»Kapitel XII.
Von dem erhabenen Wege des heiligen Kreuzes.«
Er nahm das Buch auf. Und wie eine Flammenschrift fesselte ein Satz dieses herrlichen Kapitels seinen Blick:
»Er ist vor euch gewandelt mit seinem Kreuz beladen, und er ist für euch gestorben, damit auch ihr euer Kreuz traget und verlanget, an ihm zu sterben. Gehet, wohin ihr wollt, suchet, soviel ihr möget, ihr werdet keinen erhabeneren und keinen sichereren Weg finden, als ›den Weg des heiligen Kreuzes‹.
Machet und ordnet alles, wie es eurem Verlangen und eurer Einsicht entspricht, und ihr werdet stets aufgerufen werden, Mühsal zu erleiden, ob ihr nun wollet oder nicht, und immer werdet ihr auf das Kreuz stoßen; denn ihr werdet die Schmerzen des Körpers fühlen und die Qualen der Seele erdulden. Wenn ihr von Gott verlassen seid, werden euch die Menschen zu schaffen machen. Und noch mehr: ihr werdet euch oft selbst zur Last sein, und keine Hilfe wird euch gebracht, kein Trost euch zuteil werden; bis es Gott gefallen wird, dem ein Ende zu machen, werdet ihr leiden müssen, denn Gott will, dass ihr leiden lernet ohne Trost, damit ihr euch rückhaltlos seinem Willen unterwerfet, und damit ihr unter der Last der Drangsale demütiger werdet.
»Was für ein Buch!« sagte er und blätterte weiter in dem Kapitel.
Und sein Auge fiel auf die Worte:
»Wenn ihr soweit gekommen seid, die Trübsal als süß zu empfinden und sie zu begehren aus Liebe zu Jesus Christus, dann werdet ihr euch glücklich fühlen, denn dann habt ihr das Paradies in dieser Welt gefunden.«
Betroffen über diese einfachen Worte, die darum gerade so stark wirkten, und ärgerlich, dass er sich von diesem Buche geschlagen fühlte, schloss er es; aber noch auf dem grünen Maroquinleder des Einbands las er in Goldbuchstaben die Mahnung:
»Trachtet nur nach dem, was ewig ist!«
»Und haben sie das hier gefunden?...« fragte er sich. Er brach auf, um ein schönes Exemplar der »Nachahmung Christi« zu besorgen, da er daran dachte, dass Frau de la Chanterie abends ein Kapitel daraus zu lesen pflegte, ging hinunter und trat auf die Straße hinaus. Einige Augenblicke blieb er wenige Schritte vor der Tür stehen, unschlüssig, welchen Weg er nehmen, und überlegend, wo und in welcher Buchhandlung er das Buch kaufen solle; da vernahm er das dumpfe Geräusch des schweren Haustors, das geschlossen wurde.
Wenn man den Charakter dieses alten Hauses recht begriffen hat, wird man verstehen, worin sich die alten Häuser von andern unterscheiden. Als Manon Gottfried am Morgen herunterholen kam, hatte sie ihn, deutlich lächelnd, gefragt, wie er die erste Nacht im Hause de la Chanterie geschlafen habe. Zwei Männer verließen das Haus de la Chanterie. Gottfried folgte, ohne irgendwie spionieren zu wollen, den beiden Männern, die ihn für einen Passanten hielten und in dieser stillen Gegend so laut sprachen, dass er ihrer Unterhaltung folgen konnte. Die beiden Unbekannten gingen die Rue Massillon entlang, an Notre-Dame vorbei und quer über den Platz.
»Na, mein Alter, du siehst, dass es ziemlich leicht war, Geld von ihnen herauszuholen... man muss ihnen zum Munde reden... das ist alles.«
»Aber wir schulden es doch.«
»Wem?«
»Nun, der Dame.«
»Das möchte ich sehen, ob mich die alte Schachtel verklagen würde, ich würde ihr...«
»Du würdest ihr... du würdest ihr zurückzahlen...«
»Du hast recht, denn wenn ich es ihr zurückzahle, würde ich später mehr als heute bekommen...«
»Wäre es nicht besser, wenn wir ihren Rat befolgten und ein Geschäft anfingen?«
»Ach, Unsinn!«
»Sie würde uns doch stille Teilhaber verschaffen, hat sie gesagt.«
»Dann müsste man auch ein anderes Leben anfangen...«
»Das jetzige habe ich bis hierher, man ist doch kein Mensch mehr; wenn man immer benebelt herumläuft...«
»Jawohl; aber der Abbé hat doch neulich den alten Marin im Stiche gelassen und ihm alles abgeschlagen.«
»Ach, der alte Marin wollte eine knifflige Sache unternehmen, wie sie nur Millionäre durchsetzen können.«
In diesem Moment wandten sich die beiden Männer, ihrem Äußern nach Werkmeister, um nach der Place Maubert über den Pont de l'Hôtel-Dieu zu gehen; Gottfried trat beiseite, aber als sie bemerkten, dass er so dicht hinter ihnen war, wechselten sie einen misstrauischen Blick, und ihr Gesicht verriet, dass sie bedauerten, laut gesprochen zu haben.
In Gedanken hierüber ging er zu einem Buchhändler in der Rue Saint-Jacques und kehrte mit einem sehr kostbaren Exemplar der neusten Ausgabe der »Nachahmung Christi«, die in Frankreich erschienen war, zurück. Als er langsamen Schrittes heimging, um pünktlich zur Essensstunde einzutreffen, rief er sich noch einmal die Empfindungen, die er an diesem Vormittage verspürt hatte, ins Gedächtnis zurück und fühlte sich innerlich aufs köstlichste erquickt. Er war von einer heißen Neugier geplagt, aber seine Neugierde trat zurück vor einem unerklärlichen Verlangen, das ihn zu Frau de la Chanterie hinzog; er empfand ein heftiges Begehren, sich an sie anzuschließen, sich für sie aufzuopfern, ihr zu gefallen, sich ihr Lob zu verdienen; er war von einer platonischen Liebe ergriffen, er ahnte bei ihr eine unerhörte Seelengröße, er wollte ihr Inneres ganz kennenlernen. Er brannte darauf, in die Geheimnisse der Existenz dieser Katholiken von reiner Frömmigkeit einzudringen. Und innerhalb dieses kleinen Kreises der Getreuen verband sich die Erhabenheit des frommen Handelns so vortrefflich mit dem, was die Französin Hohes besitzen kann, dass er beschloss, alles zu tun, um in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Solche Gefühle wären bei einem beschäftigten Pariser sehr flüchtige gewesen; aber Gottfried war, wie man gesehen hat, in der Lage des Schiffbrüchigen, der sich an die gebrechlichsten Planken anklammert, weil er sie für tragfähig hält, und seine Seele war durchfurcht und bereit, jeden Samen in sich aufzunehmen.
Er traf die vier Freunde im Salon, überreichte das Buch Frau de la Chanterie und sagte:
»Ich wollte Sie Ihrer Lektüre heute Abend nicht berauben ...«
»Gebe Gott,« erwiderte sie, während sie den prächtigen Band betrachtete, »dass das Ihre letzte verschwenderische Handlung gewesen sein möge!«
Da er sah, dass bei den vier Personen die Kleidung bis ins geringste auf Sauberkeit und Zweckmäßigkeit beschränkt, und dass dieser Grundsatz im Hause auch bis in die kleinsten Einzelheiten durchgeführt war, begriff Gottfried die Bedeutung des so liebenswürdig ausgedrückten Vorwurfs.
»Gnädige Frau,« sagte er, »die Leute, denen Sie heute morgen Ihre Unterstützung gewährt haben, sind schlechte Kerle; ohne es zu wollen, habe ich mit angehört, was sie für Dinge planten, als sie von hier fortgingen; was sie sagten, zeugte von der schwärzesten Undankbarkeit...«
»Das sind die beiden Schlosser aus der Rue Mouffetard,« sagte Frau de la Chanterie zu Herrn Nikolaus, »das gehört in Ihr Ressort...«
»Der Fisch entschlüpft mehr als einmal, bevor er sich fangen lässt«, entgegnete lächelnd Herr Alain. Die völlige Unempfindlichkeit der Frau de la Chanterie bei der Nachricht der sofortigen Undankbarkeit der Leute, denen sie sicher Geld gegeben hatte, setzte Gottfried in Erstaunen und ließ ihn nachdenklich werden.
Das Essen verlief heiter, dank Herrn Alain und dem ehemaligen Gerichtsrat; aber der alte Soldat blieb ernst, traurig und kühl, sein Gesicht trug den unverwischbaren Ausdruck bitteren Kummers und unvertilgbaren Schmerzes. Frau de la Chanterie war gegen alle gleich aufmerksam. Gottfried fühlte sich beobachtet von diesen Leuten, deren Vorsicht ihrer