Tannenruh. Willi Keller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Willi Keller
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839266007
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angesprochen hatte.

      »Hinter dem Hotel hat sich der argentinische Gast nie aufgehalten«, sagte er.

      »Danke für den wichtigen Hinweis«, antwortete Berger und schlenderte an dem Hageren vorbei. Er stand also unter Beobachtung.

      Im Hotel ging er Stockwerk für Stockwerk ab. Unter dem Dach befanden sich links und rechts des Flurs Räume, die nicht zugänglich waren. Ein dickes Seil spannte sich am Treppenaufgang von einer Seite zur anderen, an dem ein Schild hing. In vier Sprachen war darauf zu lesen: »Privat! Durchgang nicht gestattet!« Doch auch von hier unten aus sah Berger ein Stück weit in den Flur mit den angrenzenden Zimmern hinein. Er hätte gerne gewusst, wer die Räume nutzte und wozu. Eine Weile blieb er stehen. Es war nichts zu hören, es öffnete sich auch keine Tür.

      Enttäuscht ging er zurück auf sein Zimmer, machte sich Notizen und bereitete sich auf das Treffen mit Tammy vor. Währenddessen hörte er ein Motorrad vorfahren. Dem Sound nach konnte es nur die schwere italienische Maschine von Tammy sein. Sie hatten sich auf 9 Uhr im Frühstücksraum verabredet. Er zog den Vorhang ein wenig zurück und sah, wie Tammy auf den Parkplatz neben sein Dienstfahrzeug rollte und den Motor abstellte. Schwungvoll stieg sie ab und bockte die Maschine mit Leichtigkeit auf, schaute sich kurz um, nahm ihren Helm ab und schüttelte ihr Haar. Anschließend schälte sie sich aus ihrer schwarzen Lederkleidung. Diese »Entpuppung« erregte ihn. Er wartete, bis sie die Lederkleidung ausgezogen und sich in ein anderes Wesen verwandelt hatte, dann verließ er sein Zimmer und ging ihr entgegen.

      Draußen vor dem Eingang zum Hotel umarmten sie sich. Tammy hatte wieder dieses bezaubernde Parfüm aufgetragen. Sie schulterte ihren Rucksack, folgte Berger an die Rezeption und checkte ein. Der Empfang fiel so frostig aus wie bei Berger. Im Frühstücksraum suchten sie sich einen Platz, an dem sie sich ungestört unterhalten konnten. Das war nicht schwer, denn es saßen nur wenige Gäste im Raum.

      Tammy fragte Berger im Flüsterton: »Sag mal, gibt es hier im Hotel nur Männer?«

      »Unter den Gästen, die ich gesehen habe, ist keine einzige Frau. Es gibt aber Toiletten für Frauen.«

      »Das heißt, ich bin die einzige Frau im Haus?«

      »Bei der Befragung gestern hatte ich mit drei Kellnerinnen zu tun. Der Zimmerservice ist männlich. Wie es mit dem Reinigungspersonal aussieht, weiß ich nicht.«

      »Das ist ja mehr als komisch.«

      »Das ist nicht das einzig Komische in diesem Haus.«

      Sie holten am Buffet Brötchen, Käse, Wurst und Marmelade und ließen sich am Tisch Kaffee einschenken, von einer Frau. Erst als sich die Bedienung zurückzog, begannen sie mit ihrem Gespräch, jedoch so leise, dass niemand mithören konnte. Tammy wollte als Erstes wissen, wie es Berger ging.

      »Es geht langsam aufwärts. Aber ich merke, dass ich aufpassen muss. In der Nacht habe ich erstaunlich gut geschlafen. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Normalerweise wälze ich mich stundenlang hin und her und komme immer wieder ins Grübeln.« Fragen nach seinem Gesundheitszustand schmerzten ihn, körperlich und seelisch, auch nach dieser ruhigen Nacht war es nicht anders. Meistens wich er aus, gab eine oberflächliche Antwort oder wechselte schnell das Gesprächsthema.

      »Und wie geht’s deiner Frau?«

      »Ariane hat sich gut erholt, sehr gut sogar. Sie hat die Krebsoperation ohne Probleme überstanden. Die Ärzte sagen, sie sei vollständig vom Brustkrebs geheilt. Sie geht wieder voll in ihrer Arbeit auf.« Wegen mir, um mein Elend nicht sehen zu müssen, dachte er, sprach es aber nicht laut aus. »An manchen Tagen sehe ich sie nicht einmal am Abend. Sie ist zur Cheflektorin aufgestiegen, was ihr kaum noch Freizeit lässt. Und wie steht es mit dir?« Tammy sah gut aus, als wäre sie gerade aus dem Urlaub gekommen.

      »Ich kann mich nicht beklagen. Mein Leben ist gut ausgefüllt, zum größten Teil natürlich beruflich. Ich mache viele Sondereinsätze oder zusätzliche Dienste. Aber ein bisschen Freizeit bleibt immer – und die genieße ich in vollen Zügen.«

      »Im Privatleben also alles in Ordnung?«

      »Eigentlich schon.« Das klang nicht sehr überzeugend. Tammy sah es an Bergers fragendem Blick. Sie hätte das Wort »eigentlich« nicht benutzen dürfen. Es verhielt sich wie ein Chamäleon und relativierte je nach Zusammenhang eine Aussage. Aber Tammy meinte, noch etwas anderes zu bemerken. Sie hatte das Gefühl, dass Berger etwas loswerden wollte.

      »Ich muss oft daran denken, wie du im vergangenen Jahr am Gedenkstein für Georg Rackert beim Gifizsee in Tränen ausgebrochen bist. Seither haben wir uns nicht mehr gesehen. Erinnerst du dich noch? Wie lange ist das jetzt her?«

      »Etwas mehr als ein halbes Jahr.«

      »Wir waren alle erschüttert: die Schwester von Georg, ihr Partner, du – natürlich auch ich. Ich hätte dich damals gerne etwas gefragt. Aber ich habe nicht den Mut gehabt.«

      »Hast du jetzt den Mut?« Sie konnte sich vorstellen, was er fragen wollte.

      »Seid ihr tatsächlich ein Paar gewesen, wie im Dienst gemunkelt wurde?«

      Warum wollte er das ausgerechnet jetzt wissen? Waren seine Schuldgefühle der Grund? Sie ließ lange mit der Antwort auf sich warten, schnitt ein dunkles Brötchen auf, bestrich es sorgfältig mit Butter und belegte es mit einer Scheibe Bergkäse, biss hinein und kaute betont langsam, bevor sie aufsah. Ihre Augen hatten einen wässrigen Schimmer.

      Er hätte sie nicht so direkt fragen dürfen, warf sich Berger vor. Das war kein gelungener Beginn ihres ersten Treffens nach so langer Zeit. Was hatte ihn geritten, eine so intime Frage zu stellen? Gerade wollte er sich entschuldigen, doch da hob sie zu einer Antwort an.

      »Das hat dich wohl sehr beschäftigt. Wenn du mich siehst, kommt dir gleich Georg in den Sinn? Du verknüpfst Ereignisse und Menschen und kannst sie nicht mehr trennen. Ist es so?« Sie klang etwas spitz und aufgeregt. »Ja, wir waren ein Paar, wie es viele im Präsidium vermutet hatten. Aber wir haben uns nicht getrennt, denn auch das machte wohl die Runde. So viel zu deiner Frage.« Sie biss wieder in ihr Brötchen und sagte mit vollem Mund: »Wir haben nicht die einfachste Beziehung gehabt. Und wir haben auch nicht zusammengelebt, wie man es von einem normalen Paar erwartet. Jeder hat seine Wohnung gehabt. Seine und meine Eltern haben von unserer Beziehung nichts gewusst. Wir haben uns Zeit lassen wollen. Viel Zeit. Manchmal haben wir uns tagelang nicht gesehen. Und manchmal sogar Wochen. Wie in der Zeit vor seinem Tod.« Sie aß ihr Brötchen vollends auf und wischte sich mit der Serviette den Mund ab.

      Berger saß still und geduldig da und wartete ab. Er wollte nichts sagen. Der Schaden, den er soeben angerichtet hatte, war schon groß genug.

      »Wenn sich Georg in etwas vergraben hat wie in den Fall der christlichen Terroristen, hat er nichts anderes mehr wahrgenommen. Er hat auf keine Anrufe reagiert, auf keine Mails, auf keine WhatsApp-Nachricht. Nur ein Ziel hat er im Auge gehabt: die Terroristen fassen. Ich habe damals verzweifelt versucht, ihn zu erreichen. Keine Chance. Auch im Präsidium hat er sich in Luft aufgelöst. Auf seine Art ist er ein Fanatiker gewesen. Du hast ihn ja ein Stück weit so erlebt.«

      »Ein bisschen. Ich habe ihn aber nicht für fanatisch gehalten, sondern für hartnäckig. Ziemlich hartnäckig sogar. Allerdings habe ich nicht viel von ihm gewusst. Im Dienst haben wir wenig über Privates gesprochen.«

      »Als Partner ist er ein faszinierender und liebevoller Mensch gewesen.«

      »Entschuldigung.«

      »Du musst dich nicht entschuldigen.« Sie wischte sich mit der Serviette die Tränen aus den Augen. Warum hatte Berger ihr diese Frage gestellt, die sie so aufwühlte? Sie verstand sein Verhalten nicht ganz. Fragte er, weil sie nicht zu Georgs Beisetzung eingeladen war? Seine Eltern hatten nichts von ihr gewusst. Oder weil sie damals am Gedenkstein so geweint hatte und beinahe zusammengebrochen wäre? Weil sie beim Blick auf den toten Georg im Amphitheater am Gifizsee scheinbar keine Regung gezeigt hatte? Der Anblick hatte sie geschockt, mechanisch hatte sie ihre Arbeit verrichtet. Zu Hause hatte sie sich auf ihr Bett geworfen und auf das Kopfkissen eingeschlagen, bis es geplatzt war. Sie vermisste Georg. Manchmal schwor sie den Tätern Rache. Solche Gedanken