Noam Chomsky wurde 1928 in Philadelphia geboren und konnte die Spaltung der USA in Arm und Reich während seines Lebens beobachten. Lange habe der »amerikanische Traum« die Menschen inspiriert, also die Hoffnung, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen. »Auch wer arm geboren ist, kann es durch harte Arbeit zu Wohlstand bringen«, lautete der amerikanische Traum. »Gemeint ist damit, dass jeder einen gut bezahlten Job finden, sich ein Haus und ein Auto leisten und seinen Kindern eine Ausbildung finanzieren kann«, erklärt Chomsky. Doch vom amerikanischen Traum ist nichts mehr übrig. Die soziale Mobilität ist heute in den USA deutlich geringer als in Europa. Wer in den USA in eine arme Familie geboren wird, bleibt mit großer Wahrscheinlichkeit arm. Die Geschichte vom Tellerwäscher zum Millionär kann er oder sie sich nur noch im Kino oder auf Netflix anschauen.67
Unter den vier großen ethnischen Gruppen in den USA haben die Schwarzen und Latinos im Durchschnitt weniger Schulbindung absolviert und sind im Durchschnitt auch mehr von Armut betroffen als Weiße und Asiaten. Doch auch Millionen von gut ausgebildeten weißen US-Amerikanern sind heute arm. »Dem Mittelstand in Amerika geht es schlecht. Neu trifft es auch gut ausgebildete Weiße«, berichtete die Neue Zürcher Zeitung im Jahr 2016. »Das Vermögen ist zunehmend in den Händen einer kleinen Oberschicht konzentriert.« Der Aufstieg in diese Oberschicht ist für viele nicht mehr möglich. Auch gut ausgebildete Frauen und Männer »müssen plötzlich feststellen, dass die amerikanische Formel, nach der jeder es schaffen kann, wenn er nur hart arbeitet, nicht mehr gilt«.68
Um auf die bestehenden großen Missstände aufmerksam zu machen, zogen 2011 in New York im Rahmen der Occupy-Wall-Street-Bewegung tausende von Demonstranten durch Manhattans Finanzdistrikt und erklärten: »Wir sind die 99 Prozent!« Die Occupy-Bewegung prangerte den übermächtigen Einfluss der reichsten 1 Prozent gegenüber den 99 Prozent der amerikanischen Bevölkerung an und forderte eine stärkere Kontrolle des Banken- und Finanzsektors durch die Politik und die Verringerung des Einflusses der Wirtschaft auf politische Entscheidungen. Weil aber die 300000 Superreichen sowohl die Wirtschaft wie auch die Politik kontrollieren, hat sich nichts geändert. Louis Brandeis, Richter am Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten, hatte einst weise gesagt: »Wir können in diesem Land eine Demokratie oder großen Reichtum, konzentriert in den Händen von wenigen, haben, aber nicht beides.«69
Die Superreichen bestimmen die Politik
Der Präsident ist der oberste Befehlshaber der US-Streitkräfte und daher der formell mächtigste Mann im Lande. Der Präsident führt die Kriege und steht im Fokus der Medien und auch der Historiker. Doch hinter dem Präsidenten ziehen die Superreichen die Fäden und bestimmen, wer überhaupt ins Weiße Haus einzieht. Die Präsidentschaftswahlen, die in den USA alle vier Jahre mit viel Getöse und einem erbitterten Kampf zwischen Republikanern und Demokraten durchgeführt werden, erlauben dem Volk nur, aus einer Auswahl von Reichen ihren Favoriten auszuwählen. Niemals könnte jemand aus der Mittelschicht oder gar Unterschicht zum Präsidenten gewählt werden, wenn er nicht von den Superreichen unterstützt wird, weil diesen Bevölkerungsgruppen die finanziellen Mittel für den Wahlkampf fehlen. Zu konkreten Sachfragen, also zum Beispiel zum Angriff auf den Irak 2003, werden die US-Bürger nicht befragt, ihre Meinung zählt nicht, weil die USA keine direkte Demokratie sind. Solche Entscheide fällt allein der Präsident, zusammen mit seinem mächtigen Nationalen Sicherheitsrat (NSC) und dem Kongress, und dies immer in enger Abstimmung mit den Wünschen der Superreichen, die sowohl das Weiße Haus und auch den Kongress steuern.
Der frühere amerikanische Präsident Jimmy Carter bestätigte 2015, dass in den USA die Superreichen die Fäden der Macht in der Hand halten. »Heute sind die USA eine Oligarchie. Politische Bestechung entscheidet darüber, wer als Präsidentschaftskandidat nominiert und zum Präsidenten gewählt wird«, so Carter resigniert. »Und dasselbe gilt für die Gouverneure der Bundesstaaten, wie auch für die Senatoren und die Abgeordneten des Kongresses.« Über finanzielle Zuwendungen bestimmen die Superreichen, wer Präsident wird und wer in den Kongress einzieht. Alle US-Präsidentschaftskandidaten müssen mindestens über 300 Millionen Dollar für den Wahlkampf verfügen, erklärte Carter im Gespräch mit der bekannten US-Fernsehjournalistin Oprah Winfrey. So viel Geld können Menschen aus der Unterschicht und Mittelschicht niemals aufbringen. Nicht nur das Weiße Haus, sondern auch der Senat mit seinen 100 Abgeordneten, wie auch das Repräsentantenhaus mit seinen 435 Abgeordneten, seien fast vollständig in den Händen der Superreichen. Zwischen den Demokraten und den Republikanern gäbe es diesbezüglich keine Unterschiede, so Carter, und eine einflussreiche dritte Partei gibt es in den USA nicht. »Die Stelleninhaber, sowohl Demokraten als auch Republikaner, sehen diesen unbeschränkten Geldfluss als großen Vorteil für sich. Wer schon im Kongress sitzt, kann seinen Einfluss teuer verkaufen«, erklärt Carter. »Wir sind jetzt eine Oligarchie geworden anstatt einer Demokratie«, beklagt Carter. »Und ich glaube, das ist der größte Schaden an den fundamentalen ethischen und moralischen Standards des amerikanischen politischen Systems, den ich je in meinem Leben gesehen habe.«70
Solche Aussagen hört man in den US-Medien nur sehr selten. Es ist verdienstvoll, dass Oprah Winfrey, die mit einem geschätzten Vermögen von fast drei Milliarden Dollar selbst zu den Superreichen gehört, die Kritik von Carter auf ihrem eigenen Fernsehsender ausgestrahlt hat. Denn die Aussage ist brisant und wichtig. Als früherer Präsident kennt Carter die politischen Prozesse in den USA genau. Und weil er nicht mehr im Amt ist, kann er seine Meinung als Pensionär offen kundtun. In den deutschsprachigen Massenmedien in Europa wurde die Analyse von Carter aber ignoriert. Die Leitmedien ARD, ZDF, ORF, SRF, Spiegel, Süddeutsche Zeitung und Neue Zürcher Zeitung bezeichnen die USA weiterhin als Demokratie und nicht als Oligarchie, wodurch die tatsächliche Herrschaft der 300000 Superreichen verschleiert wird.
Große US-Unternehmen wie der Rüstungskonzern Lockheed Martin, der Erdölkonzern ExxonMobil, der Onlinehändler Amazon, die Investmentbank Goldman Sachs oder der Vermögensverwalter Black Rock beschäftigen eine Vielzahl von Lobbyisten, um die Interessen der Superreichen, die deckungsgleich mit den Interessen der größten US-Unternehmen sind, durchzusetzen. Die schwachen US-Gewerkschaften und Umweltschutzverbände sind dagegen fast machtlos. »Die größten Unternehmen beschäftigen teilweise mehr als 100 Lobbyisten, was es ihnen ermöglicht, überall und jederzeit präsent zu sein«, erklärt US-Politologe Lee Drutman, der an der Johns Hopkins University unterrichtet. Unternehmen deklarieren jedes Jahr mehr als 2,6 Milliarden Dollar an Aufwendungen für Lobbyarbeit. »Für jeden Dollar, den Gewerkschaften und öffentliche Interessenvertretungen aufbringen, wenden Großunternehmen und ihre Verbände mittlerweile 34 Dollar auf.«71
Hin und wieder werden Vertreter ins Repräsentantenhaus gewählt, die sich weigern, den Superreichen zu dienen. Zu diesen mutigen Politikerinnen zählt Alexandria Ocasio-Cortez aus New York. Im Januar 2019 zog sie mit nur 29 Jahren als jüngste Abgeordnete ins Repräsentantenhaus ein. »Wir haben ein System, das grundlegend kaputt ist«, kritisierte die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez während einer Sitzung des Kongressausschusses für Kontrolle und Reformen in Washington. Wer Präsident werden möchte, könne seinen Wahlkampf durch Ölfirmen und die Pharmaindustrie finanzieren lassen und danach, sobald er im Weißen Haus ist, die Gesetze im Sinne der Erdölindustrie und Pharmaindustrie anpassen. Daher seien die USA in der Hand der Konzerne und ihrer Besitzer, der Superreichen.72
In meinem Heimatland, der Schweiz, treffen sich jedes Jahr die Superreichen aus ganz verschiedenen Ländern und