Mr. Scheider saß hinter dem Steuer und wischte sich mit der linken Hand den Schlaf aus den Augen. Er war seit gestern Abend unterwegs. In den frühen Morgenstunden war er in Des Moines losgeflogen und hatte sich am Nachmittag mit Mr. Brook hier in New York getroffen. Alles musste schnell gehen. Nun saßen beide im Wagen der Organisation und warteten. Sie hatten sich bisher selten gesehen, aber sie waren sich von Beginn an sympathisch gewesen. Das lag vor allem an ihrem Beruf.
Mr. Brook öffnete das Handschuhfach. In der Regel machte die Organisation keine Fehler, wenn sie einen Wagen zur Verfügung stellte. Aber Mr. Brook machte noch viel weniger Fehler. Was daran lag, dass er alles überprüfte. Das Handschuhfach beinhaltete nur zwei paar Lederhandschuhe. Die Handschuhe nahm er heraus und zog sie an. Das andere Paar gab er Mr. Scheider. Mr. Brooks drückte auf einen nicht sichtbaren Knopf an der Verkleidung und aus dem Bereich, wo ansonsten der Beifahrerairbag verstaut wurde, glitt ein zweites Handschuhfach an die Stelle des ersten. Mr. Brooks nickte zufrieden. Es war alles da, so wie er es bestellt hatte. Sogar die Größe der Latexhandschuhe stimmte. Mr. Brook war, soweit er wusste, der Einzige, der die Größe S benötigte. Er hatte die kleinsten Hände der ganzen Organisation, aber zweifelsfrei auch die geschicktesten und ruhigsten. Er nahm einen Umschlag heraus. Er tippte das Fach zweimal an, woraufhin es wieder nach oben fuhr. Er hatte noch etwas Zeit.
Mr. Brook öffnete den Umschlag und holte zwei Schwarzweißfotos hervor. Eins gab er Mr. Scheider. Jeder von ihnen betrachtete ca. 20 Sekunden lang das jeweilige Bild und dann tauschten sie.
Mr. Brook meinte: »Sie sieht ganz gut aus. Ungewöhnlich!«
»Elle est deja mort.«
»Was?«
»Es hat keinen Sinn sie attraktiv zu finden. Sie ist bereits tot.«
»Ich meine ja auch nur, dass sie normalerweise nicht so hübsch sind. Wo liegt eigentlich Des Moines?«, fragte Mr. Brooks.
»In Iowa. Ich komme aber nicht von dort. Ich war auf der Durchreise und hatte dort geschäftlich zu tun.«
»Erfolgreich?«
Mr. Scheider schaute vom Bild auf, wandte sich zu Mr. Brook und hob kaum merklich die rechte Augenbraue.
»Verstehe«, sagte Mr. Brook. Er nahm die beiden Bilder wieder an sich und steckte sie in den Umschlag. Dieses Gesicht war leicht aus einer größeren Menge herauszufinden. Den Umschlag steckte er in die Innentasche seines grauen Anzugs und prüfte aus den Augenwinkeln die Uhrzeit auf dem Armaturenbrett. Er mochte keine Armbanduhren, sie behinderten ihn bei der Arbeit. Mr. Brook musste die Handgelenke frei haben. In zwei Minuten war das Theater aus. Im Kopf rechnete er die Zeit für Garderobe und Smalltalk hinzu. Noch kein Grund nervös zu werden.
Auch Mr. Scheider wirkte gelassen. Mit der rechten Hand fasste er sich an die linke Brust. Die Zigaretten waren noch da. Er griff nach dem Lenkrad. Mr. Scheider hatte ein Allerweltsgesicht. Man konnte es sich stundenlang ansehen, aber nach fünf Minuten hatte man es wieder vergessen. Das war von Vorteil.
Beide zogen gleichzeitig die Lederhandschuhe aus und lächelten deswegen kurz. Es war das einzige Mal, dass man sie an diesem Abend lächeln sah. Mr. Brook legte die Handschuhe wieder ins Handschuhfach und ließ die Klappe offen.
Wortlos blickten sie durch die Windschutzscheibe.
Miss Swanson hatte den Abend nicht sonderlich genossen. Sie war mit ihren Gedanken immer noch bei ihrer Arbeit.
Der Name ›Miss‹ Swanson war etwas irreführend. Eigentlich hatte sie eine Professur am Institut für Archäologie und Geschichte. Aber heute Abend war sie nur Miss Swanson. Peter hatte sie vorgestern angerufen und gesagt, dass er sich nach einer anderen Frau umschauen würde, wenn sie nicht sofort zurückkomme. Natürlich hatte er nur gescherzt. Aber da sie nicht ganz sicher war, hatte sie sich in den ersten Flieger gesetzt und war nach drei Monaten aus Mexiko zurück in ihre Heimatstadt New York geflogen. Arbeit war gut und schön. Aber Alleinsein war furchtbar.
Peter hatte sie in ein nettes Restaurant geführt und ein Candlelight-Dinner bestellt. Anschließend der Theaterbesuch und was jetzt kam, sollte der Höhepunkt des Abends werden. Sie freuten sich beide darauf.
Aber ihre Gedanken kreisten noch immer um die Gegend von Tiahuanaco und die Olmeken. Dort beschäftigte sie sich gerade mit Ausgrabungen. Und was für welchen! Es war das erste Mal, dass sie nicht über ihre Arbeit sprechen durfte. Es war schwierig gewesen einen freien Tag zu bekommen. Nur durch den guten Draht zum Missionsleiter hatte sie es geschafft. Ihre Arbeit wurde vom Militär finanziert. Genau genommen durfte sie nur über eine Sache nicht sprechen. Etwas, das sie bei El Rincon im Hochland von Guerre gefunden hatte. Die Einheimischen nannten die dort existierenden Schutthügel ›las tinajas de los ídolos‹. Der mexikanische Führer hatte ihr gesagt, dass das ›Krüge der Götter‹ bedeutete. Jetzt wusste sie warum.
»An was denkst du?«, fragte Peter plötzlich.
Professor Swanson legte 3500 km in einer Sekunde zurück, schaute ihm ins Gesicht und antwortete: »An dich natürlich!«
Peter lächelte: »Nun, zumindest solltest du das. Es ist trotzdem schön, dass du gekommen bist. Also, körperlich jedenfalls.«
»Tut mir Leid. Aber ich bin gerade an einer ziemlich großen Sache dran. Ich werde versuchen nicht mehr daran zu denken.«
»Nun, vielleicht kann ich dich gleich ein wenig davon ablenken.«
»Bestimmt!«, sagte sie lächelnd. Sie legte ihren Kopf schief und zwinkerte.
»Hat dir das Theaterstück gefallen?«, fragte Peter.
»Ehrliche Antwort?«
»Ja, ich fand es auch nicht so toll. Dr. Miller hat es mir empfohlen. Vielleicht sind wir einfach zu alt für so etwas.«
Sie waren beide alt genug, um offen darüber zu sprechen. Professor Katie Swanson war 52 und Dr. Peter Bodaibo 53.
Sie lachte und sagte: »Na, ich weiß nicht. Ich glaube, wir sind noch ganz frisch.«
»Auf jeden Fall siehst du ganz bezaubernd aus.«
Und das tat sie wirklich.
»Okay, da kommt sie!«, sagte Mr. Scheider.
»Ich sehe sie.«
»Fünfundvierzig Sekunden von jetzt an«, sagte Mr. Scheider mit Blick auf seine Armbanduhr.
Mr. Brook griff in die Seitenwand und das zweite Handschuhfach glitt erneut herunter. Er zog sich in aller Ruhe die Latexhandschuhe an. Mr. Brook öffnete ein kleines Schmuckkästchen. Darin fand er einen runden, porösen Stein mit einem Durchmesser von etwa einem Zentimeter. Mit der linken Hand griff er nach einer weißen Kunststoffflasche und mit der rechten nach einer Pinzette. Er öffnete die Flasche und legte den Deckel zur Seite.
Mr. Scheider tastete noch einmal seine linke Brust nach den Zigaretten ab und stieg aus. Er ging auf die Kreuzung zu. Die Theaterbesucher kamen ihm entgegen.
Mr. Brooks hatte den Stein mit der Pinzette eingefangen und hielt ihn für ein paar Sekunden in den aus der Flasche aufsteigenden Nebel. Schließlich stellte er die Flasche zur Seite und steckte den Stein in das letzte Utensil aus dem geheimen Handschuhfach: Ein Blasrohr.
Mr. Scheider hatte die Zielperson erreicht und fragte: »Entschuldigung, haben Sie Feuer?« Dabei stellte er sich so hin, dass Mr. Brook freie Schussbahn hatte. Mr. Brook konnte auch gehende Personen auf diese Entfernung treffen, aber er vermied Risiken.
»Nein, ich rauche nicht«, sagte