden. Der Notruf sei um sieben Uhr elf eingegangen. Die Aussage der Frau sei aufgenommen worden.

      Er stellt das Aufnahmegerät auf den Tisch. Das Protokoll sei seine Sache, inklusive Unterschrift. Er legt einen Zettel dazu, auf dem sie ihren Namen, Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben hat. Die Angaben seien mit ihrem Personalausweis abgeglichen. Von ihr wüssten sie auch, dass Rita Kämpfs Kollegin Kitty, eine Ungarin, für einige Tage nach Hause gefahren sei, weil ihre Mutter krank sei. Kitty sei seit vierzehn Monaten ebenfalls hier gemeldet. Rita Kämpf habe möglicherweise seit zwei Tagen allein in diesen Räumen gearbeitet. Der Fotograf sei bereits wieder abgefahren, der Pathologe inzwischen auch. Er vermute den Todeszeitpunkt zwischen fünf und sechs Uhr. Sie sei wohl erstickt durch den Halsriemen. Verbindliches gäbe es nach der Obduktion. Die Spurensicherung arbeite noch. Herrn Haberland habe er ja eben gesehen, zwei weitere Kollegen untersuchten die hinteren Räume.

      „Herr Hämmerle, ich muss wieder in die Bergerstraße. Die Spurensicherung hat noch eine Stunde zu tun, bleiben Sie solange. Lassen Sie auch die untere Tür versiegeln. Fragen Sie die Hausbewohner nebenan, wer die Garagen unter uns nutzt, parkende Autos … Sie wissen, was zu tun ist.“ Er schreibt eine Telefonnummer auf einen Bierdeckel. „Wenn Sie fertig sind“, sagt er, „rufen Sie hier an. Der Kollege schickt Ihnen einen Streifenwagen. Noch Fragen?“

      Er hat keine Fragen und dann ist Schäffer auch schon weg – müde sieht er aus.

      Fritz Hämmerle sitzt in sich zusammengesunken in seinem Sessel und fragt sich, ob er für diesen Job überhaupt geeignet ist. Der Anblick der Toten hat ihn sehr getroffen. Im Studium haben sie unzählige Fälle analysiert, sich viele Bilder angeschaut und selbst in der Pathologie hatte er keine Probleme. Aber jetzt schwankt der Boden unter seinen Füßen.

      Schließlich