La Peyrade zog sein Taschentuch heraus, rieb sich die Augen und brachte eine Träne hervor; dann reichte er Phellion die Hand, wandte seinen Kopf ab und sagte:
»Das ist eine erhabene Stellung, die Sie, verehrter Herr, in diesem Kampfe zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben einnehmen. Und wäre ich auch nur hergekommen, um dieses Schauspiel zu sehen, so wäre mein Besuch nicht umsonst gewesen ... Was wollen Sie, an Ihrer Stelle würde ich ebenso handeln! ... Sie sind das Erhabenste, was Gott geschaffen hat: ein guter Mensch! Ein Bürger wie Jean-Jacques! O Frankreich, mein Vaterland, was könntest du werden, wenn du viele solche Bürger hättest! ... Ich habe die Ehre, mein Herr, Sie um Ihre Freundschaft zu bitten.«
»Was geht denn da vor?« rief Frau Phellion, die diese Szene durch das Fenster beobachtete, »der Vater und dieses Scheusal liegen sich in den Armen!«
Phellion und der Advokat traten jetzt heraus und gesellten sich zu der Familie im Garten.
»Mein lieber Felix,« sagte der alte Herr und wies auf la Peyrade, der sich vor Frau Phellion verbeugte, »du musst diesem würdigen jungen Manne sehr dankbar sein, er wird dir weit mehr nützen als schaden.«
Der Advokat ging fünf Minuten lang mit Frau Barniol und Frau Phellion unter den kahlen Linden auf und ab und gab ihnen, angesichts der schwierigen Umstände, die sich aus der politischen Hartnäckigkeit Phellions ergaben, Ratschläge, deren Ergebnis am Abende zutage treten sollten, und deren erste Wirkung darin bestand, die beiden Damen zu Verehrerinnen seiner Geschicklichkeit, seiner Offenheit und seiner unschätzbaren Fähigkeiten zu machen. Der Advokat wurde von der gesamten Familie bis an die Straßentür begleitet, und aller Augen folgten ihm, bis er um die Ecke der Rue du Faubourg-Saint-Jacques gebogen war. Frau Phellion nahm den Arm ihres Mannes, als sie in den Salon zurückkehrten und sagte zu ihm: »Aber sage mir, mein Lieber, willst du, ein so guter Vater, in deinem übertriebenen Zartgefühl, die beste Heirat, die unser Felix machen kann, scheitern lassen?«
»Die großen Männer des Altertums, meine Beste,« entgegnete Phellion, »solche wie Brutus und andere, waren niemals Väter, wenn es darauf ankam, sich als Bürger zu zeigen ... Das Bürgertum hat noch viel mehr als der Adel, an dessen Stelle zu treten es berufen ist, die Verpflichtung, das Beispiel erhabener Tugend zu geben. Herr von Saint-Hilaire dachte nicht an seinen verlorenen Arm, als er vor dem toten Turenne stand ... Wir müssen uns als würdig erweisen, und wir sollen das auf allen Stufen der sozialen Hierarchie tun. Durfte ich meiner Familie solche Grundsätze beibringen, um sie dann im gegebenen Moment selbst zu missachten? ... Nein, meine Liebe, weine heute, wenn du willst; morgen wirst du mir deine Achtung nicht verweigern! ...« sagte er zu seiner kleinen, dürren besseren Hälfte, die Tränen in den Augen hatte.
Diese großen Worte sprach er auf der Schwelle der Tür, über der angeschrieben stand: »Aurea mediocritas.«
»Ich hätte noch hinzusetzen können: ›et digna‹« fuhr Phellion fort und wies auf die Tafel; »aber diese beiden Worte hätten wie Selbstlob geklungen.«
»Lieber Vater,« sagte Marie-Theodor Phellion, der zukünftige Ingenieur der Wegebauverwaltung, als die ganze Familie wieder im Salon vereinigt war, »es scheint mir doch nicht gegen die Ehre zu verstoßen, wenn man seinen Entschluss bezüglich einer Wahl ändert, sofern das für das öffentliche Wohl ganz gleichgültig ist.«
»Gleichgültig, mein Sohn?« rief Phellion aus.
»Unter uns will ich dir sagen, und Felix ist derselben Ansicht: Herr Thuillier ist ein ganz unfähiger Mensch! Er versteht nichts! Herr Horace Bianchon aber, das ist ein tüchtiger Mann, er wird tausend Dinge für unsern Bezirk durchsetzen, Thuillier nicht eine! Und merke dir, mein Sohn, einen richtigen Entschluss persönlicher Interessen halber in einen falschen umändern, das heißt niederträchtig handeln, und wenn das auch den Augen der Menschen entgeht, die Strafe Gottes wird nicht ausbleiben. Ich fühle mich, oder ich glaube mich vor meinem Gewissen rein fühlen zu dürfen, und ich bin es euch schuldig, meiner Familie mein Andenken unbefleckt zu hinterlassen, deshalb wird mich auch nichts zu einer Änderung bestimmen können.«
»Ach, lieber Vater,« rief die kleine Frau Barniol aus und setzte sich mit einem Kissen auf Phellions Knie, »setze dich doch nicht gleich so aufs hohe Pferd! Es gibt doch so viele Dummköpfe und Nullen im Munizipalrat, und Frankreich lebt trotzdem weiter. Der brave Thuillier wird doch immer Ja sagen ... Bedenke, dass Celeste vielleicht mal fünfhunderttausend Franken haben wird.«
»Und wenn sie fünf Millionen hätte,« sagte Phellion, »und sie lägen hier vor mir, ... auch dann würde ich Thuillier noch nicht als Kandidaten vorschlagen, wenn ich es dem Andenken an den tugendreichsten aller Menschen schuldig bin, Horace Bianchon wählen zu lassen. Und aus der Himmelshöhe wird Popinot auf mich herabsehen und mir zustimmen! ...« rief Phellion aufgeregt aus. »Mit solchen Anschauungen erniedrigt man Frankreich und spricht das Verdammungsurteil über das Bürgertum.«
»Der Vater hat recht,« sagte Felix, der aus seiner tiefen Verträumtheit erwachte, »und er hat Anspruch auf unsre Achtung und unsre Liebe wie stets im Verlaufe seines ganzen bescheidenen, arbeitsreichen und ehrenhaften Lebens. Ich will auch mein Glück weder den Gewissensskrupeln einer edlen Seele noch einer Intrige zu verdanken haben; ich liebe Celeste wie meine eigenen Angehörigen, aber höher als alles dies steht mir die Ehre meines Vaters, und mit dem Augenblick, wo es sich bei ihm um eine Gewissensfrage handelt, ist die Sache für mich erledigt.«
Phellion, die Augen voller Tränen ging auf seinen Ältesten zu und umarmte ihn.
»Mein Sohn, mein lieber Sohn!« sagte er mit erstickter Stimme.
»Das sind alles Dummheiten«, sagte Frau Phellion leise zu Frau Barniol; »hilf mir beim Anziehen, das muss ein Ende haben; ich kenne deinen Vater, er hat sich in die Sache verbissen ... Für den Weg, den uns dieser brave, fromme junge Mann eben gezeigt hat, brauche ich deine Unterstützung, Theodor; halte dich bereit, mein Sohn.«
In diesem Augenblick brachte Genovefa dem alten Phellion einen Brief.
»Eine Einladung von den Thuilliers zum Diner, für meine Frau, mich und Felix«, sagte er.
Die glänzende verblüffende Idee des Armenadvokaten hatte die Thuilliers ebenso in Aufregung versetzt wie die Phellions; und Jerome war, ohne dass er seiner Schwester etwas anvertraute, denn er betrachtete das seinem Mephisto gegenüber als eine Ehrensache, ganz aufgeregt zu ihr kommen, um ihr zu sagen:
»Hör' mal, Kleine (mit dieser Benennung schmeichelte er sich immer in ihr Herz), wir werden heute große Gesellschaft zum Diner haben; ich gehe jetzt und lade Minards ein, also sorge für feines Essen; ich schicke auch Phellions eine Einladung; es geschieht etwas spät, aber bei ihnen braucht man sich nicht zu genieren ... Was Minards anlangt, so müssen wir ihnen etwas Sand in die Augen streuen, ich habe sie nötig.«
»Vier Minards, drei Phellions, vier Collevilles und wir, das sind dreizehn ...«
»La Peyrade ist der vierzehnte, und es wäre auch gut, Dutocq zu bitten, er kann uns nützlich sein; ich werde zu ihm hinaufgehen.«
»Was steckt denn da dahinter?« rief seine Schwester aus; »fünfzehn Personen zum Diner, da gehen mindestens vierzig Franken drauf!«
»Lass dir das nicht leid tun, Kleine, und sei vor allem liebenswürdig gegen unsern jungen Freund la Peyrade. Das ist ein Freund ... Davon wirst du dich noch überzeugen! ... Wenn du mich lieb hast, dann hüte ihn wie deinen Augapfel ...« Und er ließ Brigitte allein, die ganz verblüfft war.
›O ja, ich werde mich erst überzeugen!‹ sagte sie zu sich. ›Mit schönen Worten lasse ich mich nicht fangen! ... Er ist ein netter Junge, aber bevor ich ihn ins Herz schließe, muss ich ihn doch noch etwas genauer kennenlernen.‹
Als Thuillier Dutocq eingeladen hatte, begab er sich, nachdem er sich freigemacht hatte, nach der Rue des Magons-Sorbonne, in das Haus Minards, um die dicke Zélie zu bezaubern und das Ungewöhnliche der Einladung zu beschönigen. Minard