»Hör auf! Verdammt noch einmal. Hör auf, so einen Stuss zu verzapfen. Wir haben es von Italien bis hierher geschafft. Uns werden sie auch jetzt net erwischen.«
»Hast recht. Aber wohin gemma?«
»Rüber zum Naschmarkt.«
»Und nachher?«
»Nix nachher. Am Naschmarkt pass ma die Köchin ab, die mir gestern schöne Augen g’macht hat. Die begleit’ ma heim und schlüpfen bei ihr unter.«
»Das sein Dienstbote. Was wird sagen ihre Herrschaft?«
»Sie hat mir g’steckt45, dass ihre Herrschaft weg is’. Auf Sommerfrische. Irgendwo am Land, wo’s noch was zum Fressen gibt.«
Ambrosius Zach und Karel Husak verließen schleunigst das Haus an der Wienzeile, in dessen zweitem Hinterhof der erschlagene Stanislaus Gotthelf lag. Für ein paar Heller hatte er die beiden als Bettgeher bei sich in der Hinterhofhütte unterschlüpfen lassen. Das war praktisch gewesen. Bei Gotthelf hatten sie keinen Meldezettel ausfüllen und keine unnötigen Fragen beantworten müssen. Das Geld hatten sie vom letzten Einschleichdiebstahl, den sie bei ihrem Marsch nach Wien begangen hatten. Im Schwarzatal hatten sie einen Bauernhof mit offenen Türen und niemandem daheim vorgefunden. Das Geld war unter der Matratze versteckt gewesen. Zusätzlich hatten sie auch Schmalz und Brot aus der Speisekammer sowie neues Gewand aus dem Kasten des Schlafzimmers und frische Wäsche aus der Waschküche entwendet. Kaum mehr als eine halbe Stunde hatten sie gebraucht, um alles zu finden und wieder zu verschwinden. Solche Einschleichdiebstähle hatten sie während dieses Frühjahrs und Sommers zahlreiche verübt. Es war auch zu einfach: Die Männer und Buben im wehrpflichtigen Alter kämpften draußen an der Front. Die Frauen daheim mussten schauen, dass die Felder bestellt, das Heu gemacht und das Vieh gehütet wurde. Da man am Land sowieso nie die Türen versperrte, hatten Zach und Husak als Einschleichdiebe leichtes Spiel gehabt.
Husak ging zwei Schritte hinter Zach. Immer wenn dieser innerlich vor Wut bebte, hielt der Böhme Abstand. Oft genug hatte er schon Zachs Wutanfälle miterlebt. Das war nicht angenehm. Zach hatte die Fäuste in die Taschen seines in der Steiermark gestohlenen Lodenjankers versenkt und schritt voll Anspannung durch die Menschenmenge, die sich am Naschmarkt herumtrieb. Beim Verlassen des Innenhofs hatte er mehrmals gegen die Mauer der Einfahrt getreten und geflucht:
»So a Oaschpartie! Jetzt samma wieder ohne Obdach!«
Erst war ein Tritt gegen eine Seitentür erfolgt, die scheppernd nach innen aufflog.
»Hurerei und Bigamie!«
Zach hatte dann gegen einen Flügel des mächtigen Einfahrtstores getreten und sich dabei die Zehen angehauen. Rasend vor Zorn war er hinaus auf die Wienzeile gehüpft. Dabei hatte er leise vor sich hin geflucht. Husak hatte grinsen müssen. Geschieht ihm recht, hatte er sich gedacht, aber nichts dergleichen gesagt. Dass Zach seinen Zorn an ihm abreagierte, hätte ihm gerade noch gefehlt.
45 verraten
I/3
Ein Lausbub in zerfetzter Kleidung kam ihnen entgegengerannt. Die Menge stob auseinander, der Bub wurde von einem keifenden Marktweib verfolgt.
»Oaschwarz’n46! Gib sofort die Zwetschken her, die du mir g’stohlen hast!«
Der Bub stürmte auf Zach zu. Offensichtlich dachte er, dieser würde so wie alle anderen ausweichen. Doch da hatte er die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Denn der Wirt war in diesem Fall Zach, der ihm die Rechnung in Form einer fürchterlichen Tetschn47 servierte. Und nicht nur das! Zach war auch im letzten Augenblick zur Seite gesprungen und hatte dem Lauser ein Bein gestellt. Die Kraft der Watsche48 und der Hebelmoment des gestellten Beins beförderten den Buben aus der Vertikalen in die Horizontale. Mehr hatte der Unglücksrabe nicht gebraucht. Das Marktweib, es war die Naschmarkt-Helli, stürzte sich wie eine Hyäne auf ihn. Sie hob ihren bodenlangen Rock, wobei man ihre von Krampfadern verunstalteten Beine zu sehen bekam, und hockte sich auf ihn. Gerade so, als ob sie einen jungen Hengst zureiten würde. Sie zog allerdings nicht an den Zügeln, sondern prügelte wie wild auf den Buben ein. Husak wandte sich ab. Solche Gewaltorgien erzeugten bei ihm Brechreiz. Zach hingegen sah mit sensationslüsternem Glitzern in den Augen der wüsten Rauferei zu. Die Naschmarkt-Helli war ein kräftiges Weib, das ihr Leben lang schwere Gemüse- und Obstkisten gestemmt hatte. Mit so einer legte man sich normalerweise nicht an. Der Lausbub hingegen war ein verhungertes Zniachtl49. Allein dieser physische Gegensatz zog zahlreiches Publikum an.
»Gemma! Helli, gib’s ihm. Der hat schon öfters g’stohln.«
»Das Gfrastsackel50 kriegt jetzt Dresch …«
»Der arme Bua! Hören S’ auf, Frau Helli! Ich kauf nie wieder was bei Ihnen!«
»Net aufhören! Weitermachen!«
»Helli, hau ihm a Wendeltreppn in Schädel!«
»Brich ihm die Finger! Dem Rotzer51!«
»Wenn S’ net sofort aufhören, kauf i wirklich nie wieder was bei Ihnen.«
Helli hielt kurz inne. Schaute die gnädige Frau böse an und knurrte:
»Hau die über die Häuser, du Schastrommel52!«
Und schon kassierte der Lausbub die nächste Gnackwatschn53.
»So eine Unverschämtheit! Polizei! Wo ist denn die Polizei?«
»Bin eh schon da.«
Ein beleibter Sicherheitswachmann schob sich durch die gaffende Menge. Ohne Umschweife packte er die Fratschlerin54 am Genick und riss sie von ihrem Opfer herunter.
»A Ruh’ is’!«
Die Naschmarkt-Helli schlug windmühlenartig um sich und traf dabei den Helm des Sicherheitswachmanns. Laut schrie sie auf. Der Beamte beutelte sie energisch. Und zwar so lange, bis sie schließlich in sich zusammensackte. Dann fauchte er:
»Narrische Gretl. Willst in Häf’n55?«
Die Fratschlerin schüttelte betreten den Kopf. Der Polizist ließ sie los und knurrte:
»Dann schleich dich! Aber schnell.«
»Danke, Herr Inspector …«
»Kusch.«
Der Sicherheitswachmann wandte sich nun dem Lauser zu. Der saß benommen auf dem Erdboden und heulte vor sich hin.
»Du schleichst dich ebenfalls. Rotzer!«
Das brauchte er dem Buben nicht zweimal zu sagen. Von den unzähligen Schlägen noch ganz benommen, kroch er auf allen vieren davon. Nicht ohne zuvor mit blitzschnellen Griffen die gestohlenen Zwetschken, die aus seiner Hosentasche gerollt waren, wieder einzustecken.
»Jetzt hat sich der G’schissene das g’stohlene Obst behalten.«
»Lassen S’ den armen Buben in Ruhe. Der hat ja nur Hunger.«
»Wer hat das heutzutage