Das war das Letzte, was Husak hören wollte. Voll Panik hatte er seine Jacke und seinen Hut gepackt und die Flucht ergriffen.
Er kam auf einen weiten Platz, in dessen Mitte sich eine riesige, mit Schiffen verzierte Säule befand. Auf ihr stand die Skulptur eines Mannes mit Rauschebart und Marschallstab in der Hand. »›Wilhelm von Tegetthoff‹«, las Husak am Sockel und zuckte mit den Achseln. Irgend so ein österreichischer Militär. Hinter dem Tegetthoff-Denkmal erstreckte sich ein gewaltiges Bauwerk im neugotischen Stil. Neugierig ging Husak darauf zu. Es herrschte reges Kommen und Gehen. Plötzlich pfiff eine Lokomotive. War das ein Bahnhof? Husak beschleunigte seinen Schritt. Vielleicht war das ein Wink des Schicksals und es ging ein Zug nach Prag? Seine Hände wurden feucht, und im Laufschritt stürmte er in die riesige Halle. Er erstarrte. Ja, er war am Bahnhof. Am Nordbahnhof, wie er las. Von hier gingen Züge nach Prag. Was seine freudige Erregung aber augenblicklich abwürgte, war die Tatsache, dass sich in der Bahnhofshalle nicht nur zahlreiche Uniformträger, sondern auch eine Gruppe Feldgendarmen aufhielten. Ausgerechnet vor den Kassen! Er beobachtete sie eine Zeit lang, bis ihn plötzlich einer der Feldgendarmen scharf ansah. Husak wendete seinen Blick ab, machte auf dem Absatz kehrt und verließ gemächlichen Schrittes den Nordbahnhof. Sobald er draußen war, begann er zu rennen. Himmel! Herrgott! Hoffentlich verfolgte ihn der Feldgendarm nicht. Im Zickzack hastete er durch die Menschengruppen, die sich am Praterstern aufhielten. Erst bei den Vergnügungsbuden des Wurstelpraters verlangsamte er seinen Schritt. Nicht, ohne sich ständig umzudrehen und zu schauen, ob ihm jemand folgte. Schließlich atmete er tief durch und begann, entspannt zu schlendern. Er hatte gehört, dass es hier eine Dame ohne Unterleib gäbe. »Gehen S’, die gibt es schon lang nicht mehr«, grantelte ein alter Mann, den er fragte. »Die arbeitet jetzt wahrscheinlich in einer Munitionsfabrik.« Auch die berühmt-berüchtigten Ausrufer vor den Praterbuden waren verschwunden. Statt ihrer standen schwächliche, traurige Burlis vor den Attraktionen, denen es weder gelang, das Publikum zu animieren, noch zu unterhalten. Na ja, die Männer, die das einst gemacht haben, befinden sich wahrscheinlich in einem Schützengraben oder bereits im Grab, räsonierte Husak, während er durch einen melancholisch gewordenen Wurstelprater schlenderte. Lärm, Gedränge, Übermut und überschäumende Lebensfreude, von denen er so oft gehört hatte, waren nirgends zu finden. Ziellos wanderte er umher, doch die von ihm gesuchten Lustbarkeiten fand er nicht. Etliche Buden waren geschlossen, eigentlich hatte er sich den Wurstelprater amüsanter vorgestellt. Seine Enttäuschung reagierte er beim Watschenaff’72 ab. Mit voller Kraft verabreichte er ihm ein paar saftige böhmische Ohrfeigen. Dabei dachte er an den Oberleutnant Weissenbacher und den Major Novotny. Schließlich gelangte er zu einem Gastgarten, der rundum von einem Holzzaun umgeben war. Hinter der Abzäunung erklang laute Musik. Zwischen den Holzlatten war an einer Stelle eine Lücke, vor der sich eine Schar zerlumpter Kinder drängte, die neugierig hineinspähte. Na bitte! Musik, Spektakel, Attraktionen. Endlich hatte Husak einen Ort gefunden, wo er sich amüsieren konnte. Er zahlte Eintritt und schlenderte in den weitläufigen Gastgarten, in dem unzählige Holztische mit Bänken standen. Etwa die Hälfte war besetzt. Vor allem vor der Bühne des Etablissements drängten sich die Menschen. Husak suchte sich einen Platz, von dem aus er eine gute Sicht hatte. Auf der Bühne klimperte ein verhungert aussehendes Mädchen auf Klaviertasten herum. Husak bestellte ein Krügel Bier, sie führten hier Pilsner Urquell, und lauschte der Pianistin. Na ja. Er hatte in seinem Leben schon virtuoseres Klavierspiel gehört. Aber nach über vier Jahren Krieg war er mittlerweile gewohnt, sich mit dem zu begnügen, was er vorgesetzt bekam. Das Bier wurde serviert und Husak nahm einen großen Schluck. Nach seiner Flucht aus dem Nordbahnhof, bei der er beträchtlich ins Schwitzen gekommen war, war es ein besonderer Genuss.
Plötzlich überkam ihn Heimweh. Er dachte an Prag und an sein Lieblingsbeisl. Beim Gedanken an das dunkle Prager Bier, das dort gezapft wurde, traten ihm die Tränen in die Augen. Vor allzu großer Sentimentalität bewahrte ihn das Programm, das nun auf der Bühne begann. Es war dumm und derb, aber trotzdem eine willkommene Ablenkung. Husak trank sein Bier aus, und da ja laut Verordnung nur ein Krügel pro Gast ausgeschenkt werden durfte, bestellte er sich nun ein Viertel Wein. Der Wein schmeckte ihm, die Sonne blinzelte durch das Blätterdach der Bäume des Gastgartens, und plötzlich schien alles nicht mehr so schlimm zu sein. Er hatte noch immer genügend Geld in der Tasche und er wusste nun, von wo die Züge nach Prag abfuhren. Seine Gedanken schweiften ab, und er überlegte, wie lang er schon keine Frau mehr gehabt hatte. Er erinnerte sich an seinen letzten Besuch im Feldbordell. Eine ziemlich degoutante Angelegenheit! Und es wurde ihm klar, warum ihn die Zenzi so abstieß. Sie hatte nämlich Ähnlichkeit mit der Hure im Feldbordell. Husak lächelte versonnen. Sein Gehirn spielte ihm seltsame Streiche. Er nahm einen kräftigen Schluck Wein und merkte zu seiner Verwunderung eine gewisse Erregung, die sich bei all diesen Gedanken eingestellt hatte. Vielleicht sollte er doch noch auf Zenzis Angebot eingehen? Augen zu und durch. Nachher würde ihm sicher leichter sein. Er leerte sein Weinglas und bestellte beim Ober ein weiteres. Na servus, der hatte Plattler73! So was hatte er noch nie gesehen. Kein Wunder, dass der Kerl nicht an der Front war. Und während er auf sein Viertel Wein wartete, fiel ihm ein junges Mädel auf, das ganz am Rand alleine an einem Holztisch saß. Vor ihr stand ein Himbeerkracherl, von dem sie aber nicht trank. Ein zartes junges Ding mit blondem Haar und unendlich traurigem Gesicht. Je länger Husak sie beobachtete, desto mehr rührte ihn ihr Anblick. Ein junges Mädel! Sakra! Alleine an einem Tisch in einem Etablissement im Wurstelprater. Wie eine Dirne sah sie nicht aus. Eher wie ein Waisenkind. Ein zartes, elfengleiches Wesen. Kein g’standenes Weib, das mit allen Wassern gewaschen war. Diese Mischung aus Unschuld und Weiblichkeit zog ihn an. Als der Ober ihm sein Viertel brachte, bestellte er für sie ebenfalls ein Viertel. Ungeduldig wartete er, bis der Ober es ihr servierte. Sie wehrte zuerst ab. Der Ober erklärte ihr aber, dass das eine Einladung des Herrn sei, der da vis-à-vis sitze. Husak erhob sein Glas und prostete ihr zwinkernd zu. Kurz erhellte ein Lächeln ihr melancholisches Gesicht, sie ergriff das Glas, prostete Husak zu und nahm einen kräftigen Schluck. Als sie das Glas abstellte, lächelte sie neuerlich zu Husak hinüber. Nun konnte ihn nichts mehr halten. Er packte sein Weinglas und spazierte zu ihrem Tisch.
»Gnediges Fräjlein, erlauben Sie, dass ich mich setze zu Ihnen?«
»Bittschön, der Herr. Nehmen S’ ruhig Platz.«
»Sehr zum Wohl, gnediges Fräjlein.«
»Sehr zum Wohl, der Herr.«
»Ich heiß’ Husak, Karel Husak.«
»Und i bin die Josefine Selewosky. Aber alle sagen nur Pepi zu mir.«
»I bin der Karel, servus.«
Sie stießen an, Husak rückte ein Stück näher und sagte dann mit treuherzigem Dackelblick:
»Sag Karel zu mir, scheenes Kind.«
Die Selewosky kicherte und replizierte:
»I bin net schön. Und a Kind bin i a nimmer. I bin schon 22.«
»Geh, Kinderl, 22 is doch ka Alter.«
»Meinen S’?«
»Darfst ruhig du zu mir sagen. So alt bin i ja a no net.«
»Und wie alt san Sie?«
»I bin 32. Drauf trink ma jetzt, ahoj!«
Josefine machte neuerlich einen großen Schluck. Ihr Glas war nun fast leer, auf ihren Wangen schimmerte eine zarte Röte. Husak war zufrieden. Der Alkohol zeigte Wirkung. Er entspannt, macht fröhlich und enthemmt. Hoffentlich, dachte Husak. Denn seine Erregung hatte sich nicht gelegt. Ganz im Gegenteil.
»I bin aus Prag. Und von wo bist du?«
»I bin aus Ottakring. Wissen S’, wo das ist?«
»Na. Ich bin a Behm und nur zu Gast in Wien.«
»Sind Sie auf der Durchreise?«
»Ja, kann man so sagen. Also, wo is’ Ottakring?«
»Ganz weit draußen, am Rand der Stadt.«
»Und