»Lohnt sich«, verriet sie mir. »Denn irgendwann kommen die alle wieder, um ihr eigenes Brautkleid auch bei mir zu kaufen.«
Karen war ein paar Jahre älter als ich, und ich merkte rasch, dass ich mir einiges von ihr abschauen konnte. Ihr Geschäftssinn imponierte mir, und auch ihr Gespür für die richtigen Worte im Umgang mit den Kundinnen. Die Tatsache, dass sie als alleinerziehende Mutter den Laden fast allein stemmte, kam noch dazu.
Als wir uns kennenlernten, feierte Jessica, Karens Tochter, gerade ihren dreizehnten Geburtstag.
»Ich sag nur: Pubertät«, seufzte Karen und verdrehte die Augen.
Wir freundeten uns an. Selbst als ich im Laufe der Zeit zu anderen Ge-
schäftspartnern auch engere Kontakte aufbaute, blieb die Zusammenarbeit mit Karen etwas Besonderes. Weil wir nicht nur beruflich toll harmonierten, sondern uns auch privat schätzten. Sie feierte mit mir meinen ersten Jah-resabschluss, und immer, wenn ich Fragen hatte, stand sie mir mit Rat und Tat zur Seite. Sie legte Werbeflyer für meine Agentur in ihrem Laden aus und empfahl mich weiter. Umgekehrt tat ich das Gleiche für sie, aber da ich noch relativ neu war, mit entsprechend geringerem Kundenecho.
»Du bist auf dem richtigen Weg, Julia«, lobte Karen mich. »Wart’s nur ab, in spätestens drei Jahren boomt deine Agentur!«
*
Sie hatte recht. Im dritten Sommer nach meiner Agenturgründung wusste ich kaum noch, wie ich die zahlreichen Anfragen bewältigen sollte, und überlegte schon, eine Assistentin einzustellen. Draußen herrschte bestes Hochzeitswetter, und ich hetzte durch die Gegend, um meinen straffen Terminplan zu schaffen. Da mussten Gartenlokale festlich dekoriert werden, mehrstöckige Tor-ten bestellt oder Blumenschmuck pünktlich geliefert werden. Schließlich gehörte all das zu meiner Verantwor-tung.
Ich war ziemlich gestresst, aber gleichzeitig überglücklich, weil die Agentur so gut lief. Daher irritierte mich Karens Reaktion, als ich sie anrief, um einen Termin zur Anprobe in der nächsten Woche zu vereinbaren.
»Kannst du vielleicht vorher mal vorbeikommen? Ich würde gern allein mit dir sprechen.«
So förmlich kannte ich sie gar nicht. Normalerweise gingen wir anders miteinander um. Wie Freundinnen eben.
»Was ist los?«, fragte ich bestürzt, doch sie wollte es mir am Telefon nicht sagen.
Also fuhr ich noch am gleichen Abend zu ihr. Karens ernste Miene ließ nichts Gutes erahnen. Trotzdem begriff ich zunächst gar nicht, worauf sie hinauswollte, als sie mir erklärte, sie sei in letzter Zeit mehrmals bestohlen worden.
»Beim ersten Mal, als mir aufgefallen ist, dass die Kasse nicht stimmt, habe ich mir noch nichts weiter dabei gedacht«, sagte sie. »Sogar mir können Fehler passieren. Obwohl du ja weißt, dass ich aufpasse wie ein Luchs.«
Ja, das war mir bekannt. Was ihre Abrechnung oder die Buchführung betraf, war Karen äußerst penibel. Mindestens so sorgsam wie beim Umnähen und Anpassen der Kleider.
»Dann fehlten wieder hundert Euro.« Ihr Gesicht war angespannt, die Arme hielt sie starr vor dem Körper verschränkt. »Ich konnte es mir nicht erklären. Aber vielleicht hatte jemand unbemerkt in die Kasse gegriffen, sie ist ja leicht zu öffnen.«
Ich betrachtete das altmodische, massive Ungetüm, das auf Karens Ladentheke stand. Die Registrierkasse aus dem letzten Jahrhundert war ein echter Blickfang. Viele Kundinnen schmunzelten, wenn Karen seitlich an der Metallkurbel drehte, um ihnen das Wechselgeld herauszugeben. Früher hatte beim Öffnen des Scheinfachs ein Glöckchen geklingelt, aber das war schon lange kaputt. Und im Gegensatz zu modernen Ladenkassen gab es leider keine weitere Sicherung.
»Hm, seltsam. Hast du Anzeige erstattet?«, fragte ich, weil ich in diesem Moment immer noch nicht begriff, dass Karen mich verdächtigte.
Sie musterte mich kühl.
»Nein, ich wollte zuerst mit dir sprechen.«
Wie sich herausstellte, fehlte nicht nur Geld aus ihrer Kasse, sondern sie vermisste auch ein paar wertvolle Accessoires.
»Erinnerst du dich an den Haar-schmuck aus der letzten Kollektion? Davon müssten noch drei Diademe im Regal liegen. Es sind aber nur zwei. Von den Kleiderbroschen fehlen auch welche. Insgesamt sind mir in den letzten Wochen Dinge im Wert von über tausend Euro abhanden gekommen, wie es scheint.«
Bei der Summe wurde mir übel.
»Warum siehst du mich so an?«, fragte ich mit gepresster Stimme. »Denkst du etwa, ich habe etwas damit zu tun?«
»Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, was ich denken soll.« Karen eröffnete mir, dass sie inzwischen regelmäßig ihren Warenbestand überprüfte. Der teure Haarschmuck fehlte seit letztem Donnerstag. Da war ich nachmittags mit einer Kundin spontan vorbeigekommen, die zum zweiten Mal heiratete und noch unschlüssig war, ob sie überhaupt ein Brautkleid tragen wollte oder doch lieber einen schicken Hosenanzug. Auch die beiden Tage, an denen Karen zuletzt abends eine Differenz in der Kasse bemerkt hatte, waren jeweils welche, an denen ich tagsüber dagewesen war.
»Ein bisschen viele Zufälle, oder?«, sagte Karen.
Dass sie mir zutraute, sie zu bestehlen, war schlimmer als ein Schlag ins Gesicht. Ich war zu schockiert, um mich ernsthaft verteidigen zu können. Für mich kam dieser Vorwurf total überraschend –, während Karen sich schon seit einiger Zeit damit auseinandergesetzt hatte. Sie war fest davon überzeugt, dass der Dieb jemand sein musste, den sie kannte. Logisch, ein spontaner Dieb hätte ja nur einmal zugeschlagen und sich nicht wiederholt in ihrem Laden bedient. Ich starrte sie fassungslos an. Kein Wunder, dass sie mir gegenüber so reserviert auftrat! Meine Beteuerungen, dass ich es nicht war und niemals auf die Idee käme, sie zu bestehlen, nahm sie jedenfalls entgegen, ohne eine Miene zu verziehen.
»Nun, ich hoffe, wir müssen über dieses Thema nie wieder sprechen«, waren ihre Worte zum Abschied. Es sollte wohl eine Warnung sein.
Da war mir klar, dass ich eine Freundin verloren hatte. Aus beruflichen Gründen waren wir vorerst weiter aufeinander angewiesen. Aber Karen vertraute mir nicht mehr.
*
Es tat weh. Nie zuvor war ich falsch beschuldigt worden. Ich kann kaum beschreiben, wie scheußlich sich das anfühlte. Als ich das nächste Mal eine Kundin zur Anprobe begleitete, gefror mir fast das Lächeln im Gesicht, weil ich mich permanent beobachtet fühlte. Sonst hatte ich mich in Karens Brautladen völlig ungezwungen bewegt und gelegentlich selbst ein anderes Kleid oder einen passenden Schleier geholt, nun saß ich wie festgenagelt auf meinem Stuhl und wagte kaum, irgendetwas anzufassen. Sonderlich hilfreich für meinem Job ist so ein Verhalten natürlich nicht.
Das Ganze belastete mich enorm. Der Verdacht stand weiterhin im Raum. Ich wollte ihn unbedingt aus der Welt schaffen und Karen beweisen, dass sie im Unrecht war. Ich spürte, dass sie selbst Zweifel hatte, denn auch ihre Fröhlichkeit wirkte aufgesetzt und gespielt. Doch wer außer mir kam als Täter infrage? Karen beschäftigte zwar stundenweise eine Aushilfe, aber die war nur freitags und samstags im Laden. Eine der Schneiderinnen, die manchmal für sie nähten? Einer der Lieferanten oder Paketboten? Die hielten sich doch nur für Minuten im Laden auf und selten unbeaufsichtigt. Ich zerbrach mir den Kopf, während ich unentwegt darüber nachdachte.
Dann fiel mir die Putzkraft ein. Hatte Karen sich nicht neulich darüber beschwert, dass ihre frühere Hilfe gekündigt hatte und die neue Kollegin nicht zu ihrer Zufriedenheit arbeitete? An welchen Tagen machte die Frau denn im Laden sauber?
»Das ist unterschiedlich«, gab Ka-
ren mir widerstrebend Auskunft. »Sie kommt und geht oft, wie sie Lust hat. Weil sie noch in dem großen Bürokomplex nebenan putzt. Der Job ist wohl lukrativer als das, was ich ihr zahle.«
»Weißt du noch, ob sie zufällig an denselben Tagen hier war wie ich? Könnte es nicht sein, dass sie dich bestohlen hat?« Ich kam mir ein bisschen schäbig vor,