»Habe die Ehre, Herr Oberinspector!«
Nechyba nickte brummelnd und ging, ohne eine Erklärung abzugeben, schnurstracks zu der Stiege, die zu Schobers Bureau führte. Keiner der beiden Wachleute hatte sich zu fragen getraut, wohin er wolle. Wenn der Oberinspector diesen Gesichtsausdruck hatte, war es ratsam, auszuweichen oder am besten gar nicht da zu sein. Schließlich hatte er im Polizeikorps den Ruf, ein veritabler Grantscherm22 zu sein. Schnaufend marschierte Nechyba zu den Räumlichkeiten des Polizeipräsidenten. Wer immer ihm auf seinem Weg begegnete, wich ihm aus und war froh, dass er mit dem Oberinspector aus dem benachbarten Polizeiagenteninstitut nichts zu tun hatte. Nechyba trat, ohne anzuklopfen, in das Vorzimmer des Polizeipräsidenten ein. Er grüßte den Adjutanten des Präsidenten mit einem Kopfnicken und brummte:
»Der Herr Dr. Schober hat mich gerufen. Es pressiert.«
Der Adjutant nickte, sprang auf, eilte zur Tür von Schobers Bureau, öffnete diese und sagte:
»Oberinspector Nechyba ist da.«
»Er soll bitte reinkommen!«
Der Adjutant nickte und Nechyba betrat Schobers Bureau. Zu seiner Überraschung war er nicht alleine. Hofrat Dr. Roderich Schmerda war ebenfalls anwesend. Was zum Teufel machte Aurelias Dienstgeber hier?
»Darf ich die Herren einander vorstellen? Hofrat Dr. Schmerda vom Innenministerium. Oberinspector Nechyba vom Polizeiagenteninstitut.«
Schmerda war aufgestanden, winkte ab und raunzte:
»Mein lieber Schober, lassen Sie’s gut sein. Wir kennen einander bereits. Herr Oberinspector, ich begrüße Sie.«
»Meine Hochachtung, Herr Hofrat.«
»Nechyba, nehmen S’ bitte Platz. Ich hab’ Sie hergerufen, weil es um eine äußerst heikle Angelegenheit geht …«
»Heikel ist eine Untertreibung!«, unterbrach Schmerda den Leiter der Wiener Polizei. »Faktum ist, dass es um Wohl und Wehe unserer Armee, der Monarchie und auch unseres geliebten Kaiserhauses geht!«
»Um Gottes willen! Was ist passiert?«
Schmerda lehnte sich in seinem Sessel zurück, schlug die Beine übereinander, holte tief Luft und begann zu dozieren:
»Am Montag dieser Woche hat in Wiener Neustadt um halb acht in der Früh die Belegschaft der Daimler-Motorenwerke die Arbeit niedergelegt und ist geschlossen zum Wiener Neustädter Rathaus marschiert. Diesem Marsch haben sich die Arbeiter der Lokomotivfabrik, der Radiatorenwerke, der Flugzeugfabrik und der Munitionswerke Rath angeschlossen. Bis zum Nachmittag hatten sich 10.000 Demonstranten am Rathausplatz versammelt. Am Dienstag hat sich dieser lokale Streik zu einer politischen Massenbewegung gewandelt. An diesem Morgen legte in Ternitz die Belegschaft der Schoeller-Werke die Arbeit nieder und marschierte ins benachbarte Wimpassing, wo sich ihr die Beschäftigten der Gummifabrik und aller anderen dort ansässigen Unternehmen anschlossen. Der Marsch führte weiter nach Neunkirchen, wo sich ebenfalls sämtliche Betriebe an dem Ausstand beteiligten. Weiters schlossen sich alle Arbeiter in Enzesfeld-Hirtenberg, in Leobersdorf, in Wöllersdorf sowie im ziemlich weit weg liegenden Sankt Pölten dem Streik an. Am Mittwochmorgen erreichte die Streikbewegung Wien. Im Arsenal legten 15.000 Arbeiter die Arbeit nieder, in den Fiat-Werken in Floridsdorf waren es 2.000. Im Laufe des Tages wuchs dann die Zahl der Streikenden auf über 80.000 an. Bemerkenswert war, dass es den Streikenden nun in erster Linie nicht mehr nur um eine bessere Lebensmittelversorgung ging, sondern um ein politisches Ziel …«
Schober nickte und warf ein:
»Nun ging es den Streikkomitees um die Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk23.«
Schmerda fügte hinzu:
»In der Brigittenau forderten Kundgebungsteilnehmer, dass die Regierung einer Arbeiterdelegation Zutritt zu den Friedensverhandlungen gewähren sollte.«
Nechybas Magen grummelte laut und vernehmbar. Um diese Geräusche zu übertönen, fragte er:
»Und was sagt Unsere Allerhöchste Majestät dazu?«
Schmerda zog ein Stück Papier aus der Innentasche seines Sakkos und antwortete flüsternd:
»Er ist in höchstem Ausmaß besorgt. Ich zitiere aus einem Telegramm, das Seine Majestät gestern an unseren Außenminister, den Grafen Czernin, in Brest-Litowsk gesandt hat:
Ich muß nochmals eindringlichst versichern, daß das ganze Schicksal der Monarchie und der Dynastie von dem möglichst baldigen Friedensschluß in Brest-Litowsk abhängt …
und ich zitiere weiter:
Kommt der Friede nicht zustande, so ist hier die Revolution, wenn auch noch so viel zu essen ist. Dies ist eine ernste Warnung in ernster Zeit …
Meine Herren, diese Information ist streng vertraulich und bleibt unter uns, gell?«
Nechyba und Schober nickten. Der Hofrat räusperte sich und fuhr mit dem Lagebericht fort:
»Im Laufe des Mittwochs konnte der Parteivorstand der Sozialdemokraten mit Müh und Not einen Streik der Eisenbahner verhindern. Trotzdem befanden sich in Wien und Niederösterreich am Ende des Tages gut und gerne 150.000 Arbeiter im Streik. Es gab unzählige Versammlungen in Arbeiterheimen und Gastwirtschaften, und es kam zu Demonstrationen auf den Straßen. Aus Favoriten sind einige Tausend Arbeiter in Richtung Stadtmitte marschiert und haben den Verkehr zum Stillstand gebracht. Diese Demonstration wurde von berittener Polizei aufgelöst.«
Nechyba bemühte sich, durch eine andere Sitzposition seinen unruhigen Magen zur Ruhe zu bringen. Gleichzeitig bemerkte er:
»Davon hab’ ich gehört. Mir ist auch zugetragen worden, dass sich in den Betrieben Arbeiterräte gebildet haben.«
Schmerda nickte und fuhr fort:
»Zum Glück haben die Funktionäre der Sozialdemokratischen Partei rasch reagiert und waren im Laufe des Donnerstags zu Hunderten von Versammlungen gegangen und haben dort die Situation so weit unter Kontrolle bekommen, dass Bezirksarbeiterräte gewählt wurden. In diesen Räten saßen als kooptierte Mitglieder wiederum gestandene Funktionäre der Sozialdemokraten. Damit wurde versucht, die linksradikale umstürzlerische Grundtendenz der Rätebewegung in den Griff zu bekommen. Am Donnerstagmorgen ist außerdem in der ›Arbeiter-Zeitung‹ eine Erklärung des Parteivorstandes veröffentlicht worden …«
Schober schaltete sich ein:
»… in der vier Forderungen formuliert wurden. Und zwar: Friede, Verbesserung der Ernährungssituation, Demokratisierung des Gemeindewahlrechts sowie Aufhebung der Militarisierung der Betriebe. Darüber will die Parteiführung der Sozialdemokraten mit der kaiserlichen Regierung verhandeln.«
Schmerda nickte und fuhr fort:
»Allerdings weitete sich am Donnerstag die Bewegung neuerlich aus, erstmals wurde auch in einem Kronland, nämlich in Krakau, gestreikt. Donnerstagabend befanden sich in Wien, Niederösterreich und der Steiermark über