»Er hat versucht, seine Haut zu retten. Das ist doch vollkommen verständlich. Solange man ihm keine Beziehung zum mutmaßlichen Opfer nachweisen konnte, war er einigermaßen auf der sicheren Seite! Jetzt sieht es weniger gut aus.«
»Trotzdem!«, sagte ich. »Ich fühle mich hintergangen und benutzt.«
»Das darfst du so nicht sehen. Es war ja wohl kaum persönlich.«
Ich seufzte. Diese ganze Sache würde mir noch graue Haare bringen.
»Denk dran«, sagte Vater. »Er hat das Schweigegeld abgelehnt. Das spricht absolut für ihn.«
Das stimmte. In meinen dunkelsten Stunden fragte ich mich jedoch, ob er dies nur getan hatte, damit ich ihm glaubte. Dann wieder verwarf ich diesen Gedanken als unlogisch.
Je mehr ich grübelte und mich schlaflos hin und her wälzte, desto mehr musste ich meinem Vater recht geben. Zwar war nicht von der Hand zu weisen, dass Claas mich auf das Schändlichste belogen hatte, aber mehr und mehr verstand ich nun seine Beweggründe. Und je mehr ich diese verstand, desto sicherer wurde ich, dass er unschuldig war. Ich blieb seine Anwältin, und wir gingen gemeinsam in die Verhandlung.
*
Es war ein langwieriger Prozess, der über Wochen andauerte. Mehrere Gutachter kamen zu Wort, etliche Zeugen wurden gehört. Am Ende konnte man Claas die Tat nicht nachweisen. Er wurde freigesprochen. Eine bleiche Lucy verließ den Saal.
»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte Claas und drückte mich an sich. »Sie waren einfach toll!«
»Ich hab nur meinen Job gemacht«, wehrte ich ab.
Claas strahlte mich an. Mir wurde warm ums Herz.
»Nächsten Freitag müssen Sie mit mir essen gehen!«
»Gern!«, sagte ich.
Wir verabschiedeten uns, und er warf mir einen sehr langen Blick zu. Wieder wurde mir ganz heiß.
*
Hi, Sarah!« Hinter mir tauchte Franz, ein alter Studienfreund, auf, der ebenfalls Anwalt ge-
worden war. »Hab schon gehört, dass du gewonnen hast!«
Ich nickte lächelnd.
»War nicht ganz einfach, oder?«, fragte Franz.
»In der Tat nicht!«, stimmte ich zu.
»Erst sollten wir ja den Fall übernehmen!«
»Ihr?«, fragte ich. »Wieso habt ihr nicht?«
»Die Seefeldts wollten unbedingt eine Frau! Und die hatten wir nicht!«
Warum versetzte mir diese Aussage einen Stich? Weil es so geplant klang? So abgeklärt? Dabei war es logisch, sich in einem solchen Fall von einer Frau vertreten zu lassen. Das sah ich ja selbst ein.
»Und?«, fragte Franz. »Glaubst du, er ist unschuldig?«
»Ja!«, sagte ich. »Immerhin wollte er sich nicht auf ein Bestechungsgeld einlassen!«
»Das hat sie abgelehnt!«, sagte Franz.
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Den Rat mit dem Schweigegeld habe ich ihm auch gegeben. Der Vater sagte, sie hätten es bereits versucht, aber sie habe kein Geld annehmen wollen. Von dem Moment an war ich mir übrigens sicher, dass er sie vergewaltigt hat!«
Ich erbleichte.
»Was ist los?«, fragte Franz.
»Nichts! Ich muss gehen!«
Abrupt wandte ich mich ab und lief zu meinem Wagen. Dort saß ich eine ziemlich lange Weile, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Heiß und kalt lief es mir den Rücken hinunter.
Er war es, hämmerte es in mir. Er war es. Und du hast es von Anfang an gewusst. Hast es in seinen Augen ge-
lesen! Wie konntest du dich nur derart ablenken lassen? Einwickeln lassen? Tränen rannen mir die Wangen hinunter. Ich schluchzte auf. Und ich hatte mich verliebt! In einen widerlichen Sadisten und Lügner verliebt! Hatte ihm jedes gottverfluchte Wort ge-
glaubt. Wie dumm ich war! Wie grenzenlos dämlich!
Eine Stunde saß ich in meinem Auto und grübelte. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. O mein Gott…
*
Wie eine Wahnsinnige trat ich das Gaspedal durch. Ich fuhr wie der Henker. Durch den dichten Berufsverkehr brauchte ich eine Ewigkeit.
Ich kam zu spät. Lucy bekam kaum noch Luft, als sie mir die Tür öffnete. Ihr Gesicht war eine einzige Wunde. Es war grässlich.
»Es tut mir so leid!«, stammelte ich.
»Ich wollte noch weg!«, keuchte sie. »Aber da war er auch schon da!«
»Ich rufe die Polizei!«, sagte ich. »Ich sage für Sie aus!«
»Das brauchen Sie nicht! Hier!« Sie reichte mir ihr Handy. »Ich hab alles aufgenommen!«
Sie spielte die Aufnahme ab, und ich lernte endlich den echten Claas von Seefeldt kennen. Es war so widerlich, ich finde keine Worte da-
für. Er vergewaltigte Lucy unter Hohngelächter, während er immer wieder auf sie einschlug. Und er lachte auch über mich.
»Dieses kuhäugige Walross!«, kicherte er. »Ach, Lucy, du hättest sehen müssen, wie sie mich angehimmelt hat. Wie ein plumper kleiner Teenager. Es war zum Schreien!«
Tiefste Röte überzog meine Wangen.
»Hab sogar überlegt, mit ihr ins Bett zu gehen. Als kleines Danke-schön! Aber wie, bitte, hätte ich bei der einen Ständer kriegen sollen? Ach, Lucy, jetzt sind wir endlich wieder vereint. Jetzt machst du mir aber keine Dummheiten mehr!«
Es klatschte laut, und ich konnte mir vorstellen, was er tat.
»Das alles hat ihn so erregt!«, sagte Lucy. »Er ist abgegangen wie noch nie. »Ich hab gedacht, diesmal macht er mich kalt!«
»Jetzt machen wir ihn fertig!« Ich zeigte auf das Handy.
»Ja!«
Am Ende hat seine Arroganz Claas besiegt. Dass Lucy ihm eine Falle stellen könnte, darauf war er nicht gekommen. Mit Freuden sehe ich der Verhandlung entgegen. Ich habe gesehen, dass er wieder eine Anwältin hat. Aber auch das kann ihn diesmal nicht retten.
Beruflich lief es in jenem Sommer prächtig. Ich war so stolz auf das, was meine kleine Hochzeitsagentur leistete –, bis ich plötzlich unter schlimmen Verdacht geriet. Daran drohte schließlich sogar meine Existenz zu scheitern…
Es war ein finanzielles Wagnis, als ich mich kurz vor meinem 30. Geburtstag entschied, mir einen beruflichen Traum zu erfüllen: Ich wollte mich selbstständig machen, mit einer eigenen Hochzeitsagentur. Was ich dafür brauchte, waren gute persönliche Kontakte zu allen Branchen rund ums Heiratsgeschäft: Juweliere, Blumenläden, Catering-Services, Autovermietungen mit besonderen Wagen, Fotostudios, Fri-seursalons und natürlich Modege-schäfte. Wochenlang putzte ich Klin-ken. Das erste Jahr war echt anstrengend.
Was mir sehr half, war die Freund-schaft zu Karen. Mit der Besitze-
rin des zauberhaften Brautmoden-geschäfts verstand ich mich sofort, wir hatten nämlich den gleichen Ge-
schmack. Karens Laden war komplett mit Antiquitäten möbliert, darunter befand sich auch ein riesiger Wand-spiegel mit goldenem Rahmen.
»Ich glaube, jede Frau, die sich darin im Brautkleid betrachtet, fühlt sich wie eine Prinzessin im Märchen«, sagte ich fasziniert bei meinem Antrittsbesuch.
Karen lachte.
»Das ist der Sinn der Sache.«
Meine allererste