Schattenklamm. Mia C. Brunner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mia C. Brunner
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839249604
Скачать книгу
Handy steckte.

      »Hallo?«, meldete sie sich ganz neutral, denn auf dem Display erschien keine Nummer. Der Anrufer war ihr also vermutlich nicht bekannt, und Jessica wollte unbekannten Anrufern nicht auch gleich ihren Namen verraten.

      »Ich bin’s.« Eine Männerstimme meldete sich leise aus dem Telefon. Im Hintergrund rauschte es laut.

      »Wer ist ›ich bin’s‹?«, fragte Jessica und spürte bereits wieder, wie Wut in ihr aufkochte. Dieser Tag, der eigentlich ruhig und besinnlich sein sollte, hatte eine Wendung genommen, die ihr gar nicht gefiel. Und weil sie nichts an ihrer Situation bessern konnte, war sie einfach nur genervt und ungnädig.

      »Martin Hansen«, gab der Mann an und Jessica erkannte ihn sofort. »Hallo, Jess. Du wunderst dich sicher, dass ich anrufe.«

      Der beste Freund ihres verstorbenen Schwagers Wolfgang war immer ein gern gesehener Gast auf jeder Familienfeier, jeder Party und jedem Sofa-Fernsehguck-Wochen­ende gewesen. Er gehörte beinahe schon zum Inventar der Wohnung. Doch seit dem Tod von Wolfgang hatte er sich nicht mehr bei den beiden Schwestern gemeldet. Bei der Beerdigung hatten sie ihn das letzte Mal gesehen. Jessica verstand damals sogar die Distanz, die er aufbaute. Martin Hansen fühlte sich genauso schuldig am Tod seines Freundes wie auch Jessica sich schuldig fühlte, den Mord nicht aufklären zu können. Außerdem war er schließlich hauptsächlich Wolfgangs Freund gewesen und nicht ihrer oder der ihrer Schwester. Doch warum meldete er sich ausgerechnet jetzt?

      »Martin? Das ist aber jetzt eine Überraschung«, staunte sie deshalb wirklich überrascht. »Was gibt es? Wie geht es dir denn? Du hast dich lange nicht gemeldet.« Doch es war kein Vorwurf in ihren Worten. Sie freute sich wirklich, seine Stimme zu hören.

      »Stimmt. Tut mir auch leid«, stammelte er und seine leise Stimme übertönte kaum das laute Rauschen im Hintergrund.

      »Sitzt du im Auto?«, fragte Jessica, schaute sich dann aber beinahe ertappt zu den beiden Beamten um, die immer noch an ihrem Esstisch saßen.

      »Nee … ja, schon. Aber ich stehe auf einem Rastplatz an der Autobahn. Ganz schön laut hier«, bestätigte Martin, der ihre Frage richtig gedeutet hatte.

      »Ach, du stehst auf dem Rastplatz«, wiederholte Jessica betont laut und deutlich und grinste dann in Richtung Wohnzimmer. Hauptkommissar Forster grinste zurück, Kommissar Willig nickte anerkennend.

      »Ja«, sagte Martin Hansen und sprach seinerseits jetzt auch etwas lauter. Er vermutete wohl eine schlechte Verbindung, weil Jessica beim Sprechen beinahe schrie. »Ich bin auf dem Weg nach Kempten … also eigentlich nach Österreich. Ähm, ich dachte, wir könnten uns sehen und ich mache hier einfach eine Nacht Pause.«

      »Suchst du einen Platz zum Schlafen? Du weißt, du bist bei uns jederzeit willkommen«, verkündete Jessica fröhlich und freute sich bereits jetzt auf ein Wiedersehen mit Martin.

      »Nee, danke«, gab ihr ehemaliger Kollege zurück. »Ich hab mich schon um eine Pension bemüht. Danke trotzdem für dein Angebot. Hast du heute Abend Zeit?«

      Verwundert starrte Jessica auf den großen Garderobenspiegel im Flur. Dieser Besuch war also geplant und keine spontane Entscheidung, wie sie erst vermutet hatte. Doch vorerst würde sie sich auf ein Treffen einlassen. Martin würde schon mit der Sprache rausrücken, wenn sie ihm erst einmal gegenübersaß.

      »Komm heute Abend doch in den ›Feuertempel‹ in der Innenstadt. Ich arbeite dort, finde aber sicher ein paar Minuten, um mit dir zu quatschen. Im Anschluss können wir dann ja noch woanders hingehen, wenn du magst«, schlug sie vor, beendete dann nach wenigen weiteren Sätzen das Gespräch und ging zurück zu den beiden Beamten an ihrem Esstisch.

      »Vielleicht war dieser Herr Vollmer, der Ermordete, ein Bekannter meines verstorbenen Schwagers«, sinnierte Jessica nachdenklich und ließ sich auf ihrem alten Platz am Esstisch nieder. Die Sache war äußerst mysteriös und warf so viele Fragen auf. »Wie viele Gespräche wurden denn mit der Hamburger Nummer geführt? Und vor allem … wann und wie lange wurde telefoniert?« Fragend sah Jessica erst Herrn Forster, dann Herrn Willig an.

      »Meine liebe Frau Grothe«, erklärte Hauptkommissar Forster mit einem weisen und überheblichen Lächeln auf seinen Lippen. »Sie können sicher ganz wunderbar Bestellungen aufnehmen und ganz ausgezeichnet bedienen«, sagte er arrogant. »Mein Kollege und ich konnten uns von letzterem höchst persönlich überzeugen. Doch bitte, versuchen Sie nicht, sich Gedanken über etwas zu machen, von dem Sie überhaupt keine Ahnung haben.« Der Beamte erhob sich gemächlich vom Stuhl und sein Kollege Willig tat es ihm eifrig und ein wenig hektisch gleich.

      »Machen Sie Ihre Arbeit und wir unsere, okay?«

      Jessicas Blicke waren unerbittlich und wütend, doch sie schwieg und blieb sitzen.

      »Ich erwarte Ihre Schwester morgen um 10 Uhr auf der Wache«, bestimmte der Hauptkommissar ernst und Jessica vermutete, dass er selten keinen Erfolg mit diesen Befehlen hatte. Er wirkte in diesem Moment respekteinflößend und stark. »Ich werde auch Frau Reuter zu der Telefonnummer befragen müssen. »Als Jessica immer noch keine Reaktion zeigte, lächelte Florian Forster wieder überheblich.

      »Ich finde auch allein hinaus, bleiben Sie ruhig sitzen, Frau Grothe. Vielen Dank für Ihre Mühen und das Gespräch.«

      Mit diesen Worten verschwand er durch die Haustür, ohne sich noch einmal umzudrehen, und nahm seinen Kollegen mit, der wie sein Schatten an ihm klebte.

      Kapitel 4

      Die kühle Oktoberluft und der leichte Nebel, der über den Wiesen aufstieg, tauchte die Landschaft in eine beruhigende Herbstidylle. Jessica Grothe lief entspannt, doch mit großen kräftigen Schritten am Ufer des Bachtelweihers entlang und genoss die Ruhe ebenso wie den leichten Nieselregen, der ihr ins Gesicht wehte und ihre aufgeheizte Haut etwas abkühlte. Beim Joggen im Freien konnte sie am allerbesten nachdenken. Das war schon immer so. Noch als Schülerin hatte sie mit diesem Sport begonnen und besonders vor schwierigen Klassenarbeiten hatte ihr die Muskelanstrengung und die frische Luft Entspannung und Energie gebracht. Nach dem ereignisreichen gestrigen Tag und dem Treffen mit Martin in der Kneipe konnte sie in der Nacht kaum schlafen, also hatte sie sich gleich, als es draußen wieder hell wurde, ihre Laufschuhe übergezogen und hatte das Haus noch vor den Kindern, und noch bevor ihre Eltern wach wurden, verlassen. Jetzt lief sie bereits seit eineinhalb Stunden und war auf dem Heimweg.

      Es war schön gewesen, ihren ehemaligen Hamburger Kollegen Martin Hansen wiederzusehen. Er war auf der Durchreise nach Österreich gewesen, wo er seinen Urlaub bei den Schwiegereltern seiner Arbeitskollegin Renate verbringen wollte, und hatte sich kurzfristig entschieden, Jessica zu besuchen. Es fiel ihm anfangs unheimlich schwer, sein schlechtes Gewissen zu verbergen, und Jessica wusste nur zu genau, wie er sich fühlte. Auch sie hatte nach Wolfgangs Tod in Hamburg alle Kontakte abgebrochen und selbst gute Freunde nicht mehr an sich herangelassen. Jeder, der Wolfgang näher gekannt hatte, trug sein Päckchen und musste sehen, wie er mit diesem Verlust klarkam und ohne Wolfgang weiterleben konnte. Martin hatte Jessica berichtet, dass es nach wie vor noch keine weiteren wichtigen Erkenntnisse im Mordfall Reuter gab und die Ermittlungen immer träger verliefen. Die Polizei konzentrierte sich wieder mehr auf aktuelle Kriminalfälle und Wolfgangs Fall würde wohl als ungelöst in die Geschichte eingehen und in den unzähligen Akten im Keller der Dienststelle verschwinden.

      Wie von allein liefen Jessicas Beine, und das dumpfe Trampeln ihrer Füße auf dem befestigten Schotterweg, der um den See herumführte, war neben dem leichten Sausen des Windes das einzige Geräusch um sie herum. Gleich würde sie wieder ein Stück an der Straße entlanglaufen müssen, dann ein kurzes Stück durch ein Wohngebiet und in weniger als 10 Minuten würde sie wieder zu Hause sein.

      Der Besuch der zwei Beamten vom Vortag war ein weiteres Mysterium, mit dem sich Jessica während ihrer Joggingrunde beschäftigte. Nach wie vor war es ihr ein absolutes Rätsel, warum dieser ihr völlig unbekannte Mann, der so kaltblütig am letzten Samstag auf dem Baumarktparkplatz erschossen wurde, ausgerechnet ihre Hamburger Telefonnummer in seinem Handy gespeichert hatte. In der Montagsausgabe der Regionalzeitung war sogar ein Foto von diesem Herrn Vollmer abgebildet worden. Dieser