Tannenruh. Willi Keller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willi Keller
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839266007
Скачать книгу
schwere Tür mit Holzgriff auf, was nicht so einfach war. Gastfreundlich wirkte das nicht. Schwabacher! So hieß die Schriftart! Alte Schwabacher Schrift. Sie passte zu dem Namen »Schatzhauser«. Die Schwabacher war im 15. Jahrhundert entstanden. 1498 hatte sie Albrecht Dürer für seine 15 Holzschnitte zur Offenbarung des Johannes verwendet. Obwohl sie mit der Zeit von anderen Schriftarten verdrängt worden war, hielt sie sich bis ins 20. Jahrhundert. 1941 verboten die Nationalsozialisten die offizielle Verwendung der Schriftart und bezeichneten sie als »Schwabacher Judenlettern«. Berger erinnerte sich, dass er eine alte Ausgabe von Wilhelm Hauffs »Das kalte Herz« in der Schwabacher Schrift gelesen hatte.

      Der Empfang im Hotel war so kühl wie die Waldluft in der Dämmerung. An der Rezeption nannte er seinen Namen, legte seinen Dienstausweis vor und sagte, dass für ihn ein Zimmer für zwei Nächte reserviert sei.

      Der Mann an der Rezeption schaute ihn misstrauisch an. »Guten Tag, wir wissen Bescheid. Ihr Zimmer befindet sich im zweiten Stock, Nummer 21. Bitte füllen Sie den Meldezettel aus.«

      Berger beeilte sich mit der Formalität und überreichte dem Mann wortlos das Papier. Wie um einen bösen Geist abzuwehren, streckte ihm der Mann eine gemaserte Holzkugel entgegen, an der zwei Schlüssel hingen, einer für das Zimmer und einer für die Eingangstür. Berger nahm die Kugel aus einer feuchten und kalten Hand entgegen.

      »Sie können auch den Aufzug nehmen.«

      »Nein, danke«, sagte Berger, »ich schaffe es über die Treppe«, und machte sich auf den Weg in den zweiten Stock. Trotz des gedämpften Lichts in den Gängen, fand er schnell das richtige Zimmer. Es lag über dem Eingangsbereich. Beim Öffnen der Tür schlug die Holzkugel wild hin und her. Mehrmals traf sie die Zimmertür. Falls er sehr spät in sein Zimmer zurückkehrte, durfte er die Holzkugel nicht so schwingen lassen. Als er sich umblickte, musste er zugeben, dass ihm der Raum gefiel. Auf dem hölzernen Schreibtisch lagen Prospekte, obenauf ein Flyer mit der Überschrift »Das Schatzhauser – ein Hotel aus echter Weißtanne«. Daneben mehrere Informationsblätter gleichen Inhalts, aber in verschiedenen Sprachen. Er schaute sich den deutschen Flyer genauer an.

      »Sehr geehrte Gäste, unser Haus fühlt sich dem Erhalt der Schöpfung verpflichtet. Deshalb haben wir uns entschieden, das Hotel ausschließlich mit dem Holz des Schwarzwaldes zu bauen, mit der Weißtanne, der wichtigsten natürlichen Nadelbaumart dieser Region. Sie ist ein Symbol ewiger Lebenskraft, ein Sinnbild für Schönheit, Stärke und Größe und strahlt Achtung und Würde aus.

      Unser Haus besteht aus nachwachsenden Rohstoffen. Dübel aus dem Holz der Rotbuche halten alles zusammen. Diese Rohstoffe binden zu 100 Prozent CO2 und schützen so unsere Erde. Das Holz verbreitet in den Innenräumen ein angenehmes Klima und einen wunderbaren Geruch. Es gleicht die Feuchtigkeit aus und ist bei Berührung immer warm. Schindeln der einheimischen Fichte bilden die Außenhaut unseres Hauses. Im Abendlicht strahlt unser Hotel eine ganz besondere Atmosphäre aus.

      Den Namen ›Schatzhauser‹ haben wir bewusst gewählt. Schatzhauser ist der gute Geist des Schwarzwaldes, der vor dem Bösen bewahrt und den Tannenwald und seine Bewohner beschützt. Wir haben in diesem naturgerechten Haus alles so eingerichtet, dass Sie entspannen und in sich ruhen können. Wir legen größten Wert darauf, dass Sie sich nicht gestört fühlen, und wünschen Ihnen einen unvergesslichen Aufenthalt.«

      Der Flyer war reich bebildert und zeigte das »Schatzhauser« aus unterschiedlichen Perspektiven. Auf der Rückseite befand sich nur ein Foto, das Hotel im Abendlicht. Es strahlte tatsächlich eine besondere Atmosphäre aus. Als wohltuend empfand Berger diese Atmosphäre aber nicht. Sie hatte etwas Unheimliches. Aber vielleicht verstellte ihm seine Skepsis den Blick auf die Ästhetik des Hotels. Er strich langsam mit seiner rechten Hand über die Wand am Nachttisch. Das Holz fühlte sich tatsächlich warm an.

      Berger öffnete seine Bügeltasche und räumte seine Sachen in den begehbaren Wandschrank ein. Die Dienstpistole schloss er im Safe ein und bereitete sich auf die Befragung des Personals und der Gäste vor.

      Die Befragungen konnte er nur teilweise führen. Einige der Gäste waren noch unterwegs und kamen vermutlich erst spät zurück ins Hotel, hieß es jedenfalls an der Rezeption. Berger konnte immerhin in Erfahrung bringen, dass der Argentinier so gut wie keinen Kontakt mit anderen Gästen hatte, pünktlich morgens um 8 Uhr zum Frühstück erschienen war, um 12.30 Uhr zum Mittagessen und um 19.30 Uhr zum Abendessen. Am Nachmittag hatte er lange Spaziergänge gemacht, niemand wusste, wohin. Wobei Berger dieser Aussage nicht traute. Wenn der Argentinier im Hotel geblieben war, hatte er sich auf seinem Zimmer, in der Bibliothek oder, bei entsprechender Witterung, auf dem Balkon aufgehalten und eine Zigarre geraucht, einen Cognac und meist noch einen doppelten Espresso getrunken.

      Die Angestellten verhielten sich bei der Befragung so zurückhaltend, dass man es als Abwehr interpretieren konnte. Berger hätte genauso gut mit den Holzwänden des Hotels sprechen können. Was hatten sie zu verbergen? Alle ausländischen Gäste waren ebenfalls kurz angebunden. Das lag wahrscheinlich nicht an seinem Schulenglisch, vermutete Berger. Auf der Gästeliste standen neben einigen Südamerikanern auch zwei Deutsche und ein Schweizer. Die deutschen Gäste waren angeblich auswärts. Und der Schweizer gab vor, er sei erst vorgestern angereist. Laut Gästeliste war er aber schon vor fünf Tagen angekommen. Warum hatte er ein falsches Datum genannt? Oder hatte er sich einfach vertan?

      Die Befragungen erwiesen sich insgesamt als Fehlschlag. Sie waren zwar nicht entscheidend für die eigentliche Untersuchung des Unglücks, warfen aber ein seltsames Licht auf das Hotel, das Personal und die Gäste. Als Berger mit allen, die zur Verfügung standen, gesprochen hatte, wurde ihm an der Rezeption der Zimmerschlüssel des Argentiniers ausgehändigt. Die Geschäftsführung sei nicht zu erreichen, hieß es. Er hätte sich gerne mit der Geschäftsführung unterhalten, wurde aber vertröstet. Erzwingen konnte er einen Gesprächstermin nicht. Er hatte ja nur den Auftrag, zu prüfen, ob beim Sturz des Argentiniers ein Fremdverschulden auszuschließen war. Dazu musste er an den Unglücksort. Den konnte er zusammen mit Tammy erst bei Tageslicht untersuchen.

      Also nahm sich Berger zunächst das Zimmer des Toten vor. Zwei große Koffer standen links neben der Tür. Das Bett war frisch bezogen, im Badezimmer alles abgeräumt. Auf dem Schreibtisch im Wohnbereich lagen zahlreiche CDs, obenauf Robert Schumanns Opus 35: »12 Gedichte, Sehnsucht nach der Waldgegend«, ein CD-Spieler, ein Kopfhörer, einige Bücher in deutscher und spanischer Sprache, ein großes Etui, das sich als Zigarrenkiste entpuppte, und ein Behälter, in dem Besteck für Zigarren lag. Berger öffnete beide Koffer, die überwiegend Wäsche enthielten. Er breitete den kompletten Inhalt auf dem Bett aus, fand aber nichts Aufregendes oder Verdächtiges.

      Das, worauf es ihm vor allem ankam, entdeckte er nicht: moderne Kommunikationsmittel. Heute reiste doch kaum jemand ohne Smartphone, Notebook oder Tablet! Er untersuchte die Koffer nach Zwischenräumen. Nichts. Berger rief den Zimmerservice und fragte, warum hier alles aufgeräumt sei. Das habe die Geschäftsführung so angeordnet. Auch die Koffer müssten bald weg. An ein Smartphone oder ein Notebook oder ein Tablet erinnerte sich der Mann vom Zimmerservice nicht.

      Berger hatte sich für 20.45 Uhr zum Abendessen eintragen lassen, was die Rezeption wegen der späten Uhrzeit missbilligend aufgenommen hatte. Aber die Küche hatte bis 21.30 Uhr geöffnet, so stand es jedenfalls im Prospekt. Bei den Befragungen hatte er von einer Bedienung erfahren, dass der Argentinier einen Tisch in einer Ecke des Speisesaales bevorzugt hatte, von dem aus man alles beobachten konnte. Diesen Tisch ließ er sich reservieren. Die Bedienung hatte in dem Gespräch einen verängstigten Eindruck gemacht. Hatte sich der Argentinier verfolgt gefühlt?

      Bis zum Abendessen hatte Berger noch fast eine Stunde Zeit. Die Pause nutzte er, um sich in der Bibliothek umzusehen. Morgen vor dem Frühstück wollte er alle Stockwerke des Hotels anschauen. Die Bibliothek befand sich im Untergeschoss. Mit einer Handbewegung hatte ihm der Mann an der Rezeption den Weg gezeigt. Langsam ging Berger die breite Holztreppe hinunter, die mit einem dicken dunkelgrauen Teppich ausgelegt war, der jedes Geräusch schluckte. Die Betreiber des Hotels, die in ihrem Prospekt die Stille priesen, trieben die Lautlosigkeit auf die Spitze. Am Ende der Treppe befanden sich rechts die Toiletten, gegenüber zwei Privaträume. Ein Stück weiter passierte Berger einen Raum, an dem ein Schild mit der Aufschrift »Meditation« angebracht war. Es folgten links