Nichts ist mehr, wie es war.
Den Vormittag verbringe ich im Atelier. Diesmal geht meine Arbeit erstaunlich gut voran, besser, als ich erwartet hätte. Aus einer Bleistiftskizze formen sich auf der Leinwand erste Konturen. Ich gestatte mir einen Hauch Zufriedenheit und leiste mittags Madame Bertrand zum Lunch Gesellschaft.
»... meine Tochter hat in Paris studiert«, sagt Madame Bertrand gerade eben und ich habe gar nicht mitbekommen, wie wir eigentlich auf das Thema kamen.
Rasch stelle ich die erstbeste Frage, die mir einfällt: »Wie alt ist denn Ihre Tochter?«
»Oh, vier Jahre jünger als Henri.«
Ich nicke freundlich, weil ich nicht mehr weiter weiß, weil es mich eigentlich auch nicht interessiert und weil ich eigentlich auch nur den Namen »Henri« gehört habe.
Madame Bertrand plätschert unbeirrt weiter: »Henri war immer wie ein Bruder für sie. Seine Eltern haben für das Studium meiner Tochter bezahlt. Henri und Simone gingen auch auf dieselbe Schule. Da gab es keinen Standesunterschied.« Zufrieden hat sie den letzten Satz betont. »Und jetzt ist sie verlobt! Stellen Sie sich vor, Mademoiselle Waldmann, meine kleine Simone verlobt!« Dabei lächelt sie so verzückt und so ansteckend, dass sich meine Mundwinkel ebenfalls heben.
»Ein großer Schritt«, sage ich. »Wer ist denn der Glückliche?«
»Ein Anwalt aus Paris! Sehr netter junger Mann. Es ist alles so aufregend!«
So aufregend, dass ihre Augenwinkel feucht werden und ich ihr rasch eine Serviette über den Tisch schiebe.
»Danke«, sagt sie leise und drückt meine Hand, während sie sich mit der anderen die Augenwinkel abtupft.
Kapitel 14
Henris Ankunft am frühen Abend ist wie das von Madame Bertrand vielbeschworene Gewitter. Der Motor seines Wagens als dumpfes Grollen aus der Ferne, schließlich der energische Schlag der Autotür wie ein Blitz, der mich durchzuckt, gerade als ich durch die Eingangshalle gehe, um nach dem Abendessen noch ein wenig am Meer entlang zu spazieren. Zwar beschleunige ich meine Schritte zur Terrassentür, aber ich bin nicht schnell genug.
Seine Stimme hallt von den Wänden, vom weißen Marmor, durchbohrt meinen Rücken, dringt in mein Mark.
»Helena!«
Ich fühle mich ertappt und drehe mich rascher um, als ich eigentlich wollte.
»Guten Abend, Henri«, sage ich leise.
Einen Augenblick brandet die Stille zwischen uns hin und her. Jeder von uns könnte ein Wort in die Stille legen, aber keiner tut es in diesem Moment.
Henri löst endlich die Anspannung. »Morgen um zehn Uhr im Atelier und bitte pünktlich! Ich habe noch anderes zu tun!«
Scharf atme ich ein und gehe zur Tür. Rasch drücke ich die Klinke hinunter. Verschlossen. Röte schießt mir ins Gesicht. Wortlos durchquert er die Halle, tritt er hinter mich und steckt einen kleinen goldenen Schlüssel in das Schloss. Für einen Wimpernschlag ist er mir ganz nahe und ich sauge seinen herben Duft tief ein. Unser Atem im selben Takt. Dann dreht er den Knauf und entlässt mich in die Dämmerung und in einen schwülen Abend.
Kapitel 15
Diesmal ist er tatsächlich pünktlich und trägt denselben Anzug wie bei unserer ersten Sitzung im Atelier.
Außer einem knappen »Guten Morgen!« sagt er nichts und setzt sich sehr gerade auf den Hocker am Fenster.
Immerhin hat er mich nicht weggeschickt, immerhin will er, dass ich meine Arbeit fortsetze. Vielleicht ist das so mit ihm. Einmalig und unverbindlich. Mit mir aber nicht, denke ich. Wie kann ich so weitermachen, als wäre nichts geschehen? Wie kann er es? Als hätte er mich nicht fühlen lassen, was ich noch nicht kannte?
Und wieder zittert mein Bleistift über dem Skizzenblock. Schräge Linien verformen sich vor meinen Augen, bis ich es schließlich nicht mehr aushalte.
»Sprechen Sie nicht mehr mit mir?«, platze ich heraus.
Sehr langsam dreht er den Kopf in meine Richtung. Zum ersten Mal seit unserer leidenschaftlichen Begegnung umspielt ein feines Lächeln seinen Mund und seine Augen.
»Sie sind es doch, die kein Wort mehr herausbringt.«
Erstaunt reiße ich die Augen auf. »Ich? Sie sind ... Du bist ...« Ich schlucke. »Du bist einfach weggegangen und hast mich stehen lassen.«
Henri erhebt sich hastig, steht nach wenigen Schritten vor mir. Sehr dicht, zu dicht. »Ich habe dir gesagt, was Frauen für mich sind. Ich habe dir gezeigt, wer ich bin. Jetzt ist es an dir.«
Er sieht mir direkt in die Augen, in mich hinein und gleichzeitig durch mich durch. Ich bin wie erstarrt. Keinen meiner Gedankenfetzen kann ich wirklich zu Ende führen. Erwartet er, dass ich den nächsten Schritt tue? Und wenn ja, wie sollte er aussehen? Ich habe keine Ahnung. Niemals zuvor habe ich so etwas entschieden. Und ist es überhaupt eine wirkliche Entscheidung, die ich da treffe?
Ob ich eine Birne esse oder einen Apfel – das ist eine Entscheidung. Aber Henri?
Inzwischen ist er wieder ans Fenster getreten. »Ist es recht, wenn ich das Jackett ausziehe? Es ist warm hier oben.«
Ich nicke, sage aber nichts, hebe den Bleistift auf und fahre fort. Schweigend.
Kapitel 16
»Vielleicht habe ich mich getäuscht«, sagt Henri im Hinausgehen, als er zwei Stunden später das Atelier wieder verlässt. Seine Stimme klingt dabei sehr geschäftsmäßig.
Erst, als er schon durch die Tür ist, bringe ich den Mut auf, leise zu flüstern: »Ich will dich.«
Zu spät, denke ich, zu spät.
Kapitel 17
Beim Abendessen geht das ungemütliche Schweigen weiter. Wir sehen uns nicht an, sehen aneinander vorbei.
Eine Stille voller unausgesprochener Worte von der Vorspeise bis zum Dessert. Und je weiter der Abend voranschreitet, desto unwohler fühle ich mich, desto unruhiger rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her. Zum Kaffee bin ich so nervös, dass der Henkel der Tasse meinen schwitzigen Fingern entgleitet.
Zeit ist relativ, das wird mir schmerzlich bewusst, während ich erschrocken beobachte, wie sich erst ein Schwall Kaffee auf das weiße Tischtuch ergießt, bevor das Porzellan auf dem Boden zerschellt.
Nach dem Klirren wieder Stille. Stille, in die die große Uhr auf dem Kamin unerbittlich tickt.
Und plötzlich höre ich mich leise sagen: »Ach, die schöne Tasse! Das war sehr unaufmerksam von mir. Ich verdiene eine gerechte Strafe.«
Für einen Moment treffen sich unsere Blicke über dem Tisch. Henris Augen scheinen heller geworden zu sein. Ein strahlend klares Blau.
Ermutigt von meiner eigenen Courage lege ich die Serviette auf den Tisch und sage mit fester Stimme: »Ich bin in meinem Zimmer.«
Ich erahne, dass sein Blick mir folgt. Als wäre er eine Berührung auf meinem Rücken, würde ihn hinunterstreifen bis zu meinem Po, als ich den Raum durchquere, durch die offene Tür zur Treppe gehe.
Oben lehne ich mich für einen Moment von innen gegen die geschlossene Tür, atme tief durch, bevor ich mich rasch ausziehe und auf das Bett setze.