Plädoyer für eine realistische Erkenntnistheorie. Jürgen Daviter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Daviter
Издательство: Readbox publishing GmbH
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Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783347103290
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wie typischerweise in essentialistischen Versionen (vgl. oben unter I.1.) die Wirklichkeit an sich („Wesenswahrheit“)‚ sondern Aussagen über die Wirklichkeit („Urteilswahrheit“). Dadurch bekommt der Mensch eine aktivere Rolle für den Erkenntnisprozess‚ als bis dahin üblich war. Die Suche nach der Wahrheit wird für Descartes zwingend eine Aufgabe des Menschen: Dieser kann sich nicht darauf verlassen‚ dass sich ihm die Wahrheit auch ohne gründliche Betrachtung der Wirklichkeit ohne Weiteres offenbart oder dass sie in reiner Begriffsanalyse gefunden werden kann.

      Schon damit betrat Descartes einen neuen philosophischen Weg. Darüber hinaus lag in seiner Ausgangsposition für die Erforschung der Wahrheit‚ nämlich dem Zweifel an allem‚ was er bisher für wahr gehalten hatte‚ ein radikaler Bruch mit der überkommenen Philosophie. Descartes machte im wahrsten Sinne des Wortes tabula rasa‚ um sich so auf die Suche nach irgendetwas sicher Wahrem zu machen.

      Und Descartes war überzeugt‚ es gefunden zu haben‚ wie er direkt im Anschluss an die gerade zitierte längere Passage sagt: „Alsbald aber machte ich die Beobachtung‚ daß‚ während ich so denken wollte‚ alles sei falsch‚ doch notwendig ich‚ der das dachte‚ irgend etwas sein müsse‚ und da ich bemerkte‚ daß diese Wahrheit »ich denke‚ also bin ich« (je pense‚ donc je suis; Ego cogito‚ ergo sum‚ sive existo) so fest und sicher wäre‚ daß auch die überspanntesten Annahmen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten‚ so konnte ich sie meinem Dafürhalten nach als das erste Prinzip der Philosophie‚ die ich suchte‚ annehmen.“ (Abh.‚ S. 31.)

      Daraufhin versuchte Descartes‚ seine vermeintlich sicher wahre Vorstellung über diesen Satz hinauszuführen. Er hielt den Satz Ich denke‚ also bin ich deswegen für wahr‚ weil er ihn „ganz klar“ eingesehen hatte. So meinte er nun verallgemeinernd schließen zu können‚ „daß die Dinge‚ welche wir sehr klar und deutlich … begreifen‚ alle wahr sind“‚ sah aber sofort „einige Schwierigkeit“‚ „wohl zu bemerken‚ welches die Dinge sind‚ die wir deutlich begreifen“. (Abh.‚ S. 32) Doch selbst‚ wenn diese Schwierigkeit vermeintlich zweifelsfrei zu überwinden wäre‚ blieb für Descartes ein nicht nur in unseren Gedanken‚ sondern in Wirklichkeit existierender Gott der letzte und notwendige Garant für die Wahrheit unseres Wissens: „Denn vor allem ist selbst jener Satz‚ den ich eben zur Regel genommen habe: daß nämlich alle Dinge‚ die wir sehr klar und sehr deutlich begreifen‚ wahr sind‚ nur deshalb sicher‚ weil Gott ist oder existiert und weil er ein vollkommenes Wesen ist und alles in uns von ihm herrührt. Daraus aber folgt‚ daß unsere Ideen oder Begriffe‚ da sie wirkliche Wesen sind‚ die von Gott kommen‚ soweit sie klar und deutlich sind‚ wahr sein müssen… . Aber wenn wir nicht wüßten‚ daß alles Wirkliche und Wahrhafte in uns von einem vollkommenen und unendlichen Wesen herrührte‚ so hätten wir‚ wie klar und deutlich unsere Ideen auch wären‚ noch keinen sicheren Grund dafür‚ daß sie die Vollkommenheit hätten‚ wahr zu sein.“ (Abh.‚ S. 37.) In der Abhandlung führt Descartes den notwendigen Beweis für die Existenz Gottes nur andeutungsweise‚ z. B. dadurch‚ dass er die Existenz Gottes als eines vollkommenen Wesens aus seiner (Descartes‘) eigenen Unvollkommenheit herleitet. (Abh.‚ S. 33.) Diesem Ziel sind die Meditationen wesentlich ausführlicher und mit anderen Beweisgründen gewidmet (s. u.).

      Descartes beschreibt auch in Umrissen seine Prinzipien der empirischen Forschung. Er habe zuerst versucht‚ „im allgemeinen die Prinzipien oder ersten Ursachen aller Dinge zu finden“‚ und zwar mit Gott als ihrer Ursache und „aus gewissen uns angebornen Wahrheiten“‚ um daraus die ersten und gewöhnlichsten Wirkungen abzuleiten. (Abh.‚ S. 59 f..)41 Je mehr er sich aber mit der großen Mannigfaltigkeit der Dinge beschäftigte‚ sah er umso weniger die Möglichkeit‚ „sie von Seiten des Nutzens zu nehmen‚ wenn man nicht von den Wirkungen zu den Ursachen aufstiege“. Einerseits behauptet er: „Ich habe nichts gefunden‚ das ich nicht nach den von mir gefundenen Prinzipien ohne Mühe hätte erklären können.“ Doch andererseits schreibt er: „Aber ich muß auch bekennen‚ die Macht der Natur ist so umfassend und weit‚ … daß ich im besonderen fast keine Wirkung mehr bemerke‚ von der ich nicht einsehe‚ daß sie sich auf mehrere verschiedene Arten ableiten läßt‚ und daß meine größte Schwierigkeit darin besteht‚ die bestimmte Wirkungsart zu finden. Denn ich weiß hier kein anderes Hilfsmittel‚ als wieder einige Experimente zu suchen‚ bei denen der Erfolg nicht derselbe ist‚ wenn man ihn so oder anders erklärt.“ (Abh.‚ S. 60.) So stellt sich Descartes durchaus als kritischen Empiriker dar‚ besonders mit der Vorstellung des Einwandes anderweitiger Kausalität und mit dem Programm der experimentellen Überprüfung. In dieser recht konkreten Beschreibung seiner Forschungspraxis sind Grundlagen einer modernen empirischen Methodologie zu entdecken (s. u. das Kapitel über den Kritischen Rationalismus). Descartes deutet an‚ dass er „wohl sehe‚ wie man es anfangen muß‚ um den größten Teil jener zur Wirkung zweckdienlichen Experimente zu machen“ (Abh.‚ S. 61)‚ führt aber nicht im Einzelnen aus‚ wie man mit einer solchen Methodologie sicher die Wahrheit würde finden können. Das kann nicht wirklich überraschen; denn grundsätzliche Zweifel an der Erkenntnismöglichkeit des Menschen können für ihn auch in der empirischen Forschung nicht mehr aufkommen: Zu kategorisch hatte er diese Zweifel vorher in dem metaphysischen Teil seiner Erkenntnistheorie mit dem Vertrauen auf Gott beiseitegeschoben.

       2. Vertiefung der Erkenntnistheorie nach den Meditationen

      1641‚ vier Jahre nach seiner Abhandlung‚ erscheinen seine Meditationen über die Grundlagen der Philosophie42 - ebenfalls ein kleines Werk von nur ungefähr 80 Seiten. Indem Descartes den Themenkreis seiner Abhandlung wieder aufgreift‚ will er noch einmal die „Fragen über Gott und die menschliche Seele und zugleich die Grundlagen der ganzen Philosophie behandeln“ (Med.‚ S. 29). Mit den „Grundlagen der ganzen Philosophie“ sind die Fundamente der Wahrheitserkenntnis gemeint. In der zweiten Meditation betont Descartes zunächst seine Absicht‚ sich von den bisher üblichen Begriffserörterungen zu verabschieden. Er schreibt: „Wofür habe ich mich bisher gehalten? - Für einen Menschen. - Aber was ist der Mensch? Soll ich sagen: ein vernünftiges Tier? - Nein; denn ich müßte dann untersuchen‚ was ein Tier und was vernünftig ist‚ und so geriete ich aus einer Frage in mehrere und schwierigere. Auch habe ich nicht so viel Muße‚ um sie mit solchen Spitzfindigkeiten zu vergeuden; vielmehr will ich lieber betrachten‚ was von selbst und unter Leitung der Natur meinem Denken bisher aufstieß‚ so oft ich mich selbst betrachtete.“ (Med.‚ S. 42.) Descartes will seine Zeit also nicht mit Spitzfindigkeiten wie begrifflichen Wesensbestimmungen in Form von Was-ist-Fragen vergeuden. Wahrnehmbare Aspekte des Seins treten bei ihm deutlich in den Vordergrund und verdrängen reine Begriffserörterungen. Lange vor Hume und Kant und wie diese ist Descartes überzeugt‚ dass erfahrungsunabhängiges Denken‚ also „reine“ Metaphysik‚ nicht sicher zu wahren Erkenntnissen über die Welt führen kann.

      Descartes beschäftigt sich auch in den Meditationen ausführlich mit seinem zentralen Satz ich denke‚ also bin ich. Am Ende einer längeren Betrachtung der Erkenntnismöglichkeiten am Beispiel einer realen Sache‚ nämlich des Wachses‚ fasst Descartes die Quintessenz seiner Überzeugung zusammen: „ … [E]s kann sein‚ daß das‚ was ich sehe‚ nicht wirklich Wachs ist; es ist selbst möglich‚ daß ich keine Augen habe‚ durch welche etwas gesehen wird; aber es ist unmöglich‚ daß‚ wenn ich sehe oder (was ich nicht für verschieden halte) wenn ich zu sehen denke‚ ich nicht selbst ein denkendes Etwas bin.“ (Med.‚ S. 48.) Und nur ein paar Seiten weiter‚ in der dritten Meditation‚ schreibt er: „ … [W]ie ich früher bemerkt habe‚ ist vielleicht das‚ was ich vorstelle und wahrnehme‚ nichts außerhalb meiner; aber dennoch bin ich gewiß‚ daß jene Arten des Denkens‚ die ich Wahrnehmung und bildliches Vorstellen nenne‚ als Arten des Denkens wenigstens in mir sind.“ (Med.‚ S. 50.) Descartes lässt also alle möglichen Zweifel an konkreten Wahrnehmungen zu‚ selbst Zweifel an der Existenz seiner Wahrnehmungsorgane. Aber er hat keinen Zweifel daran‚ zu sein‚ wenn er denkt zu sehen oder denkt zu sein. Man sieht: Es geht hier nicht um Wahrheit oder Falschheit einzelner Wahrnehmungen. Descartes bewegt sich mit diesen Überlegungen nicht auf der