Die Kleinbürger. Оноре де Бальзак. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Оноре де Бальзак
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955013363
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von zweitausend Franken, und ich habe die Stadt durch die Barriere d'Italie betreten mit fünfhundert Franken in der Tasche; aber ich habe mir dabei zugeschworen wie einer meiner Landsleute, eines Tages einer der ersten Männer meines Vaterlandes zu werden ... Und der Mann, der sich oft sein Essen aus den Körben zusammengesucht hat, in die die Restaurateure ihre Überreste werfen und die sie um sechs Uhr morgens vor der Tür ausschütten, wenn die Kleinhöker sie nicht haben wollen, solch ein Mann wird von keinem Mittel ... vor dem man nicht erröten muss, zurückschrecken. – Halten Sie mich etwa für einen Volksfreund? ...« sagte er lächelnd; »man muss ein Sprachrohr für sein Renommee haben; das kann man sich nicht mit geflüsterten Worten machen; ... und ohne Ruf, was kann die Begabung erreichen? Der Advokat der Armen wird einmal der Advokat der Reichen werden ... Habe ich Sie nun genügend in mein Innerstes blicken lassen? öffnen Sie mir Ihr Herz ... Sagen Sie zu mir: ›Wir wollen Freunde sein‹, und wir werden alle eines Tages glücklich werden ...«

      »Mein Gott, warum bin ich hierher gekommen? Warum habe ich Ihnen den Arm gegeben? ...« rief Flavia aus.

      »Weil das Ihr Schicksal ist!« erwiderte er. »Ach meine teure, heißgeliebte Flavia,« fuhr er fort und presste ihren Arm an sein Herz, »haben Sie von mir allgemeine Redensarten erwartet? ... Wir sind Bruder und Schwester, ... das ist alles.«

      Und er führte sie auf den Weg nach der Rue d'Enfer zurück.

      Flavia verspürte auf dem Grunde der Befriedigung, die die Frauen bei heftigen Gemütsbewegungen empfinden, ein Gefühl der Angst, und sie hielt es für das Erschrecken, das eine neue Liebesleidenschaft hervorruft; aber sie war beglückt und hüllte sich in tiefes Schweigen.

      »Woran denken Sie?« fragte Theodosius mitten auf dem Wege.

      »An alles, was Sie eben zu mir gesagt haben«, antwortete sie.

      »In unserm Alter«, entgegnete er, »hält man sich doch nicht mit Vorreden auf; wir sind keine Kinder mehr und befinden uns beide in einer Situation, wo man sich verständigen muss. Seien Sie aber jedenfalls überzeugt,« fügte er hinzu, als sie an die Rue d'Enfer gelangt waren, »dass ich Ihnen ganz gehöre.«

      Und er verbeugte sich tief vor ihr.

      »Nun sind die Eisen im Feuer«, sagte er zu sich und blickte seinem betäubten Opfer nach.

      Als er nach Hause zurückkehrte, fand Theodosius auf dem Treppenabsatze eine Persönlichkeit vor, die gewissermaßen ein unterseeisches Dasein in unserer Erzählung führt, und die sich mit einer unterirdischen Kirche vergleichen lässt, über der sich die Fassade eines Palastes erhebt. Der Anblick dieses Mannes, der zuerst vergeblich bei Theodosius geklingelt hatte, und nun eben bei Dutocq klingelte, ließ den provenzalischen Advokaten erschauern, aber nur innerlich, denn nichts an seinem Äußeren verriet seine tiefe Erregung. Dieser Mann war jener Cérizet, von dem Dutocq schon bei den Thuilliers als von seinem Sekretär gesprochen hatte.

      Cérizet, der noch nicht achtunddreißig Jahr alt war, sah aus wie ein Mann von fünfzig, so sehr gealtert war er infolge alles dessen, was einen Menschen alt macht. Sein Kopf und sein Haar ließen einen gelblichen Schädel sehen, den eine durch ihre Entfärbung rötlich schimmernde Perücke nur mangelhaft bedeckte; sein blasses, welkes, übermäßig rohes Gesicht erschien um so scheußlicher, als er eine zerfressene Nase hatte, die aber noch nicht so völlig zerstört war, dass er die Möglichkeit gehabt hätte, sie durch eine künstliche zu ersetzen: von ihrer Wurzel an der Stirn bis zu den Nasenlöchern hatte diese Nase noch ihre natürliche Gestalt; aber die Krankheit hatte die äußeren Nasenflügel zerfressen und nur zwei Löcher von merkwürdiger Form übriggelassen, die die Aussprache beeinträchtigten und die Worte entstellten. Die ursprünglich schönen Augen waren durch Elend jeder Art und durch um die Ohren geschlagene Nächte geschwächt, an den Rändern gerötet und zeigten tiefe Entstellungen; ihr Blick hätte, wenn ein Ausdruck von Bosheit hineingelegt würde, selbst Richtern oder Verbrechern, kurz, Leuten die vor nichts erschrecken, Angst einflößen können.

      Der zahnlose Mund, der noch einige schwarze Stummel aufwies, hatte einen drohenden Ausdruck und ließ hier und da einen schaumigen Speichel sehen, der aber nicht auf die blassen schmalen Lippen trat. Cérizet, ein kleiner, mehr vertrockneter als magerer Mann, suchte für sein hässliches Gesicht durch seine Kleidung zu entschädigen, und wenn diese Kleidung auch keine gute war, so hielt er sie doch in sauberem Stande, was aber ihre Schäbigkeit vielleicht noch deutlicher hervortreten ließ. Alles an ihm erschien zweifelhaft wie sein Alter, seine Sprache, sein Blick. Es war nicht zu erkennen, ob er achtunddreißig oder sechzig Jahr alt war, ob seine blaue, verblasste, aber eng anliegende Hose bald wieder modern sein würde, oder der Mode des Jahres 1835 entsprach. Seine abgetretenen, aber sorgfältig geputzten, dreimal geflickten Stiefel, die einst elegant waren, hatten vielleicht die Teppiche eines Ministers unter sich gehabt. Sein Überrock mit Schnüren, durch Regengüsse verwaschen, dessen Knöpfe ihren Grund durch den Überzug indiskret durchblicken ließen, zeigte in seinem Schnitt noch etwas von seiner früheren Eleganz. Die seidene hohe Krawatte ließ glücklicherweise die Wäsche nicht sehen, war aber hinten von den Zinken der Schnalle zerrissen, und die Seide hatte von der Fettigkeit, die die Perücke absonderte, einen andern Glanz erhalten. Die Weste mochte wohl, als sie neu war, sauber ausgesehen haben, es war aber ein Exemplar der Sorte, die zu vier Franken aus den Beständen der Händler mit fertigen Kleidungsstücken verkauft wird. Alles war sorgfältig abgebürstet, ebenso wie der glänzende verbeulte seidene Hut. Und alles passte zueinander und zu den schwarzen Handschuhen an den Händen dieses subalternen Mephistos, dessen Lebenslauf ein paar Worte gewidmet sein sollen.

      Er war ein Künstler auf dem Gebiete des Bösen, der zuerst mit dem Bösen Glück gehabt hatte und der, durch den ersten Erfolg getäuscht, fortfuhr, Niederträchtigkeiten anzuzetteln, ohne die Grenzen des Strafgesetzes zu überschreiten. Nachdem er durch Verrat an seinem Herrn Leiter einer Druckerei geworden war, wurde er als Herausgeber eines liberalen Blattes verurteilt; und in der Provinz war er dann unter der Restauration einer der »schwarzen Männer« der königlichen Regierung und der »unglückliche« Cérizet, ganz wie der unglückliche Chauvet und wie der heldenmütige Mercier. Diesem Rufe verdankte er im Jahre 1830 seine Ernennung zum Unterpräfekten; sechs Monate später wurde er abgesetzt; aber er behauptete, er wäre, ohne dass man ihn gehört hätte, verurteilt worden, und machte solchen Lärm, dass er unter dem Ministerium Casimir Perier Leiter einer vom Ministerium bezahlten antirepublikanischen Zeitung wurde. Er verließ diese Stellung, um sich Geschäften zu widmen, worunter sich auch eine der übelsten Gründungen befand, die zur Untersuchung vor das Zuchtpolizeigericht gezogen wurde, und wobei er die Verurteilung zu schwerer Strafe stolz auf sich nahm, indem er erklärte, sie sei nur ein Racheakt der republikanischen Partei, die es ihm nicht verzeihen könne, dass er ihr so scharfe Schläge in seinem Blatte beigebracht hatte, und die nun eine Wunde mit zehn anderen vergelte. Seine Gefängnisstrafe hatte er in einem Krankenhause verbracht. Die Regierung schämte sich schließlich eines Mannes, der aus dem Findelhause stammte, und dessen wüstes Leben und schmutzige Geschäfte, die er mit einem früheren Bankier, namens Claparon, zusammen machte, ihn schließlich der vollauf verdienten Verachtung preisgegeben hatten. Daher hatte Cérizet, der auf der sozialen Leiter von Stufe zu Stufe bis ans unterste Ende gelangt war, noch einen Rest von Mitleid nötig, um die Stelle eines Sekretärs bei dem Gerichtsvollzieher Dutocq zu erhalten. Aber in der Tiefe seines Elends träumte dieser Mensch von Rache, und da er nichts mehr zu verlieren hatte, so war ihm jedes Mittel dazu recht. Dutocq und er waren durch ihren üblen Lebenswandel miteinander verbunden. In ihrem Stadtviertel war Cérizet für Dutocq, was der Jagdhund für den Jäger ist. Cérizet, mit allen Nöten des Elends vertraut, trieb den Rinnsteinwucher, den man Darlehn auf eine kurze Woche nennt; er hatte damit begonnen, mit Dutocq Halbpart zu machen, und der ehemalige Pariser Gassenjunge, der der Bankier der Straßenhändler geworden war, der Geldleiher der Handwagen, war der nagende Wurm zweier Faubourgs.

      »Nun,« sagte Cérizet, als Dutocq seine Tür öffnete, »da Theodosius zurück ist, können wir zu ihm gehen.«

      Und der Armenadvokat ließ die beiden Männer vorangehen.

      Die Drei durchschritten ein kleines Zimmer mit glänzend gebohnten Fliesen, auf die die untergehende Sonne ihren rötlichen Schein warf, wenn sie zwischen den Perkalvorhängen hindurchschien, und das einen einfachen runden Nussbaumtisch und