Psychodynamische Paar- und Familientherapie. Günter Reich. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Günter Reich
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783170323070
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es notwendig, in den polarisierten Positionen zu verbleiben, lassen sich zwei Ausformungen von Konflikten beschreiben:

      1. Die erste Konfliktform ist durch eine regressive Bewegung einer oder beider Partner zu beschreiben, in der Enttäuschung die entscheidende Rolle spielt. Die Ähnlichkeit mit einem enttäuschenden, abweisenden oder nicht versorgenden Elternteil wurde in der Paarbildungsphase mithilfe von Idealisierung verleugnet und der Partner als eine andere, bessere, zugewandtere Person phantasiert. Ergeben sich im Laufe der Beziehung unvermeidliche Kränkungen oder Enttäuschungen dadurch, dass die Partner realisieren, dass der jeweils andere nicht in der Lage oder willens ist, die eigenen nicht erfüllten kindlichen Bedürfnisse zu befriedigen, führt dies bei kollusiv verstrickten Paaren dazu, dass es weiter regrediert und dysfunktionale Interaktionsweisen vermehrt, statt durch Realitätsprüfung und weitere Entwicklung zu reiferen Formen des Umgangs mit Wünschen und Enttäuschungen zu gelangen.

      2. Die zweite Konfliktausprägung ist durch eine Kehrtwende im Erleben gekennzeichnet. Die Persönlichkeitszüge und Verhaltensweisen, die beim Kennenlernen besonders attraktiv und begehrenswert erschienen, möglicherweise gar den Ausschlag für die Partnerwahl gaben, werden nun im Gegenteil als abstoßend, unattraktiv und/oder behindernd erlebt. Die anfängliche Bewunderung des anderen, der die latenten, dabei abgewehrten Anteile lebt, kehrt sich um, wenn die Faszination abklingt und die vertrauten Mechanismen eines z. B. strafenden, verbietenden Über-Ichs greifen. Der Bewunderer wird zum Verfolger, da er weder die abgewehrten Anteile in sich zu integrieren noch im Partner weiter zu tolerieren vermag (vgl. Dicks 1967; Reich et al. 2007).

      Mentalisierung bezeichnet die Fähigkeit, eigene mentale Zustände (u. a. Gefühle, Gedanken, Bedürfnisse, Motive, Überzeugungen, Einstellungen, Werte …) wie auch mentale Zustände des Gegenübers wahrnehmen sowie Ideen darüber entwickeln zu können, welche Erfahrungen und Gegebenheiten zu welchen mentalen Verfassungen führen können. Es handelt sich um eine Entwicklungserrungenschaft, die zu dem Bewusstsein führt, dass man selbst und die anderen eine jeweils ganz eigene Innenwelt haben, die sich voneinander unterscheiden und sich teilweise gleichen können. Dabei ist entscheidend: »Mentale Zustände liegen nicht offen zutage. Das gilt übrigens genauso für die eigenen.« (Rottländer 2015, S. 9). Das bedeutet, es bedarf der Einfühlung, des »Eindenkens« und (ganz wesentlich besonders bei Paarkonflikten) der realen Überprüfung durch Austausch darüber, ob die Interpretationen der vermuteten Gedanken- und Gefühlswelt des anderen denn auch einigermaßen zutreffen. Redensarten wie »Ich kann meinem Partner auch nur bis vor die Stirn gucken«, »Man steckt nicht drin« oder auch symbiotisch anmutende, verliebte Äußerungen wie »Wir sind eins, verstehen uns blind« weisen auf die Brisanz von An- oder Abwesenheit guter Mentalisierungsfähigkeit hin.

      Fallbeispiel

      Ein Mann sagte nach einer gescheiterten Beziehung in therapeutischen Trennungsgesprächen: »Ich war in ihr und sie war in mir. Wir verstanden uns ohne Worte, wussten immer, was der andere denkt und fühlt. Es war magisch«. Seine Ex-Partnerin nickte versonnen zu dieser Beschreibung.

      Tatsächlich hatten beide sehr unterschiedliche Empfindungen und Vorstellungen von der Partnerschaft und Lebensentwürfe, vermieden aber immer, sich explizit darüber auszutauschen. So stand am Ende der Beziehung nicht nur die Trauer über die Trennung, sondern auch die Enttäuschung und Ernüchterung, dass es eben nicht »magisch« war, ganz im Gegenteil.

      »Mentalisieren ist per definitionem inexakt« (Asen und Fonagy 2014, S. 235)

      Die soziale Komponente ist entscheidend, um ein angemessenes Bild der inneren Verfasstheit des anderen zu entwickeln. Hierzu bedarf es der »ständigen sozialen Verifizierung« (Asen und Fonagy 2014, S. 235). Im obigen Beispiel hatte sich das Paar um diese Verifizierung nicht bemüht. Dies ließ sie eine Weile in der Illusion leben, einander ganz nah zu sein und sich wortlos zu verstehen. Als es um konkrete Entscheidungen für ihr weiteres Leben ging, stellte sich die Diskrepanz der Vorstellungen schmerzlich heraus.

      Um eine diagnostische Einschätzung der Mentalisierungsfähigkeit (oder »Reflexiven Kompetenz«) treffen zu können, sollten die entwicklungspsychologischen Stadien der Mentalisierung in ihren Auswirkungen bekannt sein. Dabei werden im Wesentlichen die teleologische Haltung, der Äquivalenz- sowie der Als-Ob-Modus unterschieden. Während die Teleologische Haltung umfasst, dass die Handlungen anderer Personen beobachtet und deren Absichten oder Ziele erkannt und gedeutet, die dahinterliegenden Beweggründe hingegen noch nicht verstanden werden, werden im Äquivalenzmodus innere und äußere Realität deckungsgleich erlebt, d. h. es wird zwischen Gedanken, Wünschen, Vorstellungen und realen Gegebenheiten nicht unterschieden. Auch werden eigene Gedanken und die anderer als identisch wahrgenommen. Im Als-Ob-Modus entfaltet sich eine gänzlich andere Dynamik: Hier gelingt es dem Kind, innere und äußere Realität zu trennen, und es begibt sich in eine Spielatmosphäre, in der Phantasie, Wünsche oder Ideen der eigenen Innenwelt zugeordnet werden, keine realen Auswirkungen haben und daher nicht ängstigend wirken. Die eigenen Vorstellungen sind modifizierbar und damit kontrollierbar. Kinder wechseln zwischen diesen Modi, bis eine weitgehende Integration gelingt und der sog. Reflexive Modus erreicht wird, in dem eine höhere Qualität des Umgangs mit den eigenen Affekten sowie der Differenzierung eigener wie fremder mentaler Zustände besteht (für eine ausführliche Darstellung vgl. Fonagy 2009). Regredieren Erwachsene bspw. in den Äquivalenzmodus, so ist leicht vorstellbar, was ein in Wut geäußerter Satz wie etwa: »Ich hab eine Mordswut, ich könnte dich umbringen« auszulösen vermag.

      Rottländer (2015, S. 10) schlägt vor, »mentalisierungsrelevante Blicke auf sich und andere […] in ›vier Sichtweisen zu unterteilen‹«:

      1. Andere von außen sehen (oder: im Äußerlichen bleiben)

      2. Sich selbst von innen sehen

      3. Den anderen von innen sehen

      4. Sich selbst von außen sehen (sich selbst in seiner Auswirkung auf andere sehen)

      »Mentalisieren […] impliziert ein Bewusstsein von unserem letztlichen Nichtwissen, was die mentalen Zustände angeht.« (Rottländer 2015, S. 10)

      Mentalisierungsbasierte Therapieansätze finden heutzutage breite Anwendung und sind weithin anerkannt. Ursprünglich entwickelt für Patienten mit strukturellen Defiziten und Persönlichkeitsstörungen im Einzelsetting, ist die Orientierung an Mentalisierungsprozessen heute in allen therapeutischen Bereichen relevant. Dies hängt auch mit der Erkenntnis zusammen, dass verschiedenste Therapiemethoden, darunter auch die »klassisch« psychoanalytischen Interventionen wie Arbeit an den Affekten per Klärung, Konfrontation und Deutung die Mentalierungsfähigkeiten von Patienten zu verbessern vermögen. Arbeit an der Mentalisierungsfähigkeit stellt damit keine echte Neuerung dar, sondern beschreibt eher eine spezifische Art der Betrachtung und Fokussierung auf die Kompetenz, »die eigenen wie die fremden psychischen Befindlichkeiten zu begreifen« (Schultz-Venrath 2013, zitiert nach Rottländer 2015, S. 7). Bei der Paardiagnostik im Hinblick auf die Mentalisierungsqualität sind verschiedene Punkte zu beachten:

      • Wie gut können sich die Partner jeweils in den anderen einfühlen, wie flexibel gehen sie mit der Differenzierung eigener Empfindungen, Auffassungen, Meinungen etc. um? Anders ausgedrückt: Wie gut können die Partner jeweils mentalisieren?

      • Unterscheiden sich die Partner stark im Mentalisierungsvermögen?

      • Wie sprechen die Partner miteinander? Spricht jeder für sich, stark auf den Therapeuten bezogen oder sprechen die Partner »mentalisierend« miteinander? Wie stark »sinkt« das Mentalisierungsniveau bei strittigen Fragen?

      • Wie beeinflussbar ist das Mentalisieren des Paares durch den Therapeuten? Kann durch die Mentalisierung förderndes Nachfragen eine starre, auf sich bezogene Position gelockert werden, um die Kommunikation und das Verständnis der Partner zu verbessern?

      In der paartherapeutischen Praxis erscheint es als sinnvoll, den Mentalisierungsprozess in den Sitzungen zu verfolgen, daraus eine diagnostische Einschätzung der reflexiven Kompetenz der Partner