»Unfall«, platzte Florian verächtlich heraus, fing sich aber schnell wieder. »Ihre Frau war letzte Woche im Krankenhaus und eine der Krankenschwestern hat aufgrund der vielen alten Verletzungen die Kripo eingeschaltet, wegen Verdachts auf häusliche …«
»Aber das verstehe ich nicht«, wiederholte der Ehemann und legte seine inzwischen schlafende Tochter neben sich auf ein großes Kissen auf der Eckbank und seine große Hand auf den Bauch des Babys, damit es nicht hinunterfallen konnte. »Ulrike war im Krankenhaus? Davon wusste ich nichts. War die Verletzung so schlimm?«
»Das müssten Sie am besten wissen, Herr Hildebrandt. Wo ist Ihre Frau jetzt? Ich würde mich gern davon überzeugen, dass es ihr gut geht.«
»Sie schläft schon. Es war ein anstrengender Tag«, sagte Herr Hildebrandt und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Sie glauben, ich habe meine Frau die Treppe hinuntergestoßen?« Er sah verzweifelt aus.
»Nein«, erwiderte der Hauptkommissar, zog einen der Stühle unter dem Tisch hervor, drehte ihn um und platzierte ihn direkt neben dem Mann. Dann setzte er sich, die Rückenlehne zwischen seinen Beinen, und legte die verschränkten Arme auf das kunstvoll geschwungene und mit Blumen verzierte Holz der Lehne. »Ich glaube, Sie benutzen Ihre Ehefrau regelmäßig als Punchingball. Sie hat so große Angst vor Ihnen, dass sie Sie nicht anzeigt. Doch lassen Sie sich eins von mir sagen: Ich verachte Männer, die ihre Frauen verprügeln, und ich werde alles in meiner Macht Stehende dafür tun, Sie hinter Gitter zu bringen. Und jetzt möchte ich mit Ihrer Frau sprechen, Herr Hildebrandt.«
»Nein«, hielt der Familienvater dagegen, wenn auch sehr leise. Er wirkte plötzlich gar nicht mehr groß und gefährlich, sondern war mit leerem, traurigem Blick verzweifelt in sich zusammengesunken. »Meine Frau schläft. Kommen Sie bitte morgen wieder, Herr Hauptkommissar. Ich bringe jetzt meine Tochter ins Bett.«
Da sie keine rechtliche Grundlage hatten, das Gebäude zu durchsuchen oder mit der verletzten Frau zu sprechen, mussten Hauptkommissar Forster und sein Kollege Willig das Haus und das Grundstück verlassen. Florian war mehr als frustriert. Außerdem befürchtete er, die junge Ehefrau mit seinen zurzeit völlig haltlosen Behauptungen und der Drohung gegen diesen Hildebrandt erst recht in Gefahr gebracht zu haben. Was, wenn der Mann nun aus unterdrückter Wut erneut auf seine Frau losging? Ob er sich auch an dem kleinen Kind vergriff? Oder war er tatsächlich so friedlich, wie er sich gab? Vielleicht war die Frau wirklich nur die Treppe hinuntergefallen? Dem Aussehen ihrer Verletzungen nach zu urteilen, war das allerdings nahezu unmöglich. Es sei denn, ein solcher Treppensturz kam bei ihr häufiger vor.
Als Florian gegen 20 Uhr endlich die Haustür des alten Stadthauses aufschloss, in dem er mit ein paar Jahren Unterbrechung seit seiner Geburt lebte, stolperte er im Flur beinahe über die drei großen Rucksäcke, die für den morgigen Ausflug mit Herbert, Jessica und den Kindern fertig gepackt bereitstanden. Herbert hatte seinen Besuch um zwei weitere Wochen verlängert und würde im Anschluss die beiden Kinder zu Beginn der Sommerferien für drei Wochen mit nach Hamburg nehmen.
Florian und Jessica hatten sich für morgen freigenommen. Der Ausflug war eine Art Abschiedserlebnis mit der gesamten Familie, denn zu einem späteren Zeitpunkt gab es keine Möglichkeit für die beiden Hauptkommissare, einen gemeinsamen freien Tag zu bekommen. Es war Urlaubszeit.
»Ich habe endlich eine gute Idee für Samstagabend«, begrüßte ihn Jessica und zog ihn ins Wohnzimmer. Da ihr Vater noch vor Ort war, wollten Florian und sie am Samstag ihren gemeinsamen Abend von letzter Woche wiederholen. Seit ihrem Streit in der »Skylounge« war sie wie ausgewechselt. Florian wusste aber, dass sich ihr Gemütszustand schnell wieder ändern konnte. Auch war ihm nach wie vor nicht klar, was ihr solchen Stress gemacht hatte und vermutlich immer noch machte. Oder hatte sich ihr eigentliches Problem plötzlich in Luft aufgelöst?
»Na, dann sag. Wo geht es am Samstag hin?« Er hatte ihr die Entscheidung überlassen, und der Grund dafür war mehr als selbstsüchtig, das wusste er. Doch er brauchte nach all ihren Zurückweisungen und Anschuldigungen der letzten Wochen und Monate endlich die Bestätigung, dass ihr etwas an ihrer gemeinsamen Beziehung lag, dass er für sie wichtig war und nicht austauschbar oder gar auslöschbar.
»Die Brauerei Baschtl-Bräu bei Sonthofen feiert ihr jährliches Sommersonnenwend-Fest und ihr zehnjähriges Jubiläum. Dort könnten wir hingehen«, schlug sie vor. »Du trinkst doch gern Bier. Und das Wetter soll super werden am Wochenende.«
»Okay, dann machen wir das. Kommt Paula mit?«
»Ich habe sie noch nicht gefragt«, gab Jessica zu. »Sie hat einen neuen Freund und ich wusste nicht, ob es dir recht ist. Immerhin ist das unser Abend.« Sie sah ihn etwas unsicher an.
Hatte sie die gleiche Angst davor, mit ihm allein den Abend zu verbringen, wie er? Einen solchen Ausbruch wie letzte Woche wollte er so schnell nicht noch einmal erleben. »Frag sie. Und sie soll den Typen mitbringen, den sie sich geangelt hat. Ich frage noch Ewe. Wird bestimmt lustig.«
5
Die Landschaft war atemberaubend.
Das satte Grün der Wiesen leuchtete mit dem strahlenden Blau des Himmels um die Wette. Keine einzige Wolke war zu sehen und die Sonne stand so hoch, dass nicht einmal der imposante Grünten, der sich direkt vor ihnen erhob, viel Schatten auf die malerische Landschaft werfen konnte. Es war das perfekte Wetter für einen Biergartenbesuch, und schon von Weitem konnte man die Blaskapelle und das Lachen der Gäste hören, die am Brauereifest teilnahmen.
Der Weg zum Brauereigelände war einspurig asphaltiert und führte stetig bergauf. Unten hatten die Veranstalter eine Straßensperre und einen kleinen Parkplatz errichtet, um die Gäste davon abzuhalten, mit ihrem Auto direkt zur Brauerei hochzufahren, denn auf dem Brauereiparkplatz neben dem Gebäude waren Bierbänke und Sonnenschirme aufgestellt. Eine Bühne für die Kapelle und ein Bierausschank standen direkt an der Hauswand.
Doch der kleine Parkplatz auf der frisch gemähten Wiese neben der Absperrung war total überfüllt gewesen, als Florian und Jessica ankamen. Sie und Jessicas Freundin Paula mitsamt ihrem neuen Freund hatten aber neben der Burgberger Pfarrkirche noch eine Lücke fürs Auto gefunden. Zum Glück, denn ansonsten hätten sie auf einen der zusätzlich eingerichteten Pendelparkplätze in Blaichach oder Sonthofen ausweichen und auf den Bus warten müssen.
»Warum siehst du mich immer so komisch an?« Jessica zupfte etwas unsicher am Ausschnitt ihres Dirndls herum und blickte verstohlen zu Paula, die es mit ihrem eigenen Dirndl wieder sehr übertrieben hatte. Manchmal dachte Jessica, Paula könnte gleich nackt herumlaufen, das machte kaum einen Unterschied. Obwohl sie selbst in ihrem Dirndl lange nicht so viel Haut und Brust zeigte wie Paula, fühlte sie sich unwohl, auch weil Florian sie nicht aus den Augen ließ.
»Du hast keine Ahnung, wie sexy du aussiehst«, flüsterte Florian ihr ins Ohr, drehte sie zu sich herum und sah ihr tief in die Augen. »Meinetwegen kannst du öfter Dirndl tragen.«
»Ich komme mir darin total verkleidet vor«, gab Jessica zu. »In Norddeutschland sind die Trachtenkleider wesentlich sittsamer. Hochgeschlossen und lang.« Sie wies mit ihrer Hand zuerst auf ihren Hals, um kurz darauf auf ihre Füße zu zeigen. »Richtig lang, fast bis zum Boden.«
»Im Norden gibt es Tracht?«, fragte er, schien aber nicht wirklich interessiert, denn jetzt zog er seine Freundin ganz nah an sich und legte seine Hände auf ihren Hintern. »Herr im Himmel, du siehst nicht nur verdammt heiß aus, du fühlst dich auch gut an. Und du riechst sehr verführerisch.«
»Da drüben wird ein Tisch frei«, hörte er Paula rufen. »Schnell, sonst schnappt sich den ein anderer.« Paula griff nach der Hand ihres Begleiters und lief los, so schnell es in ihren Sandalen mit den hohen Absätzen ging.
Jemand tippte Florian von hinten auf die Schulter.
»Florian? Du hier? Das ist eine Überraschung.« Ein junger Mann in einem dunkelblauen Poloshirt mit dem Logo der Brauerei baute sich grinsend neben Florian auf, der sichtlich genervt von der Störung ein