Honoré de Balzac
Kehrseite der Geschichte unserer Zeit
Impressum
ISBN 9783955014728
2014 andersseitig.de
Covergestaltung: Erhard Koch
Digitalisierung: Erhard Koch
andersseitig Verlag
Dresden
www.andersseitig.de
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Frau des la Chanterie
An einem schönen Septemberabend des Jahres 1836 stand ein Mann von ungefähr dreißig Jahren an die Brüstung gelehnt auf dem Quai, von dem man die Seine gleichzeitig stromauf vom Botanischen Garten bis zu Notre-Dame und stromabwärts über das weite Ufergelände bis zum Louvre überblickt. Es gibt keinen zweiten solchen Punkt in der Hauptstadt des Geistes. Man befindet sich hier wie auf dem Heck eines gigantischen Schiffes. Die Geschichte von Paris steigt vor Einem auf von den Römern bis zu den Franken, von den Normannen bis zu den Burgundern, das Mittelalter, die Valois, Heinrich IV., Ludwig XIV., Napoleon und Louis Philipp. Jede Herrschaft hat irgendeine Spur hinterlassen oder Monumente, die an sie erinnern. Sainte-Geneviève überragt mit ihrer Kuppel das Quartier latin. Hinter einem erhebt sich der herrliche Chor der Kathedrale. Das Hôtel de Ville erzählt von allen Revolutionen, das Krankenhaus von allem Elend der Stadt Paris. Wenn man die Herrlichkeiten des Louvre betrachtet hat, kann man ein paar Schritte davon die zerfallenen Häuserreste zwischen dem Quai de la Tournelle und dem Hôtel de Ville sehen, die die modernen Schöffen der Stadt jetzt verschwinden lassen.
Im Jahre 1835 besaß dieses wundervolle Bild noch eine Besonderheit mehr: zwischen dem an die Brüstung gelehnten Pariser und der Kathedrale war das Terrain, wie der alte Name dieser einsamen Gegend lautete, noch mit den Ruinen des erzbischöflichen Palais bedeckt. Angesichts so vieler Bilder, die die Phantasie anregen, wo der Geist Vergangenheit und Gegenwart der Stadt Paris umfasst, scheint die Religion hier eine Stätte gefunden zu haben, von der aus sie beide Hände über die Schmerzen beider Ufer des Flusses ausbreitet und den Raum vom Faubourg Saint-Antoine bis zum Faubourg Saint-Marceau umfasst. Wir wollen hoffen, dass eine so erhabene Harmonie durch die Errichtung eines erzbischöflichen Palais in gotischem Stil vervollkommnet wird, das an die Stelle des baufälligen, charakterlosen Gebäudes zwischen dem Terrain, der Rue d'Arcole, der Kathedrale und dem Quai de la Cité tritt.
Dieser Punkt, das Herz des alten Paris, ist zugleich seine einsamste und melancholischste Stelle. Die Wogen der Seine prallen hier geräuschvoll an, die Kathedrale wirft bei Sonnenuntergang ihren Schatten darüber hin. Man versteht, dass hier bei einem Manne, der an einer seelischen Krankheit litt, ernste Gedanken lebendig wurden. Wahrscheinlich gefesselt von dem Einklang zwischen seinen momentanen Gedanken und denen, die der Anblick so verschiedener Bilder in ihm wachrief, blieb der Spaziergänger, die Hände auf die Brüstung gestützt, stehen, versunken in die zwiefache Betrachtung von Paris und von sich selbst! Die Schatten wuchsen länger, Lichter wurden in der Ferne angezündet, er aber ging nicht weiter, versunken in tiefes Nachdenken über die Zukunft, die das Überdenken der Vergangenheit so ernst macht. In diesem Augenblick hörte er, wie zwei Personen sich näherten, deren Stimmen er schon von der steinernen Brücke her vernommen hatte, die die Cité-Insel mit dem Quai de la Tournelle verbindet. Die beiden Personen glaubten ohne Zweifel, dass sie allein seien und sprachen daher lauter, als sie es an besuchten Orten oder in Gegenwart eines Fremden getan hätten. Von der Brücke her ließen die Stimmen erkennen, wie aus einigen an das Ohr des unfreiwilligen Zeugen der Szene gelangten Worten hervorging, dass es sich um eine Bitte, Geld zu borgen, handelte. Als sie in die Nähe des Spaziergängers gelangt waren, trennte sich der, der wie ein Arbeiter gekleidet war, von dem andern mit einer verzweifelten Gebärde. Der andere wandte sich um, rief den Arbeiter zurück und sagte zu ihm: »Sie haben ja keinen Sou Brückengeld. Hier,« fuhr er fort und gab ihm ein Geldstück, »und denken Sie daran, dass es Gott selbst ist, der zu uns spricht, wenn wir einen guten Gedanken haben.«
Diese letzten Worte ließen den Träumer erzittern. Der Mann, der sie gesprochen hatte, ahnte nicht, dass er, um einen sprichwörtlichen Ausdruck zu gebrauchen, zwei Fliegen mit einer Klappe schlug, und dass er sie an ein zweifaches Elend gerichtet hatte: an einen verzweifelten Arbeiter und an eine kranke Seele ohne Kompass; ein Opfer dessen, was die Hämmel Panurgs »Fortschritt« nennen und die Franzosen »Gleichheit«. Die an sich so einfachen Worte erhielten eine gewisse Größe durch den Ton dessen, der sie gesprochen hatte und durch seine reizvolle Stimme. Gibt es nicht solche sanften, süßen Stimmen, die auf uns wie der Anblick des Ultramarins wirken?
An der Kleidung erkannte der Pariser einen Priester und erblickte bei dem letzten Licht der Dämmerung ein bleiches, erhabenes, aber abgezehrtes Antlitz.
Der Anblick eines Priesters, der in Wien aus dem schönen Stephansdom heraustrat, um einem Sterbenden die letzte Wegzehrung zu bringen, bestimmte den berühmten Dramatiker Werner, katholisch zu werden. Fast ebenso ging es dem Pariser beim Anblick des Mannes, der ihm eben, ohne es zu ahnen, Trost gebracht hatte; an dem mit dunklen Wolken drohenden Horizont seiner Zukunft erblickte er einen langen hellen Streifen, in dem das Blau des Äthers hindurchschien, und er ging diesem Lichte nach wie die Hirten des Evangeliums der Stimme, die ihnen von oben her zurief: »Der Heiland ist geboren!« Der Mann, der das heilbringende Wort gesprochen hatte, ging an der Kathedrale entlang und lenkte seine Schritte, dem Zufall gehorchend, der manchmal so planvoll ist, der Straße zu, aus der der Spaziergänger gekommen war, und in die ihn die Fehler, die er in seinem bisherigen Leben begangen hatte, zurückführten.
Dieser Spaziergänger hatte den Namen Gottfried. Der Leser dieser Geschichte wird verstehen, aus welchen Gründen nur die Vornamen der vorkommenden Personen genannt werden. Es soll nun berichtet werden, warum Gottfried, der in dem Viertel der Chaussée d'Antin wohnte, sich um diese Stunde am Chor von Notre-Dame befand.
Sohn eines Detailhändlers, der durch Sparsamkeit ein ziemliches Vermögen zusammengebracht hatte, konzentrierte sich der ganze Ehrgeiz von Vater und Mutter auf ihn, die ihn als Pariser Notar zu sehen hofften. Er wurde daher mit sieben Jahren in dem Institut des Abbé Liautard untergebracht, zusammen mit Kindern vieler vornehmer Familien, die unter der Regierung des Kaisers aus Anhänglichkeit an die Religion, die in den Lyzeen ein wenig vernachlässigt wurde, ihre Söhne in dieser Schule erziehen ließen. Die sozialen Unterschiede konnten sich unter den Kameraden noch nicht geltend machen; aber im Jahre 1821 musste Gottfried, der nach Vollendung seiner Studien bei einem Notar in Stellung getreten war, sehr bald gewahr werden, welcher Abstand ihn von denjenigen trennte, mit denen er bisher so vertraut zusammengelebt hatte.
Als er sein Rechtsstudium begann, gehörte er zu der Masse von Bürgersöhnen, die ohne Vermögen und ohne vornehme Herkunft alles nur von ihrer persönlichen Fähigkeit oder ihrem hartnäckigen Fleiß zu erwarten haben. Die Erwartungen, welche Vater und Mutter, die sich inzwischen vom Geschäft zurückgezogen hatten, auf ihn setzten, spornten seine Eigenliebe an, ohne ihm doch den nötigen Ernst zu verleihen. Die Eltern lebten nach holländischer Weise sehr bescheiden und verbrauchten nur den vierten Teil ihrer Rente von zwölftausend Franken; ihre Ersparnisse und die Hälfte ihres Kapitals hatten sie zum Ankauf eines Notariats für ihren Sohn bestimmt. Da er sich selbst in dieses sparsame häusliche Leben fügen musste, hielt er ein solches Dasein den Zukunftshoffnungen seiner Eltern und seinem eigenen für so wenig entsprechend, dass er verzagte. Bei schwachen Naturen entsteht aus solchem Kleinmut Neid. Während andere, bei denen die harte Notwendigkeit, der Wille und die Einsicht die Begabung ersetzen, geradeaus und entschlossen den Weg verfolgen, der den ehrgeizigen Ansprüchen des Bürgertums vorgezeichnet ist, empörte sich Gottfried dagegen; er wollte glänzen, erschien überall, wo es hoch herging und fühlte sich dann verletzt.
Er versuchte emporzukommen, aber alle seine Anstrengungen ließen ihn nur seine Ohnmacht erkennen. Als ihm endlich das Missverhältnis zwischen seinen Ansprüchen und dem, was er erreicht hatte, klar wurde, ergriff ihn ein Hass gegen die sozialen Vorrechte, er wurde ein Liberaler und versuchte, sich durch ein Buch berühmt zu machen; aber der Erfolg war nur, dass er das wirkliche Talent mit denselben Augen ansah wie den Adel.