Im Unterschied zu anderen Verfahren sind folgende Aspekte wichtig:
• Intrapsychische Prozesse werden im Unterschied zur systemischen Therapie als bedeutsam angesehen. Die Erkenntnisse der psychoanalytischen Persönlichkeitstheorien sowie der Bindungs-, Mentalisierungs- und Affektforschung werden berücksichtigt.
• Ebenso werden die Erkenntnisse der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie, insbesondere der neueren Säuglings- und Kleinkindforschung sowie der Forschungen zu lebenszyklischen Veränderungen berücksichtigt.
• Besonderes Gewicht wird auf die mehrgenerational tradierten familiären Prozesse gelegt.
• Historischen und sozialen Einflüssen wird auf der Ebene der Familie und auf der Ebene ökonomischer und gesellschaftspolitischer Veränderungen sowie den damit einhergehenden Traumatisierungen, Verlusten und deren Verarbeitung eine große Bedeutung beigemessen. Insofern ist psychodynamisch orientierte Familien- und Paartherapie am »Faktischen« orientiert.
• Dementsprechend werden die Ansichten des radikalen Konstruktivismus aus der systemischen Therapie nicht geteilt. »Wirklichkeiten« sind nicht beliebig konstruierbar. Ebenso sind der Veränderbarkeit von Personen und Beziehungskonstellationen durch frühere Entwicklungen und die äußeren Rahmenbedingungen (z. B. Ökonomie) Grenzen gesetzt. Die Anerkennung von Begrenzungen und die damit einhergehende Trauerarbeit spielen in manchen Fällen eine besondere Rolle.
• Unbewussten Prozessen, die auch mehrgenerational ablaufen, wird eine große Bedeutung beigemessen. Ebenso werden die psychoanalytischen Konzepte der interpersonellen Abwehr, der unbewussten Kommunikation, des Szenischen Verstehens sowie Einschätzungen der strukturellen Möglichkeiten der Beteiligten berücksichtigt.
• Übertragungs-Gegenübertragungsprozesse und die sich hieraus ergebende Beziehungsgestaltung werden analysiert und die Interventionen bzw. die Therapieplanung insgesamt auch hierauf abgestellt. In der Gegenübertragungsanalyse werden die persönlichen Einflüsse des Therapeuten und seiner Familien- und Lebensgeschichte besonders berücksichtigt.
• Die Indikationsstellung erfolgt adaptiv-prozessorientiert. In der Regel wird vom Gesamt-Beziehungssystem ausgehend mit bedeutsamen Subsystemen (z. B. Elternpaar, Geschwister, Vater-Sohn, Mutter-Tochter) gearbeitet. Familien- und Paargespräche können in diesem Rahmen durchaus mit Einzelbehandlungen kombiniert werden.
• Auch die Interventionstechnik wird adaptiv angepasst und prozessorientiert gestaltet, wobei durchaus systemische und strukturelle Behandlungstechniken einfließen.
3 Wissenschaftliche Grundlagen des Verfahrens
Neben Erkenntnissen und Konzepten der Psychoanalyse, z. B. zur interpersonellen Abwehr, zu unbewussten Prozessen und zur Tendenz, neue Beziehungserfahrungen im Lichte früherer Erfahrungen zu interpretieren und diese somit zu wiederholen (»Wiederholungszwang«, Übertragung), spielen Systemtheorie und Kommunikationstheorie eine bedeutende Rolle. Ganz wesentlich ist zudem, dass familiäre und Paarbeziehungen einen erheblichen Beitrag zur Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Erkrankungen, aber auch zu somatischen Dysregulationen leisten. Dies gilt z. B. für depressive Störungen (Reich 2003a), Zwangsstörungen (Reich 2008; Reich 2019a; Reich 2020 in Druck), Essstörungen wie Anorexie, Bulimie oder Binge Eating (Cierpka und Reich 2010; Reich 2003b,c; Reich und von Boetticher 2017a), Persönlichkeitsstörungen (Reich 2003d; Reich und von Boetticher 2017b), Borderline-Persönlichkeitsstörungen (Reich und Cierpka 2011), Angststörungen, Psychosen (Reich und Klütsch 2014), Trauma-Erfahrungen (Klütsch und Reich 2012) sowie eine Vielzahl von körperlichen Regulationsstörungen und pathogenen Prozessen (Frisch et al. 2017; Reich 2020 in Druck). Die Verzahnung von physiologischen pathogenen Prozessen mit dysfunktionalen familiären Prozessen wurde auch im behavioralen Familienmodell (Wood et al. 2008, 2015; vgl. auch Reich 2020 in Druck) nachgewiesen.
Die Bedeutung familiärer und paardynamischer Prozesse für psychische Erkrankungen und körperliche Dysregulation belegen emprische Studien zu interpersonellen Prozessen wie dem »Spill-Over«, bei denen gezeigt werden kann, dass sich eheliche Spannungen der Eltern direkt auf Kinder übertragen, und Studien zur Kompensationshypothese. Sie zeigen sich auch zum Konzept der »Meta-Emotion«, in dem gezeigt werden kann, dass die Verbalisierung von unangenehmen Gefühlen durch Eltern es Kindern leichter ermöglicht, die negativen Folgen von elterlichen Konflikten zu bewältigen. Sie zeigen sich zudem in den Forschungen zur Parentifizierung (Chase 1999) sowie den Forschungen zur Bedeutung von Vätern und Geschwistern (vgl. Reich 2020 in Druck). Empirische Studien belegen zudem die mehrgenerationale Weitergabe einer ganzen Reihe von Problemen und problematischen Beziehungsmustern. Während diese Weitergabe in nichtgestörten Familiensystemen eher moderat ausfällt (Reich 2017; Reich et al. 2008), ist sie in gestörten Familiensystemen häufig erheblich und konnte in einer Reihe von Bereichen nachgewiesen werden, z. B. bezüglich der Bindungsmuster, der Erziehungseinstellungen, der Qualität der Ehebeziehungen, der Neigung zu Trennungen und Scheidungen, der Neigung zu Parentifizierungen, der Weitergabe von Traumafolgen und Gewalterfahrungen, bezüglich der Verletzung interpersoneller Grenzen sowie der Fähigkeiten zur Selbstregulierung (Reich et al. 2008; Reich 2020 in Druck). Auch in den Familien- und Paarbeziehungen wirksame Resilienzfaktoren wurden untersucht (Walsh 2016; Reich 2020 in Druck). Hierzu gehören gemeinsame Sinnfindung und Orientierung, Fähigkeiten zur Veränderung der Familienorganisation bei Einbrüchen wie z. B. Erkrankungen, kooperatives Elternverhalten, Respekt für die individuellen Unterschiede, die Fähigkeit zur Mobilisierung außerfamiliärer Ressourcen sowie Klarheit der Kommunikation und das offene Teilen schmerzlicher und freudiger Emotionen. Auch positive Paarinteraktionen wie verbale Unterstützung, Berührung oder Responsivität wirken salutogenetisch. Kinder profitieren zudem von stabilen Elternbeziehungen, klaren Generationsgrenzen, emotionaler Resonanz sowie davon, ob sie elterliches Verhalten, auch hochproblematisches, verstehen können oder nicht (vgl. Reich 2020 in Druck).
Familien- und Paartherapien haben sich zudem bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen als wirksam erwiesen. Dies gilt im Erwachsenenbereich für affektive Störungen, Angststörungen, Essstörungen, Substanzmissbrauchsstörungen und Psychosen, im Bereich der Behandlung von Kindern und Jugendlichen für Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Substanzmissbrauch und Essstörungen (von Sydow et al. 2010, 2013) (
4 Kernelemente der Diagnostik
4.1 Psychodynamische Paartherapie
Die Initiative für eine Paartherapie geht in der Regel stärker von einem Partner oder einer Partnerin aus. Selten ist die Motivation gleichmäßig verteilt. Dies kann sich hinderlich auswirken, jedoch auch diagnostische und therapeutisch nutzbare Hinweise ergeben. Erstes Kernelement der Paardiagnostik ist in diesem Sinne die Beachtung der Szene, analog zum Konzept des Szenischen Verstehens in der Einzeltherapie (Lorenzer 2006).
4.1.1 Die initiale Paarszene, Übertragung, Gegenübertragung, Arbeitsbündnis und Widerstand
Der Ansatz, den Informationen aus der Anmeldesituation und dem Erstgespräch Beachtung zu schenken, hat sich als äußerst fruchtbar erwiesen. Dabei interessieren uns Fragen wie:
• Wer meldet an, wer ergreift die Initiative?
• Wer beginnt das Gespräch, wer schildert und »definiert« womöglich das Problem?
• Wer hat ein »Problembewusstsein«?
• Stimmen die Schilderungen der Problemstellung einigermaßen überein oder unterscheiden sie sich sehr?
• Spricht das Paar vor allem miteinander oder mehr an die Therapeuten gerichtet?
• Wie erscheint das Paar: eher bedürftig, eher abgegrenzt-autonom?