Tannenruh. Willi Keller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willi Keller
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839266007
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das Martinshorn des Krankenwagens und wurde immer lauter. Der Notarztwagen erweiterte das Klangbild. Nach kurzer Zeit hörte Berger die Stimmen der Retter und von aufgeregten Kolleginnen und Kollegen auf dem Gang. Er war froh, als er die Verantwortung abgeben und Winkers Hand loslassen konnte, blieb aber im Raum.

      Als der Notarzt und die Sanitäter fertig waren, klopfte der Notarzt Berger auf die Schulter. »Ihre schnelle Reaktion hat ihm das Leben gerettet.«

      »Und, wie sieht es aus?«

      »Gut, denke ich. Den Umständen entsprechend. Natürlich muss er ordentlich untersucht werden. Er wird wieder auf die Beine kommen, wenn nichts Schlimmeres entdeckt wird. Wenn Sie länger als drei Minuten gebraucht hätten, stände es jetzt schlecht um ihn. Nicht jeder Mensch reagiert im Notfall so wie Sie. Ein Profi hätte es nicht besser gemacht.«

      Sie legten Winker auf eine Trage und brachten ihn vorsichtig aus dem Raum. Berger musste sich erst einmal setzen. Die Spannung fiel von ihm ab. Der erste Tag der Wiedereingliederung fing ja gut an.

      Rosemarie Schöntal kam ins Zimmer, mit Tränen in den Augen. »Wird er wieder gesund?«

      »Der Arzt sagt, er komme wieder auf die Beine.«

      »Wollen Sie einen Kaffee?«

      »Gerne. Möglichst stark.« Den Neustart im Dienst hatte sich Berger anders vorgestellt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, so geschockt war er. Gleichzeitig spürte er, dass ihm das Lob des Notarztes guttat. Dass er instinktiv das Richtige getan hatte, ohne lang zu überlegen, konnte Berger nicht begreifen.

      Die Assistentin stellte den Kaffee auf Winkers Schreibtisch. »Was wird jetzt aus ihm? Kommt er in den Dienst zurück?«

      »Ich kann Ihnen das nicht beantworten. Ich bin kein Arzt. Der Notarzt hat mir nur gesagt, es sehe gut aus. Das heißt noch nicht, dass er wieder arbeiten kann. Außerdem muss Winker das selbst entscheiden. Da kann man nur abwarten.« Sprach er von Winker oder über sich selbst?

      Kolleginnen und Kollegen drängten in den Raum und wollten Einzelheiten wissen. Sie fragten nicht einmal, wie es Berger nach der langen Auszeit ging, so spannend und aufregend war dieser Moment. Mechanisch erzählte Berger, was passiert war, während sich in seinem Kopf Winkers bedeutungsschwerer Satz »In den ChrisTer-Fällen gibt es etwas Merkwürdiges, das mir Sorgen bereitet« Wort für Wort festsetzte. Sein Kaffee wurde in der Zwischenzeit kalt.

      Kapitel 3

      Beinahe hätte Alban Berger die Abfahrt zum Hotel Schatzhauser verpasst. Das kleine Schild, das den Weg wies, war nicht gut zu sehen, vor allem nicht bei diesen Lichtverhältnissen in der beginnenden Dämmerung. Die alte Schrift erschwerte zusätzlich das Lesen. Das Hotel schien keine Gäste anlocken zu wollen.

      Er war viel zu spät dran. Der Zusammenbruch von Kripochef Winker hatte den ganzen Tagesablauf verändert. Zu Hause hatte er schnell seine Sachen zusammengepackt und Ariane einen Zettel hingelegt, dass er dienstlich für zwei Tage im Hotel Schatzhauser untergebracht sei. Sie führten seit Monaten eine »verzettelte« Beziehung. Wenn etwas zu erledigen oder mitzuteilen war, schrieben sie es auf ein Blatt Papier oder einen ausgedienten Briefumschlag und platzierten die Information mitten auf dem Esstisch.

      Berger trat fest auf die Bremse und lenkte in letzter Sekunde den Wagen nach links auf einen Weg. Schotterstraße mit wassergebundener Decke, schoss es ihm durch den Kopf, so hieß dieser Straßenbelag im Fachjargon und wurde nur bei Wegen mit geringer Verkehrsbelastung aufgebracht, zum Beispiel bei Waldwegen. Das hatte Berger von seinem Bruder Harald gelernt, der Spezialist für Geodäsie, Geodateninformation und Berater von Gemeinden und Landkreisen war.

      Bergers schnelles Abbiegen und seine kurze Unaufmerksamkeit brachten den Wagen ins Rutschen, aber er konnte ihn rechtzeitig abfangen und zum Stehen bringen. Allerdings würgte er den Motor ab. Er schaltete aus und wieder ein und fuhr vorsichtig weiter. Langsam musste er es angehen lassen, wie überhaupt alles in seinem Leben nach der Rekonvaleszenz. Was hieß denn Rekonvaleszenz? Dass er in der Endphase der Heilung war. Noch nicht gesund und noch nicht wiederhergestellt. In jeder Faser seines Körpers, in jedem Muskel und im Kopf spürte er das. Aber er war auf dem Weg zu seinem ersten Auftrag. Ein leichter Fall für den Wiedereinstieg.

      Ein lauter Schlag unter seinem Auto riss ihn aus den Gedanken. Vermutlich war er über einen Stein gefahren. Konzentriere dich auf die Straße und stoppe deine dunklen Gedanken, beschwor er sich. Die Straße war nicht breit, hatte allerdings in regelmäßigen Abständen unterschiedlich große Ausweichbuchten. Sie schlängelte sich durch einen dichten Tannen- und Fichtenwald, der zum Namen »Schatzhauser« passte.

      Nach einer weiteren Biegung musste er erneut scharf bremsen und traute seinen Augen kaum. Hatte er einen Tagtraum?

      Vor ihm stand mitten auf der Straße ein großer Wolf und machte keine Anstalten, zu fliehen. Noch nie war er einem Wolf so nahegekommen. Nur einmal hatte er aus sicherer Entfernung Wölfe im Bärenpark bei Bad Rippoldsau-Schapbach beobachtet. In den etwas besseren Zeiten der letzten Monate, wenn die alte Leselust wie eine zarte Frühlingsblume leise erwacht war, hatte er sich unter anderem mit der Debatte über die Wiedereingliederung des Wolfes befasst. Wiedereingliederung! Eingliederungsmanagement für Wölfe! Wie viel Zeit bekam der Wolf, um sich wieder einzugliedern? Drei Monate, sechs Monate, ein Jahr, hundert Jahre? War der Wolf auch ein Rekonvaleszent? Seine Krankheit war doch der Mensch, der ihn in Deutschland ausgerottet hatte. Jetzt, da er zurückkam, fand er ganz andere Lebensräume vor, die nicht mehr seiner Natur entsprachen. Berger fragte sich, ob er auch in einen Lebensraum zurückkehrte, der nicht mehr für ihn geschaffen war. Er fand Wölfe wunderschön, hatte aber großes Verständnis für die Landwirte, die um ihre Schafe, Ziegen und Rinder fürchteten. Der Wolf lebte nun einmal nicht vegetarisch.

      Während Berger seinen Gedanken freien Lauf ließ, stand der Wolf unbeweglich da, den Schwanz hatte er nach oben gestreckt, sein starrer Blick richtete sich auf das unbekannte Objekt auf der Straße, die Ohren waren nach vorn gestellt. Das Tier strotzte vor Selbstbewusstsein. Handelte es sich um jenen Wolf, der seit längerer Zeit den Nordschwarzwald durchstreifte? Berger zog sein privates Smartphone aus der linken Brusttasche, klappte den schwarzen Schutz auf und ließ vorsichtig das Seitenfenster herunter. Kalte Waldluft wehte ihm entgegen. Langsam streckte er sich aus dem Fenster und drückte mehrfach auf den Auslöser der Kamera. Der Wolf, dem die Kamerablitze nichts auszumachen schienen, neigte kurz seinen Kopf und richtete ihn wieder auf. Berger schätzte, dass das Tier eine Schulterhöhe von mindestens 75 Zentimetern hatte, wenn nicht noch mehr. Die Schulterhöhe der größten Wölfe betrug 80 Zentimeter, sie lebten im Norden Russlands, in Kanada und Alaska. War es wahrscheinlich, dass Wölfe von Russland bis nach Deutschland wanderten? Eher nicht, wenn die Wolfexperten recht hatten. Er schaute auf die Bilder, die er vom Wolf geschossen hatte. Sie waren erstaunlich gut. Eigentlich müsste er den Wolf den zuständigen Behörden melden, wollte sich das aber noch überlegen. Vielleicht leitete er die Fotos im Hotel weiter, wenn er eingecheckt hatte.

      Berger klappte sein Smartphone zu und sah auf. Der Wolf war verschwunden – wie eine übernatürliche Erscheinung. Aber seine Fotos bewiesen, dass er sich nicht getäuscht hatte. Um ganz sicherzugehen, schaute er sie noch einmal an. Sie ließen keinen Zweifel zu. Er war einem Wolf begegnet, einem erstaunlich großen Wolf.

      Als er weiterfuhr, schloss er das Fenster und versuchte, sich besser als bisher auf die Straße zu konzentrieren. Erst jetzt fiel ihm auf, dass an den Straßenrändern und im Wald noch angetauter Schnee lag. Der Weg zum Hotel zog sich endlos hin. Als er die gefühlt hundertste Kurve hinter sich ließ, staunte er.

      In rund 200 Metern Entfernung stand ein riesiges, dreieinhalbgeschossiges Haus. Dezente Außenbeleuchtung machte aus dem Gebäude ein unheimliches Gebilde. Berger steuerte auf den halbrunden Parkplatz zu, der sich links vom Hotel befand. Es waren nicht alle Plätze besetzt. Langsam stieg er aus, holte seine schwarze, lederne Reisetasche mit Bügelverschluss aus dem Kofferraum, schloss den Wagen ab und ging zum Eingang. Über der Holztür stand in kräftigen alten Lettern »Hotel Schatzhauser«. Die Schriftart, die auch den Wegweiser zum Hotel geziert hatte, kam Berger bekannt vor. Sie zeichnete sich durch eckige Buchstaben und einen gebrochenen Schreibfluss aus. Es fiel ihm aber nicht sofort ein, wie sie hieß. Auf jeden Fall zog