»Jessica wohnt in meinem Haus. Sie hat mein Versprechen, dass ich immer für sie da bin. Die beiden Kinder liebe ich, als wären es meine eigenen. Jessica weiß das. Wir gehören zusammen. Und sie hat einen Ring von mir, mit dem ich ihr einen Heiratsantrag gemacht habe. Indirekt zumindest«, fügte er leise hinzu. »Sie trägt ihn aber nicht. Ich akzeptiere, dass sie nicht heiraten will, doch dass sie hinter meinem Rücken ihren Abgang plant, ist nicht fair.«
Er stand auf, bahnte sich einen Weg durch die Sitzreihe zum Mittelgang und verließ die Turnhalle, ohne sich zu verabschieden.
3
Die einzige Information, die sie bekommen hatten, bevor sie sich auf den Weg nach Missen machten, war die eines Leichenfundes in einem Pensionszimmer eines kleinen Hotels.
Hauptkommissar Detlef Kern und Hauptkommissarin Jessica Grothe trafen etwa zeitgleich mit der Spurensicherung am Tatort ein, stiegen die Stufen zum ersten Stock hinauf und folgten dem Fingerzeig des Hotelbesitzers, der mit versteinerter Miene vermied, sie direkt anzusehen, und immer zwei Schritte hinter den beiden Ermittlern blieb. Ein toter Gast machte sich nicht besonders gut und konnte durchaus den einen oder anderen Pensionsgast dazu veranlassen, den Urlaub in diesem Hotel sofort abzubrechen.
»Wann haben Sie den Mann gefunden?«, fragte Jessica den Hotelbesitzer, während sie versuchte, mit ihrem Kollegen Kern Schritt zu halten. Der lange Flur, durch den sie gingen, schien frisch renoviert. Es roch nach Wandfarbe, und der dunkle Teppichboden sah aus, als wäre er erst kürzlich verlegt worden.
»Der Herr Guggenmoos und seine Frau sind seit fast 14 Tagen unsere Gäste. Sie kommen seit 20 Jahren regelmäßig ins Allgäu und wohnen immer in unserem kleinen Hotel. Sehr nette Leute«, berichtete der Hotelier und blieb abrupt stehen, als Hauptkommissar Kern die verschlossene Zimmertür als Erster erreichte und die Hand auf die Klinke legte. »Die beiden haben gestern nicht am Frühstücksbuffet teilgenommen, was ungewöhnlich war«, sagte er, und seine Stimme wurde bei jedem Wort leiser. »Als sie heute wieder nicht im Speisesaal erschienen, haben wir uns Sorgen gemacht und nach ihnen gesehen.« Er warf einen Blick auf den älteren Hauptkommissar, wandte sich dann ab, lehnte sich rückwärts an die Wand und starrte auf den Boden.
Jessica sah, wie Detlef Kern in das Zimmer schaute, schluckte und sich mehrfach bekreuzigte, bevor er einen Schritt zurückging und sich mit beiden Händen durch sein schütteres Haar fuhr.
»Himmelherrgott«, stöhnte er. »Das ist ja grauenvoll.«
Für das, was Jessica empfand, als sie selbst wenig später das Zimmer betrat, hatte sie keine Worte. Entsetzen und Abscheu trafen es wohl am ehesten.
Der Tote auf dem Bett war in typisch Allgäuer Tracht gekleidet, doch fehlten die Schuhe. Dafür trug er einen Hut mit imposantem Gamsbart. Sein Alter schätzte Jessica auf Mitte bis Ende 60.
Auf dem Weg hierher hatte sie mit ihrem Kollegen Kern über mögliche Todesursachen gemutmaßt. Beide waren zu dem Schluss gekommen, dass ihnen ein natürlicher Tod am liebsten wäre. Wenn er einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten hätte – wenn kein Fremdverschulden vorlag. Aber bei diesem Anblick gab es absolut keinen Zweifel: Das war ein brutaler Mord.
Der Körper des Mannes war übersät mit Schnittwunden. Das ehemals weiße Trachtenhemd hing in Fetzen herunter und war vollgesogen von dunkelroten, inzwischen getrockneten Blutflecken. Nur der breite Mittelsteg der Hosenträger über seiner Brust war nahezu unversehrt und das gestickte Edelweiß darauf hell und sauber. Selbst die typisch grünen Verzierungen auf der dunklen Lederhose konnte man kaum noch erkennen, denn die gesamte Hose war voller Blut und wies trotz des festen Leders einige Schnitte auf. Es wirkte, als hätte der Mann mit einem übergroßen Bären gekämpft, bevor er starb. Doch dann wären die Schnitte nicht so präzise platziert worden. Den gesamten Körper von Herrn Guggenmoos zierten blutige Kreuze – viele Schnitte in seiner Haut, manche kurz und oberflächlich, andere tief bis auf die Knochen.
Der Oberkörper lehnte aufrecht an dem breiten, mit Tierschnitzereien versehenen Kopfteil des Bettes, fixiert vermutlich mit der Tatwaffe. Die breite, lange Klinge eines großen Dolches war tief in seine Kehle gerammt worden, hinten wieder ausgetreten und hatte sich in das Holz gebohrt, genau an der Stelle, an der neben dem Kopf die Schnitzerei eines röhrenden Hirsches hervorschaute. Es sah ein wenig so aus, als würde der durchbohrte Hirsch vor Schmerz stumm aufschreien.
»Scheiße, was ist denn mit dem passiert?« Der Rechtsmediziner Erwin Buchmann erschien in der Zimmertür und blieb beim Anblick der Leiche kurz stehen. Als er sich gefasst hatte, trat er neben Jessica, klopfte ihr zur Begrüßung aufmunternd auf die Schulter und nickte Hauptkommissar Kern zu.
»Der Mann heißt Hans Guggenmoos«, bestätigte Jessica, als sie seinen Ausweis aus der Geldbörse gezogen hatte, die auf der Anrichte unter dem Fenster lag. »Wo ist seine Frau? Der Hotelchef sagte doch, die beiden hätten hier gemeinsam Urlaub gemacht.«
Hauptkommissar Kern zuckte mit den Schultern. In seiner gesamten Polizeilaufbahn hatte er nie eine derart übel zugerichtete Leiche gesehen. Das Schlimmste, was ihm je untergekommen war, war eine mehrere Wochen alte Wasserleiche. Und das lag über 20 Jahre zurück.
»Ist der Mann schon lange tot, Ewe?«, wandte sich die Hauptkommissarin an den Rechtsmediziner, der die Leiche bereits untersuchte.
»Auf jeden Fall länger als einen Tag. Ich würde sagen seit zwei Tagen. Das Blut ist eingetrocknet. Wahrscheinlich kam er vorgestern im Laufe des Tages zu Tode«, überlegte er. »Aber das ist nur grob geschätzt, Jessica. Nimm mich bitte nicht zu wörtlich, bevor ich ihn genauer untersucht habe.«
Jessica nickte.
»Wir sollten das Zimmermädchen und die anderen Gäste befragen, Detlef«, schlug sie vor. »Gibt es hier im Hotel Überwachungskameras?« Als keiner antwortete, ging sie zur Tür, schaute in den Gang und richtete ihre Frage an den Hotelier, der immer noch an die Wand gelehnt etwa drei Meter von der Tür stand. Dieser schüttelte mechanisch den Kopf.
»Meinst du, die Frau ist entführt worden?«, wandte sich Jessica erneut an ihren Kollegen.
Doch Kern, der nach wie vor gebannt auf die Leiche starrte, hob erneut die Schultern.
»Vielleicht war sie es«, sagte er schließlich. »Vielleicht hat Frau Guggenmoos ihren Mann umgebracht und ist jetzt untergetaucht. Wir sollten sie zur Fahndung ausschreiben. Schau zusammen mit dem Hotelier, ob du im Handy des Toten ein Foto seiner Frau findest, das wir verwenden können. Er weiß, wie sie aussieht.« Jessica sah sich suchend um, fand aber kein Handy. Vielleicht war es in einer Schublade.
»Willst du behaupten, dass die Ehefrau die Mörderin ist, Detlef? Das ist doch unmöglich, oder Ewe?«, fragte Jessica und winkte einen Kollegen der Spurensicherung heran, der ihr die Schubladen der Anrichte unter dem Fenster öffnen sollte. Im Gegensatz zu ihr trug er Latexhandschuhe.
Der Rechtsmediziner Erwin Buchmann sah von dem toten Herrn Guggenmoos auf und Jessica direkt in die Augen. »Du meinst, weil das Festtackern am Bettgestell mehr Kraft benötigt, als eine schwache Frau aufbringen kann?« Er grinste. »Sie hätte einen Vorschlaghammer verwenden können, um den Dolch durch Kehle und Holz zu treiben. Die Klinge ist fast fünf Millimeter dick, die hätte sich dabei nicht verbogen. Im Übrigen hätte vermutlich auch ein männlicher Täter Hilfsmittel gebraucht. Das Bett ist aus tropischem Hartholz. Da braucht man viel Wumms, um etwas darin zu versenken.«
»Verstehe«, murmelte Jessica. »Ich glaube das trotzdem nicht!«
Die zwei Schubladen waren leer.
»Wenn wir die Frau gefunden haben, wissen wir mehr«, bemerkte Kern, drehte sich um und verließ das Hotelzimmer. »Ich befrage das Personal«, rief er noch aus dem Flur. »Du treibst ein Foto der Frau auf und leitest die Fahndung ein.«
»War das Durchstoßen der Kehle die Todesursache?«, wollte Jessica vom Rechtsmediziner wissen, während sie suchend durch das Zimmer streifte, ohne dabei die anwesenden Beamten der Spurensicherung zu stören. In der Brieftasche