Kehrseite der Geschichte unserer Zeit. Оноре де Бальзак. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Оноре де Бальзак
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955014728
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Herrn Alain in einer Ecke des Salons wahrnahm, der damit beschäftigt war, Tausendfrankenscheine zu zählen.

      Im nächsten Augenblick war Vernisset auf den Beinen, und der gute Alain hielt verdutzt inne. Frau de la Chanterie warf Gottfried einen Blick zu, der ihn erstarren ließ; denn der zweideutige Ausdruck auf dem Gesichte des neuen Gastes war ihm nicht entgangen.

      »Der Herr«, sagte sie zu dem jungen Dichter und zeigte auf Gottfried, »gehört zu den Unsrigen ...« »Sie sind sehr glücklich, mein lieber Herr,« sagte Vernisset, »Sie sind gerettet! Gnädige Frau,« wandte er sich dann an Frau de la Chanterie, »und wenn ganz Paris mich so gesehen hätte, so wäre ich glücklich darüber gewesen, nichts kann meine Dankbarkeit gegen Sie wettmachen!... Ich bin Ihnen für alle Zeiten verpflichtet! Ich gehöre Ihnen ganz und gar. Befehlen Sie mir, was es auch sei, und ich werde gehorchen! Meine Erkenntlichkeit wird unbegrenzt sein. Ich verdanke Ihnen das Leben, es gehört Ihnen ...«

      »Na, na,« sagte der gute Alain, »seien Sie vernünftig, junger Mann, arbeiten Sie nur, und vor allem greifen Sie in Ihren Werken niemals die Religion an. Und endlich denken Sie daran, dass Sie eine Schuld übernommen haben!

      Und er reichte ihm einen mit den Bankbilletten, die er gezählt hatte, gefüllten Umschlag. Victor de Vernisset hatte die Augen voller Tränen, küsste ehrfurchtsvoll Frau de la Chanterie die Hand und entfernte sich, nachdem er Herrn Alain und Gottfried die Hand gedrückt hatte.

      »Sie sind ungehorsam gegen die gnädige Frau gewesen, sagte der Biedermann feierlich mit einem so traurigen Gesicht, wie es Gottfried noch nie bei ihm gesehen hatte, »das ist ein schweres Vergehen; noch ein solches, und wir sind geschiedene Leute... Das wird sehr hart für Sie sein, da wir Sie unseres Vertrauens für würdig gehalten haben ...«

      »Mein lieber Alain,« sagte Frau de la Chanterie, »erweisen Sie mir die Freundlichkeit, über diese Unbesonnenheit zu schweigen ... Man muss nicht zuviel von einem Neuling verlangen, der großes Unglück durchgemacht hat, der keine Religion besitzt, dessen ganzes Sinnen in einer außerordentlich starken Neugierde besteht und der noch kein Vertrauen zu uns hat.«

      »Verzeihen Sie mir, gnädige Frau«, erwiderte Gottfried, »von nun ab will ich mich Ihrer würdig erweisen; ich unterwerfe mich jeder Prüfung, die Sie für nötig erachten, bevor Sie mich in die Geheimnisse Ihrer Tätigkeit einweihen, und wenn der Herr Abbé de Vèze es auf sich nehmen will, mich zu erleuchten, so werde ich mich ihm mit Geist und Herz hingeben.«

      Diese Worte machten Frau de la Chanterie so glücklich, dass ihre Wangen sich mit einer zarten Röte bedeckten; sie drückte Gottfried die Hand und sagte mit merkwürdiger Erregung: »Es ist gut.«

      Abends nach dem Essen sah Gottfried einen Generalvikar der Pariser Diözese, zwei Domherren, zwei ehemalige Pariser Bürgermeister und eine Barmherzige Schwester erscheinen. Es wurde nicht gespielt, die allgemeine Unterhaltung war heiter, ohne oberflächlich zu sein.

      Ein Besuch, der Gottfried sehr überraschte, war der der Gräfin Cinq-Cygne, einer Dame der höchsten Aristokratie, deren Salon der Bourgeoisie und den Parvenüs verschlossen war. Die Anwesenheit dieser vornehmen Dame im Salon der Frau de la Chanterie war an sich schon sehr merkwürdig; aber die Art, mit der die beiden Damen sich begrüßten und sich gegeneinander benahmen, war für Gottfried unerklärlich; denn sie bekundete eine Vertraulichkeit und einen ständigen Verkehr, die Frau de la Chanterie eine ungeheure Bedeutung verliehen. Frau de Cinq-Cygne war liebenswürdig und freundschaftlich gegen die vier Freunde ihrer Freundin und respektvoll gegen Herrn Nikolaus. Man sieht, dass Gottfried noch von der gesellschaftlichen Eitelkeit beherrscht war; denn der bis dahin noch immer Unschlüssige beschloss nun, mit oder ohne Überzeugung, alles zu tun, was Frau de la Chanterie und ihre Freunde von ihm verlangen würden, um in ihren Orden aufgenommen oder in ihre Geheimnisse eingeweiht zu werden, wobei er sich nur noch die definitive Entscheidung vorbehielt.

      Am andern Morgen begab er sich zu einem Buchhalter, den ihm Frau de la Chanterie bezeichnet hatte, vereinbarte mit ihm die Stunden, in denen sie zusammen arbeiten wollten, und hatte nun seine Zeit vollkommen ausgefüllt; denn der Abbé de Vèze unterrichtete ihn vormittags, zwei Stunden täglich verbrachte er bei dem Buchhalter, und zwischen dem zweiten Frühstück und dem Mittagessen arbeitete er an fingierten Geschäftsbüchern, die sein Lehrer ihn führen ließ.

      So vergingen mehrere Tage, bei deren Verlauf Gottfried den Reiz einer Lebensführung empfand, bei der jede Stunde in bestimmter Weise ausgefüllt ist. Die zu festgesetzter Zeit regelmäßig wiederkehrende bekannte Arbeit erklärt das Glück vieler Existenzen und beweist, wie tief die Gründer religiöser Orden über das Wesen des Menschen nachgedacht haben. Gottfried, der sich vorgenommen hatte, den Abbé de Vèze anzuhören, empfand schon Besorgnisse wegen seines künftigen Lebens und fing an zu erkennen, dass er nichts von der schwerwiegenden Bedeutung der religiösen Fragen wusste. Dazu ließ Frau de la Chanterie, bei der er ungefähr eine Stunde nach dem zweiten Frühstück zu verweilen pflegte, ihn täglich neue Schätze ihres Innern entdecken; niemals hatte er eine so vollkommene und so umfassende Güte für möglich gehalten. Eine Frau in dem Alter, das Frau de la Chanterie zu haben schien, besitzt keine der Schwächen junger Frauen mehr; sie ist eine Freundin, die einem alle weibliche Zartheit entgegenbringt, die die Grazie und Feinheit entfaltet, welche die Natur der Frau für den Mann mitgegeben hat, und die sie nicht mehr verkauft: sie ist abscheulich oder vollkommen; denn alles Verlangen schlummert unter ihrer Oberfläche oder ist abgestorben; und Frau de la Chanterie gehörte zu den Vollkommenen. Sie schien niemals jung gewesen zu sein, ihr Blick erzählte nichts von einer Vergangenheit. Fern davon, Gottfrieds Neugierde zu befriedigen, verdoppelten die immer genauere Bekanntschaft mit diesem erhabenen Charakter und die täglich neuen Entdeckungen sein Verlangen, das frühere Leben dieser Frau kennenzulernen, die ihm wie eine Heilige erschien. Hatte sie jemals geliebt? War sie verheiratet gewesen? War sie Mutter gewesen? Nichts an ihr verriet die alte Jungfer, sie entfaltete alle Reize der Frau von vornehmer Geburt, und man musste aus ihrer robusten Gesundheit, aus der eigentümlichen Art ihrer Unterhaltung auf ein heiliges Leben und auf eine Unkenntnis des Weltgetriebes schließen. Ausgenommen den heiteren Alain, hatten alle diese Menschen Leiden erfahren; aber selbst Herr Nikolaus schien die Palme des Martyriums Frau de la Chanterie zu reichen, und trotzdem wurde die Erinnerung an ihr Unglück so vollkommen von der katholischen Ergebung und ihrer geheimnisvollen Tätigkeit zurückgedrängt, dass sie immer glücklich zu sein schien.

      »Sie bedeuten«, sagte Gottfried eines Tages zu ihr, »das Leben für Ihre Freunde, Sie sind das Band, das sie umschlingt, Sie sind sozusagen die häusliche Leiterin eines großen Werkes; und da wir alle sterblich sind, so frage ich mich, was aus ihrer Vereinigung einmal werden soll ohne Sie ...«

      »Das macht ihnen auch Sorge; aber die Vorsehung, der wir auch unsern Buchführer zu verdanken haben, sagte sie lächelnd, »wird schon helfen. Übrigens werde ich mich nach Ersatz umsehen.

      »Wird Ihr Buchführer bald seinen Dienst in Ihrem Geschäftshause antreten?« fragte Gottfried lachend.

      »Das hängt von ihm ab«, entgegnete sie lächelnd. »Er muss erst wahrhaft gläubig und fromm geworden sein, keinerlei Eigenliebe mehr besitzen, sich nicht um die Reichtümer unseres Hauses bekümmern und daran denken, sich über die kleinlichen gesellschaftlichen Bedenken zu erheben mit den beiden Flügeln, die Gott uns gegeben hat ...«

      »Welche sind das ...?«

      »Die Einfalt und die Reinheit«, erwiderte Frau de la Chanterie. »Ihre Unkenntnis verrät mir deutlich genug, dass Sie die Lektüre unseres Buches vernachlässigt haben, fuhr sie fort, über die harmlose List lächelnd, mit der sie in Erfahrung gebracht hatte, ob Gottfried in der›Nachahmung Christi‹ las. »Dann aber machen Sie sich die Epistel des heiligen Paulus über die Nächstenliebe zu eigen. Nicht Sie werden uns dienen, sagte sie mit erhabenem Ausdruck, »sondern wir werden Ihnen dienen, und es wird Ihnen erlaubt sein, viel gewaltigere Reichtümer zu sammeln, als je ein König besessen hat; Sie werden sie genießen, wie wir sie genießen; und lassen Sie mich Ihnen sagen, dass die Schätze Aladins, wenn Sie sich an ›Tausendundeine Nacht‹ erinnern, nichts sind im Vergleich mit dem, was wir besitzen ... Daher wissen wir auch seit einem Jahre nicht mehr, wie wir es machen sollen, wir sind nicht ausreichend dafür, wir müssen einen Buchführer haben ...«

      Während