Tannenruh. Willi Keller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willi Keller
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839266007
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fand er ihn nicht mehr. Aber er hatte sich den Namen des Autors gemerkt und entdeckte auf dessen Homepage die Mail­adresse. Er schrieb ihm, dass er in den nächsten Monaten nach Deutschland reisen wolle. Es gehe um diese Hochwald-Siedlung, die er vor einiger Zeit in einem Artikel erwähnt habe. Ob er ihm den Artikel zukommen lassen könne. Der Autor schickte ihm den Artikel als Mail-Anhang.

      Kurz darauf begann Borges damit, die Reise vorzubereiten. Bei der Auswahl der Hotels war er überrascht von der Fülle der Angebote im größeren Umkreis der Hochwald-Siedlung. Er wollte nicht zu weit weg wohnen. Schließlich gab ihm ein guter Bekannter aus der Nachbarschaft, Guillermo, den Tipp mit diesem eigenartigen Hotel aus Holz, das zu Borges Verwunderung nicht in den Angeboten aufgetaucht war. Guillermos Familie hatte gute Kontakte zu seinem Stiefvater gepflegt, Borges vertraute ihm und erzählte ihm mit der Bitte um Verschwiegenheit von seiner geplanten Reise in den Schwarzwald und den Hintergründen. Wie sein Stiefvater arbeitete Guillermo in der Sicherheitsfirma.

      Seine Frau versuchte, ihn von dieser Reise in den Schwarzwald abzuhalten. Er hatte ihr endlich alles erzählt, auch das schockierende Gespräch mit seinem Stiefvater. Er machte ihr klar, wie viel es ihm bedeutete, den Ort seiner verschwundenen Kindheit kennenzulernen. Vielleicht fände er endlich seinen inneren Frieden und könnte eines Tages lachen.

      Sie blickte ihn skeptisch an: »Glaubst du das wirklich? Glaubst du, dass du lachend von dieser Reise in die Vergangenheit zurückkehrst und alles von dir abfällt, was dich bedrückt hat? Ist dir das Wichtigste, lachen zu können? Vielleicht löst diese Reise in die Vergangenheit etwas aus, das du nicht mehr stoppen kannst, das dich auffrisst, das dich vernichtet, wie es dein Stiefvater prophezeit hat. Nimm seine Warnung ernst. Ich bitte dich darum. Wir haben uns doch in jungen Jahren geschworen, die Vergangenheit loszulassen, weil wir beide schlechte Erfahrungen mit ihr gemacht haben. Die Konsequenz war, dass wir uns auf die Gegenwart konzentrierten. Damit haben wir gut gelebt. Ich liebe dich mit dem ernsthaften Blick. Du lächelst mit deinem Körper und machst so vielen Menschen Freude. Genügt dir das nicht? Das ersetzt doch alles Lachen. Außerdem: Warum hast du mir diese Geschichte nicht früher erzählt?«

      »Weil ich nicht wusste, woher ich die Antwort auf meine Fragen bekommen sollte. Also habe ich versucht, das alles zu vergessen. Aber jetzt weiß ich, wo ich suchen muss: in einem dunklen Wald weit weg von hier, dort wartet die Antwort auf mich.« Er sah lange in ihre angsterfüllten Augen.

      Sie wusste, dass sie ihn nicht überzeugen konnte. Schließlich drückte sie ihn fest an sich, als wollte sie ihn fesseln. Lange standen sie so da. Als er sanft versuchte, sich aus ihrer Umklammerung zu lösen, ließ sie los, drehte sich wortlos um und verließ das Zimmer. Für einen Moment überlegte er, die Reise zu verschieben oder ganz aufzugeben. Doch der starke Drang, alles über seine Kindheit zu erfahren, überwog.

      Kurz darauf war er nach Deutschland aufgebrochen, hatte sich im Hotel Schatzhauser einquartiert und als Erstes eine seiner Zigarren und einen Weinbrand auf dem Balkon genossen.

      Spätestens jetzt, auf dem Fußmarsch von der Siedlung zurück ins Hotel, wurde ihm klar, dass er die Reise bereute. Er war keinen Schritt weitergekommen, hatte sich vermutlich etwas vorgemacht. Er kannte nun seine »Heimat« und die seiner Vorfahren, dennoch blieb ihm alles ein Rätsel. Der dunkle Wald und die kleine Siedlung, in der seine Familie ausgelöscht worden war, bedrückten ihn. Er wollte wieder zurück nach Argentinien, zu seiner Frau, und sie endlich wieder in die Arme schließen. Das hatte er ihr vor zwei Tagen per Mail mitgeteilt. Sie freute sich auf seine Rückkehr.

      Der Schneefall nahm zu. Die Hälfte der Strecke zum Hotel hatte er schon geschafft. Bald würde er diese seltsame Biegung erreichen. Sie führte um einen gewölbten Felsen herum, der Schutz bot vor Niederschlägen. An dieser Stelle lag der Weg an einem Abgrund, aber solange man auf dem Weg blieb, bestand keine Absturzgefahr. Als er zum ersten Mal hier vorbeikam, hatte er Gänsehaut bekommen. Damals kannte er den Wegverlauf nach dem Felsen noch nicht. Der junge Historiker hatte ihn beruhigt, der Weg führe hinter dem Felsen wieder vom Abgrund weg. Schon beim zweiten Mal hatte er die Stelle ohne jedes unangenehme Gefühl passiert. Aber manchmal hatte er den Eindruck, dass ihm jemand folgte. Einmal hatte er auf dem Rückweg den Boden abgesucht, aber keine Spuren oder Hinweise gefunden.

      Den Weg kannte er inzwischen in- und auswendig. Sicher war er ihn als Kind oft gegangen. Was wäre aus ihm geworden, wenn es jene schreckliche Nacht nicht gegeben hätte? Hätte er sein ganzes Leben in diesem Wald verbracht, als Holzfäller? Oder hätten seine Eltern sein künstlerisches Talent erkannt? Hätten sie ihn so gefördert, wie es seine Stiefeltern getan hatten? Er war kein Waldmensch geworden, sondern Städter. In seinem Leben hatte er kaum Wälder gesehen. Hätte er sich in diesem Wald wohlgefühlt, wenn er nicht von jenem Ereignis getroffen worden wäre? Wohlgefühl kannte er nur auf der Bühne, wenn sein Körper sich bewegte und eins wurde mit dem seiner Frau. Nur dann konnte er sich lösen und so etwas wie Erfüllung empfinden. Der Tanz, insbesondere der Tango, war seine Bestimmung und seine Leidenschaft, die er mit seiner Frau teilte. Er musste oft an die Worte von Carlos Gavito denken, dessen mutige Tanzweise und Schräglagen er immer bewundert hatte, der die Musik mit seinen Füßen tanzte: »Das Wichtigste ist, zu wissen, warum wir tanzen wollen. Wir tanzen die Einsamkeit in uns, die wir durch nichts kompensieren können. Diese Lücke, in deren Leere wir Bewegung bringen, ist der Tango.«

      Borges kannte viele Zitate über den Tango, aber diese wenigen Sätze fassten am treffendsten sein Leben und seine Beziehung zum Tanz zusammen. Mit dem Tango hatten seine Frau und er viele Krisen überwunden, auch die Militärdiktatur. Sie mussten nicht fliehen wie andere, aber sie waren oft auf Tourneen im Ausland gewesen, auch eine Art von Flucht, und so den Konflikten entgangen. In manchen Lebensabschnitten hatte er das Gefühl gehabt, es halte jemand schützend seine Hand über sie beide. Ihr Blick war auf den Tanz gerichtet, auf nichts anderes. Nie hatten sie eine klare ablehnende Haltung zur Militärdiktatur gezeigt, obwohl sie sie verabscheut hatten. Sie wollten immer nur tanzen, tanzen, tanzen. Und blendeten dabei aus, dass der Tango einen sozialpolitischen Hintergrund hatte und einen Kontrapunkt setzte zur bürgerlichen Kultur. Wenn Borges zurückblickte, überraschte es ihn, dass sie nie in kritische Diskussionen verwickelt worden waren. Immer hatte ihr ästhetisches Tanzen im Vordergrund gestanden. Nie hatte man ihnen mangelnde Solidarität mit Astor Piazolla und anderen in den Zeiten der Diktatur vorgeworfen. Seine Frau und er waren zu Ikonen und unangreifbaren Botschaftern des klassischen argentinischen Tangos geworden. Ausgerechnet er! Ein Kind des Schwarzwaldes.

      Von Westen her kam Wind auf. Borges schlug den Mantelkragen hoch und ging schneller. Die Zweige der dunklen Bäume färbten sich allmählich weiß. Er hatte Wetter und Zeit falsch eingeschätzt. Beim Nachdenken über seine Herkunft, seine Kindheit und sein Leben in der Fremde, die seine Heimat war, und seine eigentliche Heimat, die ihm fremd war, hatte er seine Schritte verlangsamt. Noch wenige Hundert Meter, dann müsste er bei der Biegung sein. Der Schnee nahm ihm fast die Sicht, so dick fielen inzwischen die Flocken, die auf ihn zutrieben und ihm mit voller Wucht ins Gesicht klatschten. Aus dem schwarzen Wald wurde ein weißer. Borges richtete seinen Blick auf den Boden, damit er nicht von dem schmalen Weg abkam, der an manchen Stellen fast nicht mehr zu sehen war. Ab und zu blieb er kurz stehen, um sich zu orientieren. Der dichte Schnee erzeugte eine unheimliche Stille. Wie in Watte gepackt fühlte er sich. Und gehörlos. Er drehte sich um und schaute zurück. Die Fußabdrücke, die er hinterließ, verschwanden sofort im Schnee, als wäre er die Strecke nie gegangen.

      Die Felsennase tauchte schemenhaft vor ihm auf. Wie eine Rettung. Er überlegte, unter dem Felsen eine Pause einzulegen, bis das Wetter sich beruhigte und der Schneefall nachließ. Er beschleunigte seinen Schritt. Obwohl er den Mantelkragen hochgeschlagen hatte, war Schnee in seinen Nacken gelangt und schmolz. Kurz blieb er stehen und rieb mit seinem Stofftaschentuch den Nacken halbwegs trocken. Er verfluchte sich, dass er keinen Hut und keinen Regenschirm mitgenommen hatte. Aus dem nassen Haar rannen Tropfen über sein Gesicht und in den Nacken. Er steckte das vollgesogene Taschentuch in die rechte Manteltasche und freute sich auf die schützende Felsennase. Von den Knien abwärts war die Hose nass und klebte an den Beinen. In die halbhohen Schuhe, die angeblich wasserdicht waren, drang Feuchtigkeit. Seine Zehen waren schon ganz kalt.

      Vorsichtig machte er einen Schritt nach dem anderen. Er durfte sich jetzt keinen Fehltritt leisten, vor allem nicht bei der Biegung. Bei trockenem Wetter war die Umrundung