„Ja“
„Bitte nehmen Sie, die Kekse sind ein Rezept meiner Frau.“ Er schenkt Kaffee ein und schiebt den Teller mit den selbst gebackenen Keksen näher. Noch ehe das Gebäck bei ihnen ist, fragt Karl Winter, wie er das mit dem arbeitsbedingten Ortswechsel verstehen könne.
Fritz Hämmerle erzählt, eben von der Polizeiakademie zu kommen. Sein Mentor habe ihn auf diese freie Stelle aufmerksam gemacht. Lieber etwas mehr in der Nähe, habe er ihm geantwortet, sein Mentor habe aber nur vergnügt mit den Schultern gezuckt.
„Am Abend habe ich es meiner Frau erzählt. ‚Warum nicht? Probier’s halt‘, kam zurück. ‚Und deine Arbeit?‘, hielt ich ihr entgegen. ‚Findet sich‘, sprach sie. ‚Und Daniel?‘, fragte ich weiter. Aber sie sagte einfach: ‚Dani muss mit, und außerdem würde er nichts dagegen haben, seine Großeltern auch kurz übers Wochenende zu besuchen, die dann ja wirklich fast in der Nähe wohnen würden, und mir wär es auch ganz lieb so.‘“
Karl Winter sieht ihn die ganze Zeit an mit seinen graublauen Augen, mehr blau als grau. Vielleicht fällt das Blau nur wegen des üppigen weißen Haars so auf. Nun rückt er sich auf seinem Stuhl doch ein wenig zurecht und bemerkt: „Sie sehen aber nicht gerade wie ein Langzeitstudent aus.“
„Ja, ich bin jetzt fünfunddreißig und war zur Aufnahmeprüfung dreißig. Die hab ich gerade eben so geschafft - vor allem in Sport, das war haarscharf an der Untergrenze. Dass die mich überhaupt genommen haben mit dieser Vorgeschichte …“
„Vorgeschichte? Erzählen Sie, wenn Sie wollen.“
Der will’s aber wissen. Also redet er weiter: „Meiner Mutter, bei der ich damals noch gewohnt habe, sagte ich: ‚Ich würde das schon gerne machen, aber die nehmen mich sowieso nicht.‘ Sie fiel mir forsch ins Wort: ‚Bewirb dich doch einfach, wenn du nicht zu faul bist, ein paar Sätze zu schreiben!‘“
„Was haben Sie denn bis dahin so Schlimmes angestellt?“, fragt Karl Winter ziemlich direkt.
„Eher hatte ich wohl überhaupt nichts angestellt“, antwortet er. „Nach dem Abitur wollte ich meiner Mutter nicht mehr auf der Tasche liegen. Ich wollte weg von zu Hause. Also fragte ich kurzerhand in der nächsten Kneipe, ob sie einen Kellner bräuchten. Brauchten sie, erst aushilfsweise und wenig später war ich fest drin. Daraus wurden elf Jahre und bei meiner Mutter bin ich auch geblieben. In der Zwischenzeit begann ich eine Ausbildung im Fach. Das war aber nur kurz. Ich wollte mir nicht merken, wo welche Gabel zu welchem Anlass hingehört und so. Mein Chef hat mich wieder genommen. Gelegentlich legte ich das Besteck anders. Eine Dame fragte mich einmal: ‚Gehört die Gabel nicht nach links?‘ Ich antwortete: ‚Sie brauchen die Gabel heute unbedingt rechts.‘ Sie ließ sich auf den vergnüglichen Schlagabtausch ein und es schien ihr Spaß zu machen.“ Insgeheim denkt er: An der Höhe des Trinkgeldes gemessen.
Das erzählt er Herrn Winter nicht, auch nicht, dass überhaupt alles Trinkgeld auf die hohe Kante kam, konsequent, die ganzen elf Jahre lang, und nicht nur das Trinkgeld. Am Tag nach Karl Winters Anruf war er bei der Bank, und dieses Geld ist der Grund, warum er schon eine Finanzierungsbestätigung in der Tasche hat, für alle Fälle.
Seine Frau hält sich kurz, weil sie sich wohl eher das Haus ansehen will. Sie habe gleich nach der Schule Physiotherapeutin gelernt, dann sei Daniel gekommen. Sie sei lange alleinerziehend gewesen. Ihren Mann habe sie vor vier Jahren kennengelernt. Als sie das letzte Mal hier waren, hätten sie physiotherapeutische Praxen besucht und eine habe ihr zugesagt und es habe ihr dort auch gefallen. Dann sieht sie Karl Winter erwartungsvoll an.
„Schauen Sie sich doch erst einmal um. Ins Dachgeschoss müssen Sie allerdings allein hoch, die Treppe hat mir die Freundschaft gekündigt“, sagt Karl Winter und setzt sich, während sie hinaufsteigen, an den Küchentisch.
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Die Bahn zog kreischend ihre Schleife durch den Wald. Wenn er jetzt einen Schritt zulegte, würde er sie noch schaffen, der Autobahnzubringer war schon zu hören. Aber Fritz Hämmerle mochte nicht – wozu heute auch? – und während er gemächlich durch das nasse Laub watete, fand er sich im Dachgeschoss von Karl Winters Haus wieder.
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Geradeaus durch die schmale Tür ist die Toilette, die Sonne zeichnet das Rechteck des Dachfensters gleich hinter die Schwelle der Tür. Rechts geht es ins Schlafzimmer. Sie stehen in der Tür. Im großen Giebelfenster ist der nahe Wald zu erkennen, hohe Rotbuchen, von denen durchs Fenster nur eine Wand aus Blättern zu sehen ist. In die Dachschrägen sind Kleiderschränke eingebaut und in der Mitte steht das Doppelbett mit grauer Tagesdecke, die bis auf den Boden reicht. Dieses Bett ist aus mattschwarzem Eisen, zwei Meter im Quadrat, die Ecksäulen mit dicken runden Füßen und Knäufen, geschuppt wie goldene Zapfen. Die goldene Farbe ist bei denen am Fußende abgegriffen, nachdem sich Generationen von betagten Eheleuten daran festhielten, während sie Abend für Abend ihre Kleider, also die von der Hüfte abwärts, über die Füße zogen. Was zwischen diesen Säulen ist, gleicht eher den Seiten eines Babybettes mit Gitterstäben, nur eben nicht aus Holz, sondern aus schwarzgrauen Eisenstangen. Es vermittelt ein Gefühl, als wolle man jemanden einsperren, obgleich nur Kopf- und Fußteil so sind. Und es steht mitten im Raum, weil das Kopfteil höher ist als das Fensterbrett.
Sie sehen sich entsetzt an und denken wohl das Gleiche: Falls wir je hier einziehen, dann nicht mit diesem Bett! Obwohl, irgendwie lustig ist es schon, denn die Gitterstäbe sind ein wenig schräg eingebaut, im Kopfteil nach rechts geneigt und im Fußteil nach links. Das Bett scheint leicht zu schwanken, als hätte es einen über den Durst getrunken.
Erst das Klappern der Teller in der Küche, das durch die offenen Türen nach oben dringt, löst ihren Blick von diesem Monstrum. Er geht um das Bett herum. Näher am Fenster gesellt sich zu der grünen Blätterwand über den Wipfeln der Buchen strahlend blauer Himmel.
Lilly steht vor einer Kommode gleich neben der Tür, die eine schwarze Marmorplatte hat und einen hohen, aufgesetzten Spiegel, in dem sie ihn am Fenster stehen sieht. „Fritz, jetzt komm, wir können Herrn Winter nicht länger warten lassen.“
Alles hier oben ist mit einer Staubschicht überzogen, selbst auf dem bräunlichen Bretterboden sind ihre Fußabdrücke zu sehen. Karl Winter hat wohl schon länger auf dem Klappsofa im Wohnzimmer neben der Küche sein Bett aufgeschlagen. Gegenüber dem Schlafzimmer sind zwei kleine Räume für die Kinder, zusammen so groß wie das Schlafzimmer. Die Treppe hat ziemlich schmale Stufen, auf denen sich Lilly mit ihren hohen Absätzen nach unten müht.
Karl Winter hat den kleinen Haushalt im Erdgeschoss offenbar gut im Griff und dieser scheint ihm auch keine Last zu sein. „Den Garten haben Sie ja schon gesehen“, sagt er, als sie wieder am Küchentisch sitzen. „Zwischen den Johannisbeersträuchern wuchsen früher Erdbeeren und im Sommer haben der Giersch und die Brennnesseln die Schlacht gegen die vereinigten Steingartenpflanzen endgültig gewonnen. Früher hat mir der Garten viel Spaß gemacht, aber mit dem dritten Bein ging es immer mühseliger und es tat weh zu erleben, wie der Garten so langsam den Bach runterging. Das wollte ich nicht mehr mit ansehen. Sie können morgen früh wiederkommen“, meint er, „wenn Sie wollen.“
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Es dämmerte, als er auf den Weg einbog, der von der nahen Siedlung zur Haltestelle führte. Von hier sah man die wartende Bahn: ein hell leuchtendes, langes Lichtband, das von dem Unterstand aus Wellblech unterbrochen wurde. Er schaute sich nach Frau Reiter um, der er nicht selten morgens mit ihrer kleinen Tochter im Kinderwagen hier begegnete. Vielleicht ist sie schon weg, weil ich heute später dran bin, dachte er und lief weiter.
Wie immer stieg er in den hinteren Wagen, löste seine Kapuze, streifte sie nach hinten und setzte sich ans Fenster. Er war allein und das blieb bis zur nächsten Haltestelle so. Ab