Jetzt war es Jessica, deren Gesicht ausdruckslos wurde. Sie atmete mehrmals tief ein und aus, blinzelte die aufsteigenden Tränen weg und fragte: »Sollte ich?«
Florian klopfte angespannt mit dem Zeigefinger der flachen Hand auf die weiße Tischdecke, bis er sich darüber bewusst wurde. Dann nahm er seine Hand vom Tisch, legte sie unter dem Tisch auf sein Bein und ballte sie zur Faust.
»Du kennst meine Antwort, Jessy«, sagte er leise und klang verzweifelt. »Aber ich habe eine weitere Frage an dich. Was mache ich falsch?«
»Ich habe nie gesagt, dass du etwas falsch machst«, polterte Jessica. Immer wenn sie sich in die Enge gedrängt fühlte, wurde sie ungehalten und verlieh ihrer Stimme einen scharfen Unterton. Sie versteckte so ihre Unsicherheit.
»Jessy, bitte«, begann er erneut. »Wenn du mir nicht sagst, was ich ändern muss, damit du bei mir bleibst, dann werden wir uns verlieren. Ich komme allein einfach nicht darauf. Nenne es typisch männliche Engstirnigkeit, nenne es Allgäuer Machogehabe, aber ich dachte immer, du gehörst zu mir.« Er schüttelte lächelnd den Kopf, sah jedoch an ihrem Gesichtsausdruck, dass der Versuch, die Situation durch Selbstironie aufzulockern, absolut fehlschlug.
»Ich habe dir einen Heiratsantrag gemacht«, erinnerte Florian sie unnötigerweise an dieses Ereignis vor ein paar Monaten, als sie ihn wortlos hatte abblitzen lassen. »Vielleicht warst du noch nicht so weit, dann tut es mir leid. Da du nach dem schlimmen Vorfall mit deiner Schwester bei mir wohnen geblieben bist, hatte ich die Hoffnung, dass ich dir genauso viel bedeute wie du mir und du deine Zukunft mit mir teilen willst. Ich hab dich lieb, Jessy.« Als er über dem Tisch nach ihrer Hand griff, zog sie sie erschrocken weg.
»Ich würde alles dafür tun, damit du bei mir bleibst, Jessy. Aber ganz ehrlich«, Florian wurde mit jedem Wort leiser, »ich werde dich nicht aufhalten, wenn du unbedingt gehen willst.«
»Es bleibt mir doch gar nichts anderes übrig, als nach Hamburg zu gehen«, brachte sie schließlich heraus. Sie klang, als wäre sie nach einer großen körperlichen Anstrengung total außer Atem.
»Ich verstehe dich einfach nicht, Jessy. Was habe ich falsch gemacht?«, wiederholte er seine erste Frage.
Urplötzlich sprang sie auf, starrte ihn über den Tisch hinweg wütend an und verschränkte die Arme vor der Brust, vermutlich um zu verhindern, dass sie mit ihren Händen aus lauter Verzweiflung die Gläser vom Tisch fegte. »Einmal in deinem Leben«, rief sie laut, »hättest du doch dein verdammtes Ehrgefühl, deine ach so tief in deiner Seele verankerte Moral, deinen beinahe grotesken Gerechtigkeitssinn und dein dummes Heldspielen –«, sie brach ab und holte tief und hektisch Luft. »Warum meinst du immer, genau zu wissen, was gut ist für andere, für mich, für die Kinder? Einmal in deinem Leben hättest du all das außer Acht lassen können. Für mich, wenn du mich doch so sehr liebst, wie du immer behauptest«, fauchte sie verächtlich, drehte sich auf dem Absatz um und schickte sich an, das Lokal zu verlassen, ohne die durch ihren Wutausbruch aufgeschreckten und verwirrten Gäste an den anderen Tischen auch nur eines Blickes zu würdigen.
»Verstehe ich das richtig, Jessy?«, rief er ihr hinterher. »Du wünschst dir, dass ich deine Schwester getötet hätte, anstatt ihr das Leben zu retten? Das wirfst du mir vor?«
»Genau das werfe ich dir vor«, schrie sie, blieb abrupt stehen und drehte sich zu ihm um. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Aber das wäre falsch gewesen, Jessy. Du weißt das. Ich glaube, dass hinter diesen Vorwürfen etwas anderes steckt. Den wahren Grund willst du mir nicht nennen. Wenn du dazu bereit bist, bin ich da«, bot er an. Seine grenzenlose Verzweiflung sah man ihm nicht an.
Sie verließ das Restaurant ohne ihn. Er bezahlte das Essen und die Getränke, spendierte den etwa 20 anderen Gästen als Wiedergutmachung ein Glas Sekt, fuhr mit dem Fahrstuhl zur Tiefgarage hinunter und fand Jessica in seinem Auto sitzend. Sie hatte den Zweitschlüssel benutzt, den sie immer in ihrer Handtasche bei sich trug, genau wie er einen Schlüssel für ihren Wagen besaß.
»Geht es dir besser?«, fragte er ohne den leisesten Vorwurf in seiner Stimme, als er auf der Fahrerseite einstieg und den Schlüssel ins Zündschloss steckte.
Jessica nickte nur stumm und starrte aus dem Fenster.
»Willst du nach Hause?« Er startete den Wagen und lenkte ihn Richtung Ausfahrt.
Dieses Mal schüttelte sie den Kopf.
Die ganze Fahrt über sagte er nichts, bis er nach guten zehn Minuten sein Auto auf den Schotterparkplatz am Bachtelweiher steuerte, den Wagen parkte und den Zündschlüssel aus dem Schloss zog. »Gehst du mit mir spazieren?«
»Gern«, antwortete sie leise. »Was hältst du von Sand?«
»Ähm …« Florian dachte angestrengt nach. »Ja, Sand ist … ähm … toll. Wofür?« Er hatte keine Ahnung, was Jessica von ihm wollte.
»Sand wäre doch die perfekte Wandfarbe für unser neues Wohnzimmer, oder?« Sie lächelte zaghaft, sah dann aber, dass ihr Freund sie verständnislos anstarrte. »Die Farbe sieht aus wie der helle Sand am Nordseestrand, den ich so liebe«, erklärte sie. »Kannst du dir vorstellen, dass wir in unserem Wohnzimmer in Kempten ein bisschen norddeutsches Flair reinbringen, oder kommt das für dich gar nicht infrage?«
»In Kempten?«, brachte er schließlich heraus. »Bei mir in Kempten? Nicht in Hamburg?«
»Nicht in Hamburg.« Sie nickte zur Unterstützung ihrer Worte. »Wenn ich darf, möchte ich gern bei dir bleiben.«
4
Er kam erst am kommenden Donnerstag dazu, die von ihrem Ehemann verprügelte Frau erneut aufzusuchen. Da Ulrike Hildebrandt keine Anzeige erstattet hatte, gab es für Hauptkommissar Forster eigentlich keine Veranlassung, in diesem Fall zu ermitteln. Doch die Sache ließ ihm keine Ruhe. Also fuhr er nach Feierabend zum Haus der Hildebrandts und klingelte kurz vor 18 Uhr an der Haustür. Sein Kollege Berthold begleitete ihn, stand neben ihm und drehte sich immer wieder nervös um.
»Was ist denn mit dir los, Berthold?«, fragte Florian amüsiert und klingelte erneut, als nach fast einer Minute niemand geöffnet hatte.
»Es ist verdammt einsam hier draußen«, flüsterte Berthold angespannt. Das Haus lag weitab am Waldrand in Durach. Das nächste Haus war 100 Meter entfernt. »Wer weiß, ob der Ehemann hier irgendwo rumhängt. Dem passt es bestimmt nicht, dass wir da sind.«
»Aber wir sind doch zu zweit, Berthold«, lachte Florian Forster und klopfte seinem Kollegen aufmunternd an den Oberarm. »Der hat gegen uns beide gar keine Chance.«
Dass er sich mit dieser Aussage etwas zu weit aus dem Fenster lehnte, konnte Florian in diesem Moment noch nicht wissen. Als die Tür aufging, blieb ihm das Lachen jedoch im Hals stecken.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann auf der anderen Seite der Türschwelle. »Warum klingeln Sie ununterbrochen? Ich versuche, meine Tochter ins Bett zu bringen.«
Erst jetzt bemerkte der Hauptkommissar das Baby auf dem Arm des Mannes. Es wirkte auf dem muskulösen Unterarm von Herrn Hildebrandt so klein und unscheinbar, dass Florian es zuerst übersehen hatte. Der Mann war riesig. Zwar vermutlich etwas kleiner als Berthold, der mit seinen über zwei Metern Körpergröße jeden überragte, den Florian kannte, doch dieser Hildebrandt war beinahe so breit wie hoch. Ein riesiger Berg purer Muskelmasse. Die Oberarme könnte Florian mit seinen Händen nicht umgreifen. Kiefer- und Wangenknochen zeichneten sich in seinem Gesicht deutlich ab, die Augen waren dunkel, wirkten fast schwarz. Er trug einen Dreitagebart, und seine etwas zu langen Haare waren ungekämmt, aber er wirkte keinesfalls ungepflegt, nur etwas gestresst. Der Mann war höflich und sah erschreckenderweise sogar sehr freundlich aus.
»Kripo Kempten, Hauptkommissar Forster«, stellte Florian sich vor und zog seinen Dienstausweis aus der Hosentasche. »Ich und mein Kollege Willig wollten uns noch einmal nach Ihrer Frau erkundigen. Immerhin war sie schwer verletzt.«
Herr Hildebrandt sah ihn völlig verdattert an. »Das verstehe