„Du sagst oft mehr, wenn du nichts sagst.“
Louisa lächelte nur. „Tom hat was gefunden, das ihm gefällt!“
Damit war die Unterhaltung für Louisa beendet und Katrin stand da, als habe man ihr mit der Schaufel eine direkt gegen die Stirn gegeben. Zu ihrer eigenen Überraschung musste sie die sanfte, aber dennoch bestimmte Abfuhr Louisas erst einmal verdauen.
Natürlich, beide kannten sich seit der Grundschule. Der eine konnte den anderen wie ein Buch lesen. Zurückweisungen waren bei ihnen bisher kein Thema gewesen.
Beide wussten aber auch, wenn die Zeit gekommen war, das alles klärende und bereinigende Gespräch würde wie das Amen in der Kirche stattfinden.
Jetzt aber, da sie seit gut drei Monaten aus der Schauspielschule heraus war und sie sich manchmal fragte, wie es denn jetzt weiter gehen sollte, war ihr, als würde Louisas Abfuhr sie in Flammen setzen.
Nicht so, wie sie für ihre Rollen oder die jungen, attraktiven Schauspielkollegen in Flammen stand, sondern eher, als würde man in einer Lohe aus Feuer stehen und aufs Qualvollste verbrannt werden.
Sie wollte Louisa gerade nach, sie bei der Hand nehmen und ihr entschlossen, wie es nun einmal Katrins Art war, sagen: „Hey, sag jetzt, was los ist. Du weißt genau, dass ich das nicht abkann, wenn es dir nicht gut geht“, als Conny neben ihr auftauchte. In der Hand zwei frisch gepresste Orangensäfte, den einen für sich, den anderen hielt er ihr entgegen.
„Für dich.“
„Ich hab keinen Durst.“
„Hattest du in der Disco auch nicht, und da wolltest du einen Sex on the Beach.“
„Das ist wirklich lieb von dir, aber …“
„Trink …“, sagte Conny bestimmt. „Jetzt!“
Erschrocken nahm sie das ihr gereichte Glas und hauchte ein: „Danke.“
Conny hingegen sagte nur: „Interessant“ und drehte sich von ihr weg.
Er war schon merkwürdig …
Das machte Katrin Angst.
Angst deshalb, weil sie schon die ganze Zeit über im Hotel das merkwürdige Gefühl hatte, von Conny beobachtet zu werden. So, als würde er, vor ihren Blicken verborgen, hinter einer Hecke stehen und jeden ihrer Schritte ganz genau verfolgen.
Gestern Mittag hatte er sie schon dazu aufgefordert, mit ihm schwimmen zu gehen, obwohl sie es gar nicht wollte. Doch als er sagte: „Ich will jetzt, dass du mit mir schwimmen gehst“, hatte sie getan, was er von ihr verlangte.
Ins kalte Wasser war sie gesprungen.
Obwohl sie nichts mehr als das hasste.
Und kalte Wasserspritzer auf der Haut!, ergänzte sie. Mann, die hasse ich wie die Pest!
Allein der Gedanke daran, knietief im Wasser zu stehen, und ein Verrückter, wie zum Beispiel Oliver einer war, würde einfach an ihr vorbei laufen und sie von oben bis unten nass spritzen, ließ sie einen eisigen Schauer auf dem Rücken spüren.
Sie hatte Conny nur verwirrt angeschaut und sich über sich selbst gewundert, dass sie die drei Bahnen mit ihm geschwommen war, die er einforderte.
Conny macht mir irgendwie Angst, bestätigte sie sich, während sie Louisa nachsah, die zu Tom gegangen war, liebevoll dessen Hand ergriff und ihr Kinn auf seine Schulter legte.
Conny macht dir keine Angst, meldete sich eine andere, tief in ihr verborgene Stimme. Jene Stimme, die immer verdächtig unangenehm nach derjenigen ihrer auf Erfolg getrimmten Tante klang.
Etwas herrisch, etwas besserwisserisch, immer darauf bedacht, keine Schwäche zu zeigen.
… du hast Angst vor dir selbst.
Vor mir?
Oh ja. Vor dir, Mädchen. Weil du gerade nicht weißt, wer du bist und wohin es gehen soll. Weil du dir Dinge befehlen lässt, die du gar nicht machen willst.
Angst …
… weil nichts mehr planbar ist.
*
Die Radtour hinauf nach Arta war anstrengender gewesen, als Louisa es sich eingestehen wollte. Besonders deshalb, weil sie nach der Hälfte der Strecke auf der asphaltierten und von der Sonne aufgeheizten Straße das Gefühl hatte, bei lebendigem Leib gebacken zu werden. Sie hatte die felsige, karg erscheinende Landschaft der Massís d’Artà immer sehr gemocht. Besonders die Olivenplantagen, von hüfthohen Mauern umgeben, hatten ihre Aufmerksamkeit immer komplett auf sich gezogen. Darüber hinaus die nur wenige Meter aufragenden Felsmassive, die von grünen, ausfächernden Zwergpalmen bewachsen waren. Dazu die in der Ferne sich abzeichnenden, typischen mallorquinischen Häuser und kleinen Höfe. Da waren die nur mit Kies bedeckten Auffahrten zu den ebenfalls karg gehaltenen Grundstücken, die ockerfarbenen Fassaden der Häuser und die kunstvoll und mit Liebe hergerichteten Zäune.
Doch gerade jetzt, als Tom ihr davonradelte, von der Hitze kaum beeindruckt, meinte sie, dass sie einen Fehler begangen hatte, als sie sich hatte überreden lassen, mit dem Fahrrad ins Landesinnere aufzubrechen.
„Arta haben wir noch nicht gesehen“, hatte Tom heute Morgen beim Frühstück festgestellt und sie groß aus seinen dunklen, wunderschönen Augen angesehen, dass es ihr ein angenehmes, ein verliebtes Kribbeln in den Bauch jagte und sie manchmal verwirrte.
Verwirrte, weil sie sich einfach nicht erklären konnte, dass sie einen Menschen so sehr lieben konnte.
Er war einfach alles für sie.
Und so hatte sie, ungeachtet ihres inneren Unbehagens, ihm ein Lächeln geschenkt und gesagt: „Gern.“
„Wisst ihr, warum ihr Arta noch nie gesehen habt?“, wollte Oliver wissen, als er sich zu ihnen an den Tisch setzte, seinen Teller mit Ei, Speck und roten Bohnen befüllt. „Weil es da langweilig ist!“
„Ist es nicht“, hatte Tom seine Entscheidung verteidigt. „Das ist eine Sehenswürdigkeit. Damit bildet man sich.“
„Du solltest lieber auf deinem Konto etwas Vermögen bilden“, war Ollis lachende Antwort gewesen.
Eine Antwort, die Louisa in Rage gebracht hatte. Deshalb zischte sie: „Keine Sorge, Tom wird Erfolg haben.“
„Hat er“, lachte Oliver nur, so wie immer, wenn er merkte, dass er mal wieder übers Ziel hinausgeschossen war. Die letzten beiden Tage hatte er unablässig darüber gelästert, wie weit Tom seinem Traum, von der Schreiberei einmal leben zu können, noch entfernt war.
Sie aber, in ihrer schon fast vergötternden Liebe zu Tom, war sich sicher, dass er es eines Tages schaffen würde.
Dass er ein Buch schrieb, das einem Verleger gefallen und ihn überzeugen würde. Das ein großer Erfolg wurde.
Irgendwann …
Auch jetzt, da Tom zu merken schien, dass Louisa hinter ihn zurückfiel und sein Fahrrad zum Stehen brachte, begriff sie, dass sie Tom niemals verlassen würde. Dass sie alles mit ihm durchstehen würde. Alles. Ganz gleich, was. Auch dann, wenn er kein Erfolg als Schriftsteller haben würde.
Sie würde ihm den Rücken freihalten, egal, was es sie selbst kostete.
Egal, was ihr Vater dazu sagen würde, und das meinte sie ehrlich, weil sie es sich so fest vorgenommen hatte.
Der hatte sie drei Tage, bevor sie aufgebrochen waren, während der Arbeit angerufen. Ein zunächst unvermittelter, sich nur nach ihrem Wohlbefinden erkundigender Anruf, wie es schien. Nur: Ihr Vater meldete sich niemals nur so, weil er hören wollte, wie es seiner studierenden Tochter ging.
Er hatte immer einen Hintergedanken.
Ganz der Polizist, der eine Frage nicht aus dem Bauch heraus stellt. Sondern, weil er damit etwas bezweckt.
„Alles gut bei dir?“,