Das Fest der Männer und der Frauen. Hans-Ulrich Möhring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans-Ulrich Möhring
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347094413
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am besten entbindet, im Krankenhaus oder zuhause, fanden sie die Sachen, die ich gesagt habe, zwar grundsätzlich richtig, aber bei ihren Kindern hätten sie das Risiko nicht eingehen mögen, und dass ich für ihr Empfinden meine eigene Sicherheit und die meines Kindes gefährden wollte, war ihnen auch nicht geheuer – was ich gut verstehe. Ich will auch mein Kind möglichst sicher zur Welt bringen, wer will das nicht? Aber die Art, wie bei uns Sicherheit hergestellt wird, und was sich daraus alles ergibt, damit kann ich mich einfach nicht abfinden. Die Art, wie Frauen entmündigt und von ihrem Körper abgeschnitten werden, wie sie den Kontakt zu ihrem Kind und sich selbst durch Illusionsmaschinen und absurde Vorsorgeentscheidungen ausgetrieben bekommen. Ich denke, früher war die Geburt etwas Existentielles, die Ankunft eines neuen Menschenwesens auf der Erde, und die ganzen Gebete, Riten, Wallfahrten und Gelübde drumherum sollten dem Kind auch einen guten Lebensweg bereiten. Eine Frau aus Liberia, die ich letztes Jahr kennen gelernt habe, hat mir erzählt, dass in ihrer Tradition jede Geburt eine Initiation ist. Die Frauen sehen dabei dem Tod ins Auge und erwerben ein Wissen vom Leben, das tiefer ist als alles, was sie in der Schule lernen. Falls wir hier je so ein Wissen hatten, dann haben wir es schon lange verloren, und geblieben ist uns Unsicherheit und Angst. Ich will mich aber nicht von der Angst bestimmen lassen.« Sofie tat einen tiefen Schnaufer. »Mit dem Entschluss, daraus praktische Konsequenzen zu ziehen, stehe ich allerdings auch unter meinen Frauen ziemlich allein da, und ganz gewiss ist unser Kreis keine traditionelle Gemeinschaft, die über bewährte Formen verfügt, ein Kind in Empfang zu nehmen und ins Leben zu geleiten. Deshalb kam es mir richtig vor, die Realität zu akzeptieren, wie sie ist, und die Formlosigkeit zusammen mit Bo auszuhalten. Unter den gegebenen Umständen wollte ich die Erfahrung der Geburt lieber mit ihm teilen und von dort aus weitergehen, wohin auch immer. Hoffentlich dahin, wo ich tiefer erfahre, was es heißt, eine Frau zu sein.« Die Bemerkung, dass sie das von ihrer Mutter ganz gewiss nicht gelernt hatte, verkniff sie sich.

      »Autsch!«, knurrte Bo beim vierten Biss und stieß Sofie zurück, nachdem sie im Bett förmlich über ihn hergefallen war und ihn erst in die Schulter, dann in die Seite, in den Bauch und zuletzt in den Penis gebissen hatte. »Das hat weh getan. Was ist los mit dir?«

      Breitbeinig auf ihm sitzend reckte sich Sofie zu stolzer Pose auf. »›Küsse, Bisse‹«, deklamierte sie mit erhobener Hand, »›das reimt sich, und wer recht von Herzen liebt, kann schon das eine für das andre greifen.‹«

      »O Gott, Penthesilea ist wieder da«, stöhnte Bo. »Hast du denn gar kein Mitleid mit dem armen Ödipus, verstümmelt an Fuß und Geschlecht?« Die Amazonenkönigin schüttelte wild ihr Haupt und wollte etwas sagen, doch da schnappte sich der unterlegene Mann flink ihre linke Brust und machte Anstalten, seine Zähne darin zu versenken. Sie schrie kurz auf, dann warf sie sich auf ihn, und ein Gerangel begann, das nach einer Weile langsamer, inniger wurde und in eine Versenkung anderer Art überging. Bei alledem musste Bo auf sein Knie aufpassen, dessen anhaltende Empfindlichkeit immerhin den Nebeneffekt hatte, dass die Empfindlichkeit seines Lustorgans ein wenig ab- und sein Durchhaltevermögen entsprechend zunahm.

      »Kriegt sie dich so?«, fragte er hinterher, nachdem beide noch einmal nach Jakob geschaut hatten und zusammengekuschelt wieder im Bett lagen.

      »Ach, ich musste mich einfach mal abreagieren«, erwiderte sie. »Dich kriegt sie mehr.« Was stimmte. Dass seine Schwiegermutter in spe sich über einen Monat Zeit gelassen hatte, um ihren neugeborenen Enkel zu besichtigen, befremdete ihn, und dass es ihr wichtig war zu betonen, wie gut sich der Besuch mit einer Lesung in Hamburg kombinieren ließ, fand er affig. Hinzu kam, dass ihr Hauptinteresse darin zu bestehen schien, ihre Tochter als Informantin für ein neues Buch anzuzapfen, an dem sie gerade schrieb. Charlotte Autré – den Künstlernamen führte sie seit der Trennung von ihrem Mann auch privat – war eine Schriftstellerin mit einem schmalen Oeuvre und einer kleinen, aber treuen Lesergemeinde. Ihre Romane und Geschichten hatten keine stringente Handlung, sondern zeichneten meist komplexe Personenkonstellationen, die sie mit wissenschaftlicher Akribie in ihrer heillosen Verstrickung analysierte. Ihr bekanntestes Werk, Exit, reihte in einer klinisch neutralen Sprache die Motive und Vorgänge auf, deren Verkettung zu ihrem Selbstmordversuch Ende der siebziger Jahre geführt hatte. In ihrem neuen Buch, Arbeitstitel Donna, sollte es »im weitesten Sinne« um weibliche Macht und Ohnmacht gehen, dargestellt am Schicksal wechselnder Protagonistinnen, deren einzige Verbindung untereinander die mehr oder weniger flüchtige Berührung mit dem Frankfurter Weiberrat von 1968 war. Die Fragen, die sie an ihre Tochter und sogar ihre Enkelinnen richtete, schienen alle dieses Projekt zu betreffen, doch das sei, meinte Sofie, einfach ihre Art, menschliche Nähe herzustellen. »Sie liebt ihre Enkel, soweit sie lieben kann«, sagte sie, »aber ihre Möglichkeiten, es zu zeigen, sind halt begrenzt.«

      Auf der anderen Seite lernte Bo in den folgenden Tagen ihre ruhige Präsenz im Haus schätzen, ein krasser Kontrast zu ihrem Ex-Mann, der drei Wochen vorher bei seinem Besuch pausenlos die Enkel bespaßt, afrikanisch gekocht, Geschichten erzählt, Musik vorgespielt und überhaupt einen unglaublichen Trubel veranstaltet hatte, ohne sich von der Wochenbettatmosphäre beirren zu lassen. Kindern tat Leben gut! Erwachsenen auch! Er hatte aus Mainz nicht nur seine Lebensgefährtin Leloba mitgebracht, die Bo zuletzt vor über fünfzehn Jahren in der Frauen-WG seiner alten Freundin Petra gesehen hatte und die sich über das Wiedersehen mit ihm so ausgelassen freute, wie sie sich über ihre Rolle als Sofies »Stiefmutter« amüsierte, sondern auch Bos Mutter. Mit »Hallo, hier ist Opa Manu«, hatte Dr. Emanuel Anders die unbekannte Frau kurzerhand angerufen und sie weniger gefragt, ob sie mitkommen wolle, als ihr den Termin mitgeteilt, zu dem er sie abholen werde. Bo konnte sich nicht erinnern, seine Mutter jemals so von Grund auf durchgelockert gesehen zu haben wie an dem Abend, als sie nach fröhlicher Fahrt Manus altem VW-Bus entstieg. An seine und Sofies Erschöpfung, als die drei wieder fuhren, erinnerte er sich hingegen noch gut.

      Zu viel Trubel war mit Oma Charlotte nicht zu befürchten, aber Bo fand es gewöhnungsbedürftig, wie gezielt sie Ronja und Leni ausfragte: was sie von Jungs hielten, wer in ihren Cliquen das Sagen hatte, wie Streitigkeiten ausgetragen wurden, alles, was irgendwie mit Macht zusammenhing. Aber die Mädchen gaben gern Auskunft und fühlten sich ernst genommen. Von ihm wollte sie wissen, ob er Gregor gegenüber Eifersucht empfand, wie es war, »pardon«, quasi in dessen Haus zu leben, mit seinen Töchtern. Am zweiten Tag beschloss Bo, den Spieß umzudrehen und seinerseits zu fragen. Ihr Selbstverständnis als Schriftstellerin interessierte ihn, und er fand es einleuchtend und nicht unsympathisch, wie für sie bei allem die eigene Arbeit im Vordergrund stand und das öffentliche Ansehen ihr wenig bedeutete, wie sie sich nur ihren Lesern verpflichtet fühlte. Verpflichtet eben zu dieser Arbeit. Ihr Leben würde ihr entgleiten, wenn sie sich nicht auf die Art schonungslos Rechenschaft ablegte und dabei sich und andere radikal in Frage stellte. Bo ließ sich erzählen, hörte aufmerksam zu. Ihm schien, als wären in der knochigen Gestalt doch auch Ähnlichkeiten mit seiner Geliebten zu erkennen. Die Frage ging ihm durch den Kopf, ob er unter den veränderten Lebensbedingungen seine Haltung zum Schreiben vielleicht überdenken sollte, ob er es auch irgendwie als etwas ihm Gemäßes, als seine Arbeit begreifen konnte, wie er es vor Jahren in anderer Weise ja schon einmal versucht hatte.

      Als Charlotte gefahren war, kam ihm die Idee zu einer Geschichte. In einer lockeren linken WG der siebziger Jahre leben zwei Männer, von denen der eine anfängt, sich in Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert zu vergraben, und innerlich mehr und mehr aus seiner Zeit herausfällt. Als der andere einmal eine abschätzige Bemerkung über eine Frau macht, die der eine heimlich liebt, wird er von diesem zum Duell gefordert. Die Situation ist absurd, es scheint ein Spiel zu sein, was sie treiben, dann besorgt der eine irgendwoher alte Duellpistolen. Sekundanten finden sich, auch sie glauben noch an ein Spiel. Als die beiden sich an einem frühen Sonntagmorgen auf einer herbstlichen Nebelwiese gegenüberstehen, ist aus dem Spiel Ernst geworden, ohne dass einer wüsste, wie das zugegangen ist. Die Absurdität nimmt ihren Lauf. Sie würde noch gesteigert, dachte sich Bo, wenn der eine, der zuletzt vom anderen erschossen wird, der Ich-Erzähler wäre. Eine Weile spielte er die Geschichte in mehreren Versionen im Kopf durch, verfeinerte die Details, formulierte sogar manche Passagen, so dass sie sich ihm wörtlich einprägten. Es tat irgendwie gut. Er schrieb die Geschichte nicht auf. Wozu? Hölderlins Frage war ihm wieder präsent: »wozu Dichter in dürftiger Zeit?« Darüber lohnte es sich nachzudenken. Er ließ die Geschichte sein, der Antrieb verlor sich.

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