Die Kleinbürger. Оноре де Бальзак. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Оноре де Бальзак
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955013363
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      Die Stunde, zu der die große Markthalle geöffnet wurde, in der viele seiner Klienten und Klientinnen ihre Beschäftigung hatten, war für seine üblen Geschäfte maßgebend. Deshalb hatte auch der edle Cadenet, mit Rücksicht darauf, dass er diese Kundschaft Cérizet zu verdanken hatte, ihm die beiden Räume für nur achtzig Franken jährlich vermietet und einen Mietkontrakt auf zwölf Jahre abgeschlossen, den nur Cérizet, ohne eine Abstandssumme zahlen zu müssen, alle Vierteljahre kündigen konnte. Cadenet brachte persönlich alle Tage eine Flasche ausgezeichneten Wein für das Mittagessen seines kostbaren Mieters herauf, und wenn Cerizet auf dem Trockenen saß, brauchte er nur zu seinem Freunde zu sagen: »Cadenet, borg mir doch hundert Taler«. Aber er gab sie ihm stets getreulich zurück.

      Cadenet besaß, wie es hieß, den Beweis, dass die Witwe Poiret Cérizet zweitausend Franken anvertraut hatte, was das Aufblühen seines Geschäftes seit dem Tage erklären konnte, wo er sich in diesem Viertel mit seinen letzten tausend Franken unter der Protektion Dutocqs etabliert hatte. Cadenet, durch sein erfolgreiches Geschäft geldgierig geworden, hatte seinem Freunde Cérizet zu Beginn des Jahres zwanzigtausend Franken angeboten, aber Cérizet hatte es unter dem Vorwande abgelehnt, dass so etwas leicht der Anlass zur Feindschaft unter Freunden werden könnte.

      »Ich könnte sie nur zu sechs Prozent nehmen,« sagte er zu Cadenet, »und Sie verdienen in Ihrem Geschäft mehr damit ... Später, wenn mal eine gute Sache sich bietet, können wir uns zusammentun; aber für so etwas sind fünfzigtausend Franken erforderlich; wenn Sie über eine solche Summe verfügen können, nun, dann ließe sich darüber reden ...«

      Die Angelegenheit mit dem Hause hatte Cérizet Theodosius gebracht, nachdem er festgestellt hatte, dass sie drei, Frau Poiret, Cadenet und er, niemals hunderttausend Franken zusammenbringen konnten.

      Der Mann, der diese Leihgeschäfte auf eine Woche machte, war in seinen Rumpelkammern vollkommen in Sicherheit, wo er nötigenfalls auch tätlichen Beistand gefunden hätte. An gewissen Tagen fanden sich bei ihm nicht weniger als sechzig bis achtzig Personen ein, ebensoviel Männer wie Frauen, die teils bei dem Weinhändler, teils im Gange auf den Treppenstufen, teils im Büro, in das der misstrauische Cérizet nicht mehr als sechs Personen zu gleicher Zeit hereinließ, warteten. Die zuerst Gekommenen kamen der Reihe nach dran, und da man nur seiner Nummer entsprechend vorgelassen wurde, schrieben der Weinhändler und sein Gehilfe die Nummern den Männern an den Hut, den Weibern auf den Rücken. Wie bei den Droschken auf den Halteplätzen verkaufte man die Vordernummern an die spätern. An manchen Tagen, wo man eilige Geschäfte in der Markthalle hatte, wurde eine Vordernummer mit einem Glas Schnaps und einem Sou bezahlt. Die erledigten Nummern riefen die nachfolgenden in Cérizets Büro, und wenn sich ein Streit erhob, machte Cadenet dem bald ein Ende mit den Worten:

      »Wenn die Wache oder die Polizei geholt werden muss, was hilft euch das? Dann schließt ›er‹ die Bude.«

      »Er«, damit bezeichnete er Cérizet. An manchen Tagen, wenn ein verzweifeltes unglückliches Weib, das zu Hause kein Brot hatte und ihre Kinder vor Hunger bleich werden sah, erschien, um sich zehn oder zwanzig Sous zu leihen, so fragte sie den Weinhändler oder seinen ersten Gehilfen: »Ist ›er‹ da?«

      Und Cadenet, ein kleiner dicker Mann in blauem Anzug mit schwarzen Schutzärmeln, einer Küferschürze und einer Mütze auf dem Kopfe, erschien solchen armen Müttern wie ein Engel, wenn er antwortete:

      »›Er‹ hat gesagt, dass Sie eine ehrliche Frau sind, und dass ich Ihnen vierzig Sous geben darf. Sie wissen, was Sie zu tun haben ...« Und, unglaublich, »er« wurde dafür gesegnet, wie man ehemals Popinot segnete.

      Am Sonntagmorgen freilich, wenn man bezahlen musste, verfluchte man Cérizet; und mehr noch wurde er am Sonnabend verflucht, wenn man arbeiten musste, um den geliehenen Betrag mit den Zinsen zurückzuzahlen, Aber vom Dienstag bis zum Freitag jeder Woche war er die Vorsehung und der Gott.

      Der Raum, in dem er sich aufhielt, früher die Küche des ersten Stocks, war ganz kahl, die geweißte Decke verräuchert. Die Wände, an denen entlang Bänke standen, und der Steinfußboden zogen die Feuchtigkeit bald an sich, bald schwitzten sie sie aus. An Stelle des Kamins, von dem nur noch der Rauchfang vorhanden war, hatte er einen eisernen Ofen aufgestellt, der mit Steinkohle geheizt wurde, wenn es kalt war. Unter dem Rauchfang befand sich ein Podest, der um einen halben Fuß höher als der Fußboden war und sechs Fuß im Geviert maß; auf ihm befanden sich ein Tisch im Werte von zwanzig Sous und ein hölzerner Sessel mit einem zerrissenen grünen Lederkissen. Dahinter hatte Cérizet die Wand mit Schiffsplanken verkleidet. Neben sich hatte er einen kleinen Wandschirm aus weißem Holz, um sich gegen den Zug vom Fenster oder der Tür her zu schützen; dieser zweiteilige Wandschirm ließ aber die Ofenwärme zu ihm heranströmen. Das Fenster war innen mit riesigen Läden versehen, die mit Eisenblech beschlagen und mit einer eisernen Stange gesichert waren. Auch die Tür hatte den gleichen Schutz.

      Im Hintergrunde des Zimmers, in einer Ecke, befand sich eine Wendeltreppe, die aus irgendeinem abgebrochenen Lagerraum herstammte und von Cadenet in der Rue Chapon gekauft worden war; die hatte er in den Fußboden des Zwischenstocks eingelassen. Um jede Verbindung mit dem ersten Stock unmöglich zu machen, hatte Cérizet verlangt, dass die Tür des Zwischengeschosses, die auf den Treppenabsatz führte, zugemauert werde. So glich seine Wohnung einer Festung. Sein oberes Zimmer war nur mit einem Teppich für zwanzig Franken, einem Schülerbett, einer Kommode, zwei Stühlen, einem Sessel und einer eisernen Kassette in Form eines Schreibtisches von vortrefflicher Schlosserarbeit, einem Gelegenheitskauf, ausgestattet. Er rasierte sich vor dem Kaminspiegel; er besaß außerdem zwei Bettbezüge aus Schirting, sechs Hemden aus Perkai und das übrige dem Entsprechende. Ein- oder zweimal hatte Cadenet Cérizet wie einen eleganten Herrn gekleidet gesehen; er hatte nämlich in der untersten Schublade der Kommode eine vollständige Verkleidung verborgen, in der er in die Oper gehen und Gesellschaften besuchen konnte, ohne erkannt zu werden; wäre ihm nicht seine Stimme bekannt gewesen, so hätte Cadenet ihn gefragt: »Was steht zu Ihren Diensten?«

      Was an diesem Manne »seinen Kindern« am besten gefiel, das waren seine Gemütlichkeit und seine Antworten; er redete ihre Sprache. Cadenet, seine beiden Gehilfen und Cérizet, die inmitten des fürchterlichsten Elends ihr Leben verbrachten, bewahrten den Gleichmut der Leichenträger gegenüber den Erben, der alten Gardesergeanten angesichts der Toten; wenn sie den Schrei des Hungers und der Verzweiflung hörten, so jammerten sie ebenso wenig wie die Chirurgen beim Stöhnen ihrer Kranken in den Hospitälern, und wie die Soldaten und die Wärter machten sie nichtssagende Redensarten, wie: »Habt Geduld und ein bisschen Mut! Was nützt es euch, wenn ihr verzweifelt? Und wenn ihr euch umbringt, was dann? ... Man gewöhnt sich an alles; nur etwas Vernunft, usw.«

      Obwohl Cérizet so vorsichtig war, das für seine morgendlichen Geschäfte erforderliche Geld in dem doppelten Boden des Sessels, auf dem er saß, versteckt zu halten, nicht mehr als hundert Franken auf einmal herauszunehmen, die er in seine Hosentaschen steckte, und neuen Vorrat nur zwischen zwei Schüben seiner Kunden herauszuholen, während die Tür geschlossen blieb und erst wieder geöffnet wurde, wenn er seine Taschen untersucht hatte, so war für ihn von den mannigfachen Verzweifelten, die von allen Seiten zu dieser Geldquelle zusammenströmten, doch nichts zu befürchten. Es gibt ohne Zweifel recht viele Arten, auf die man sich als ehrlich oder tugendhaft erweisen kann. Der Mensch mag vor seinem Gewissen schuldig sein, er mag es offensichtlich an Zartgefühl haben fehlen lassen und gegen die Vorschriften der Ehre gesündigt haben: damit verfällt er noch nicht der allgemeinen Missachtung; er mag direkt ehrlos gehandelt haben und vor das Zuchtpolizeigericht gezogen worden sein: damit kommt er noch nicht vor das Schwurgericht; aber wenn er selbst von diesem verurteilt und der Ehrenrechte beraubt worden ist, so kann er selbst im Bagno geachtet werden, wenn er nicht gegen die Verbrecherehre handelt, die darin besteht, dass man kein Denunziant ist, ehrlich teilt und die gleiche Gefahr mit den andern auf sich nimmt. Nun, diese letzte Sorte von Ehrenhaftigkeit, die vielleicht nur das Ergebnis der Berechnung und der Notwendigkeit ist, die aber dem danach Handelnden noch eine gewisse Möglichkeit bietet, sich großherzig zu zeigen und sich zu bessern, sie herrschte absolut zwischen Cérizet und seiner Kundschaft. Cérizet irrte sich niemals, und seine Armen ebensowenig; es gab auf beiden Seiten in bezug auf Kapital und Zinsen niemals Streit. Mehrfach hatte Cérizet, der übrigens ein Kind des Volkes war, von einer Woche zur andern e