Psychodynamische Paar- und Familientherapie. Günter Reich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Reich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170323070
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auf Seiten der Therapeuten zu problematischen Reaktionen führen, da diese schwer zu reflektieren sind. Hier ist eine gründliche Übertragungs-Gegenübertragungsanalyse notwendig. Supervision hat dabei einen hohen Stellenwert.

      Dem Verstehen der Kennenlernszene eines Paares messen wir einen hohen diagnostischen Wert zu. Das Kennenlernen und Verlieben zweier Menschen gleicht in der Paartherapie der frühen Kindheit in der Einzeltherapie insofern, als »da alles begann«. Wir erfragen daher die Umstände des Kennenlernens, die ersten Eindrücke, die Phantasien übereinander, Anziehung und evtl. auch Abstoßung, Hoffnungen und Wünsche sowie die jeweiligen Lebensumstände beider Partner sehr genau. Häufig bildet dies auch einen günstigen Einstieg in einen therapeutischen Prozess, da die meisten Paare sich gern erinnern und für den Zeitraum der Beschäftigung mit dem Kennenlernen die aktuellen Streitthemen in den Hintergrund treten. Häufig klingen bereits in der Kennenlernzeit der Paare Themen und Motive an, die sich für das Verständnis des aktuellen Konflikts als hilfreich erweisen. So werden häufig gemeinsame Grundkonflikte deutlich, die durch das Kennenlernen gewissermaßen zugleich aktiviert und kompensiert wurden – und die sich in der Regel durch die gesamte Paargeschichte ziehen. Dieser Ansatz spiegelt sich auch in den Kollusionskonzepten wider, die in Kapitel 4.1.4 kurz umrissen werden (Images Kap. 4.1.4).

      Die Wahl des Partners sagt Entscheidendes über eine Person aus, kann sie doch als »widersprüchlicher Individuationsversuch« (Reich 1991) verstanden werden. Dieser beinhaltet sowohl eine Tendenz zur Wiederholung und Reinszenierung vertrauter Beziehungsmuster (dieser Aspekt ist eher unbewusst und verdeckt) als auch den Wunsch nach Befriedigung bisher unerfüllter Bedürfnisse und neuen, besseren Beziehungserfahrungen als aus den jeweiligen Herkunftsfamilien bekannt (diese Seite der Ambivalenz ist bewusst oder doch bewusstseinsnah, vgl. Abbildung 4.1 (Images Abb. 4.1)).

Images

      Lemaire (1980) bezeichnet die Partnerwahl gar als »das am meisten charakteristische Symptom« einer Person. Die Partnerwahl ist als hoch ambivalentes, überwiegend unbewusstes Geschehen zu verstehen. Bereits Freud (1921) verglich das Verhalten eines Verliebten zu seiner Auserwählten mit dem des Hypnotisierten zu seinem Hypnotiseur: nicht fähig der Kritik, bereit zur Unterwerfung. Dies lässt sich nur durch starke, unbewusst wirksame Mechanismen erklären. Auch klingt bereits das Konflikthafte an. Das Gelingen von Partnerschaften hängt nicht von der Häufigkeit von Streit und Konflikten ab, sondern von der Kompetenz des Paares, mit konflikthaften Situationen umzugehen (Gottmann und Levenson 2000) und die (überwiegend unbewussten) Ambivalenzen zu tolerieren. Dies hängt auch mit der Mentalisierungsfähigkeit beider Partner zusammen (Images Kap. 4.1.5, Images Kap. 5.1.6.6). In den häufigsten Fällen kann ein Zusammenhang zwischen der Art des Kennenlernens, der Form der verleugnenden Idealisierung (sowohl der Unvollkommenheiten des Partners als auch gegenüber den Unstimmigkeiten zwischen den Partnern) zu Beginn der Partnerschaft und dem aktuell in der Paartherapie vorgebrachten Konflikt und den nicht gelingenden Lösungen hergestellt werden.

      Daher zentrieren wir zu Beginn der Diagnostik auf die Wahl des Partners und die Umstände des Kennenlernens, selbstverständlich unter Berücksichtigung der Herkunftsfamilien beider Partner.

      Die Objektbeziehungstheorien stellen in der Psychoanalyse ein weit verzweigtes Konglomerat an Ansätzen dar. Gemeinsam ist ihnen der Leitgedanke, dass Beziehungen und deren Qualität maßgeblich von früheren Beziehungserfahrungen geprägt seien und zwischen inneren Objektrepräsentanzen und äußeren Beziehungen zu unterscheiden sei, wobei eine starke Wechselwirkung angenommen wird. Diese besteht im Wesentlichen in einer Interaktion von Introjektion und Projektion (sowie dem »Spezialfall« der Projektiven Identifizierung). Introjektion bedeutet dabei, Verhaltensweisen, Gefühle, Eigenschaften wichtiger Anderer, z. B. der Eltern, Geschwister oder des Partners in sich aufzunehmen und als zur eigenen psychischen Struktur gehörend zu erleben, während bei projektiven Vorgängen unannehmbare eigene Anteile in den Anderen »verlagert« werden und so eine Distanzierung von eigenen Wünschen, Trieben oder Bedürfnissen stattfinden soll. Auch werden häufig eigene, nicht mit dem Selbstbild bzw. Ich-Ideal zu vereinbarende Anteile auf den Partner oder die Partnerin projiziert, um anschließend dort bekämpft zu werden. Paare erleben ihre Beziehungen nicht nur auf der Folie früherer Erfahrungen, sondern induzieren zu diesen zum Teil passende Verhaltensweisen des anderen (vgl. Reich und von Boetticher 2017, S. 201).

      Der an der Objektbeziehungstheorie orientierte Ansatz der Paartherapie fokussiert auf das Entschärfen gegenseitiger Projektionen. Diagnostisch wird dafür das aus dem Gleichgewicht geratene Verhältnis zwischen Befriedigung und Distress betrachtet. Paarprobleme entstehen nach diesem Modell immer dann, wenn Distress unerträglich wird, wofür Faktoren wie dauerhaft entwertende statt gratifizierende projektive und introjektive Identifizierungsprozesse, die Unfähigkeit eines oder beider Partner, die Projektionen des anderen zu containen, oder eine Verhärtung und Verfestigung statt einer Modifikation vorhandener Objektbeziehungen verantwortlich sind (Scharff und Scharff 2003). Theoretische Grundlagen für diesen Ansatz finden sich bei Fairbairn (1963) und bei Dicks, der das Konzept der »unbewussten Komplementarität« und der »gemeinsamen Persönlichkeit« (Dicks 1967, S. 69, zitiert nach Scharff und Scharff 2003) entwickelte und damit ein Modell schuf, das objektbeziehungstheoretische Erkenntnisse für die Behandlung von Paaren fruchtbar machte (Images Kap. 4.1.4).

      Als Kollusion wird das unbewusste Zusammenspiel eines Paares auf der Basis eines gemeinsamen Grundkonflikts in polarisierten Positionen bezeichnet. Die Anziehung zwischen den Partnern entsteht zunächst dadurch, dass beide psychisch mit denselben Konfliktfeldern beschäftigt sind, jeweils aber unterschiedliche, gar konträre Bewältigungsstrategien für sich gefunden haben, die vom jeweils anderen als attraktiv erlebt werden. Der gemeinsame Grundkonflikt schafft eine Vertrautheit. Die sich ergänzenden, unterschiedlichen Lösungsansätze erzeugen gegenseitige Anziehung. Das eigene, aufgrund von frühen Beziehungserfahrungen, Werten und Anforderungen der Herkunftsfamilie für die jeweilige Person Unannehmbare und daher Verdrängte kann im Anderen sowohl bewundert als auch bekämpft und somit aus dem Erleben der eigenen Person herausgehalten werden. Durch das Zusammensein und die Nähe in der Paarbeziehung steht es dennoch zur Verfügung und ist als latenter, nicht gelebter Teil der Persönlichkeit zu verstehen.

      Kollusionsbildungen sind somit als »Formen der interpersonellen Abwehr« (Reich et al. 2007, S. 51) zu verstehen und sind wie Symptombildungen und andere Abwehrformationen als intra- und interpsychischer Kompromiss zu würdigen.

      Während Dicks (1967) in seiner bahnbrechenden Arbeit den Kollusionsbegriff einführte und diesen objektbeziehungstheoretisch begründete (in Partnerschaften werde eine Dynamik mit einem regressiven und einem progressiven Pol, anders ausgedrückt eine Mutter-Kind- Beziehung »wiederholt« bzw. aus der frühen Entwicklung vertraute Beziehungsmuster unbewusst reinszeniert), stellte Willi (1975) dieses Modell des Zusammenspiels zweier Menschen in einen triebtheoretischen Rahmen und konzeptualisierte Kollusionen entlang der psychosexuellen Entwicklungsphasen