Gottfried in sein Grübeln versunken und eine royalistische Verschwörung vermutend, hielt die Worte seiner Wirtin für eine Einleitung und unterwarf sie einer Beobachtung, indem er sich neben sie setzte. Er war erstaunt über die besondere Geschicklichkeit, mit der diese Frau, bei der alles die vornehme Dame verriet, ihre Arbeit ausführte; sie besaß die Gewandtheit einer Arbeiterin, denn jeder vermag an gewissen Handgriffen das Tun eines Handwerkers und das eines Dilettanten zu erkennen.
»Sie arbeiten,« sagte Gottfried, »als ob Sie das Handwerk verstünden!«
»Ach,« antwortete sie, ohne den Kopf zu erheben, »ich habe es einstmals gezwungen ausüben müssen...
Zwei dicke Tränen perlten in den Augen der alten Dame, rannen an ihren Wangen hinab und fielen auf das Wäschestück, das sie in der Hand hielt.
»Oh, verzeihen Sie mir, gnädige Frau«, rief Gottfried.
Frau de la Chanterie sah ihren neuen Pensionär an und las auf seinem Gesicht ein so tiefes Bedauern, dass sie ihm freundlich zunickte. Nachdem sie sich die Augen getrocknet hatte, nahm ihr Antlitz sofort wieder den Ausdruck seiner gewohnten Ruhe an; es war weniger kalt als kühl.
»Sie befinden sich hier, Herr Gottfried – Sie wissen ja bereits, dass wir Sie nur mit ihrem Vornamen nennen werden –, mitten unter den Trümmern eines großen Zusammenbruchs. Wir alle sind schwer verwundet in unserm Herzen, unsern Familienangelegenheiten und unserm Vermögen durch den vierzig Jahre dauernden Orkan, der das Königtum und die Religion gestürzt und die Grundlagen des alten Frankreichs vernichtet hat. Scheinbar gleichgültige Worte können uns alle verletzen, das ist der Grund der Schweigsamkeit, die hier herrscht. Wir sprechen selten von uns selbst; wir sind für uns in Vergessenheit geraten und haben das Mittel gefunden, an Stelle unseres früheren Lebens ein anderes zu setzen. Das ist der Grund, warum ich nach Ihren Bekenntnissen bei Mongenod an eine Übereinstimmung zwischen Ihrer und unserer Situation geglaubt und meine vier Freunde dazu bestimmt habe, Sie in unsern Kreis aufzunehmen; wir brauchen außerdem noch einen Mönch mehr für unser Kloster. Aber was werden Sie nun beginnen? Man kann sich nicht in die Einsamkeit zurückziehen ohne moralischen Fonds.«
»Ich wäre nach solchen Worten sehr glücklich; gnädige Frau, wenn Sie über meine Zukunft bestimmen wollten.«
»Sie sprechen wie ein Weltmann,« entgegnete sie, »Sie versuchen, mir zu schmeicheln, mir, einer Frau von sechzig Jahren!... Mein liebes Kind,« fuhr sie fort, »Sie müssen wissen, dass Sie sich unter Leuten befinden, die streng gottesgläubig sind, die seine Hand verspürt und die sich ihm fast ganz so wie Trappisten hingegeben haben. Haben Sie auf das ungeheure Sicherheitsgefühl der echten Priester geachtet, die sich dem Herrn ganz hingegeben haben, seine Stimme vernehmen und sich bemühen, ein gelehriges Instrument in der Hand der Vorsehung zu sein? ... Sie kennen keine Eitelkeit, keine Selbstliebe, nichts von dem, was den Weltleuten beständig Wunden beibringt; sie besitzen die Ruhe des Fatalisten, ihre Ergebung lässt sie alles ertragen. Der echte Priester, ein solcher wie der Abbé de Vèze, lebt dann wie ein Kind bei seiner Mutter, denn die Kirche, mein lieber Herr, ist eine gute Mutter. Nun, man kann auch ein Priester werden ohne Tonsur, nicht alle Priester gehören zu einem Orden. Sich dem Guten angeloben, das heißt, es dem echten Priester gleichtun, das heißt, Gott gehorchen! Ich predige Ihnen nicht, ich will Sie nicht bekehren, ich will Ihnen nur unser Leben erklären.«
»Belehren Sie mich, gnädige Frau,« sagte Gottfried hingerissen, »damit ich Ihre Vorschriften in keinem Punkte übertrete.«
»Damit hätten Sie zuviel zu tun, das werden Sie von Stufe zu Stufe lernen, vor allem sprechen Sie hier niemals von Ihrem Unglück, das eine Kinderei ist im Vergleich mit den schrecklichen Katastrophen, die Gott über die, mit denen Sie jetzt zusammenleben, hat hereinbrechen lassen ...«
Während sie so sprach, hatte Frau de la Chanterie immerfort ihre Stiche mit verzweifelter Regelmäßigkeit gemacht; jetzt aber erhob sie das Haupt und sah Gottfried an, auf den die bezaubernde Süße ihrer Stimme, die, wie man sagen muss, eine himmlische Milde besaß, einen tiefen Eindruck machte. Der gemütskranke junge Mann betrachtete voller Verehrung die wahrhaft ungewöhnliche Erscheinung dieser Frau, deren Antlitz leuchtete. Ein rosiger Hauch hatte sich über ihre wachsbleichen Wangen ergossen, ihr Auge strahlte, ein jugendlicher Geist belebte ihre leichten Runzeln, die ihr einen eigenen Reiz verliehen, und alles an ihr forderte liebevolle Zuneigung heraus. Gottfried ermaß in diesem Moment die Tiefe des Abgrunds, der diese Frau von niedrigen Empfindungen trennte; er sah, dass sie den unzugänglichen Gipfel erreicht hatte, auf den sie von der Religion geführt war, und er war noch zu weltlich gesinnt, als dass er davon nicht stark betroffen worden wäre und nicht gewünscht hätte, in den Graben hinabzusteigen und die schmale Höhe zu erklimmen, auf der Frau de la Chanterie stand, um sich neben sie zu stellen. Während er diese Frau einer eingehenden Prüfung unterwarf, erzählte er ihr von den Enttäuschungen seines Lebens und von allem, was er bei Mongenod nicht hatte sagen können, wo seine Bekenntnisse sich auf die Darlegung seiner Lage beschränkt hatten.
»Armes Kind!...«
Dieser mütterliche Ausruf, der den Lippen der Frau de la Chanterie entschlüpfte, legte sich wie Balsam auf das Herz des jungen Mannes.
»Was kann ich an die Stelle so vieler getäuschter Hoffnungen, so vieler verratener Liebe setzen?« fragte er endlich und sah seine Wirtin an, die nachdenklich geworden war.
»Ich bin hierher gekommen, um nachzudenken und einen Entschluss zu fassen. Ich habe meine Mutter verloren, treten Sie an ihre Stelle ...«
»Werden Sie auch wie ein Sohn gehorchen?...« sagte sie.
»Ja, wenn Sie mir die volle Zuneigung entgegenbringen, der man so gern gehorcht.«
»Also, wir wollen es versuchen«, versetzte sie.
Gottfried streckte die Hand aus, um die Hand seiner Wirtin zu ergreifen, die sie ihm, seine Absicht ahnend, reichte, und führte sie respektvoll an seine Lippen. Frau de la Chanteries Hände waren von wunderbarer Schönheit, ohne Runzeln, weder fett noch mager, so weiß, dass sie den Neid einer jungen Frau erregen konnten, und von einer Form, dass sie ein Bildhauer hätte abbilden mögen. Gottfried bewunderte die Hand, und fand, dass sie zu dem Reiz der Stimme und der himmlischen Bläue der Augen passte.
»Bleiben Sie!« sagte Frau de la Chanterie, erhob sich und ging in ihr Zimmer.
Gottfried empfand eine heftige Erregung und wusste nicht, was er von ihrem Fortgehen denken sollte; aber sein Erstaunen dauerte nicht lange, denn sie kam mit einem Buch in der Hand zurück.
»Hier, mein liebes Kind , sagte sie, »haben Sie die Vorschriften eines großen Seelenarztes. Wenn die Verhältnisse des alltäglichen Lebens uns das Glück, das wir erwarteten, nicht zuteil werden ließen, dann muss man das Glück in dem höheren Leben suchen, und hier haben Sie den Schlüssel zu dieser neuen Welt. Lesen Sie jeden Abend und jeden Morgen ein Kapitel dieses Buches; aber lesen Sie es mit vollster Aufmerksamkeit, studieren Sie die Worte, als ob es sich um eine fremde Sprache handele ... Nach Verlauf eines Monats werden Sie ein anderer Mensch sein. Seit zwanzig Jahren lese ich täglich ein Kapitel, und meine drei Freunde, die Herren Nikolaus, Alain und Joseph, versäumen das ebensowenig wie das Schlafengehen und Aufstehen; machen Sie es ebenso aus Liebe zu Gott, aus Liebe zu mir«. Sie sprach mit himmlischer Freudigkeit und erhabenem Vertrauen.
Gottfried wandte das Buch um und las auf dem Rücken in Goldbuchstaben: »Die Nachahmung Christi«. Die Einfachheit dieser Frau, ihre kindliche Reinheit, ihre Überzeugung, dass sie ihm eine Wohltat erwiesen habe, verwirrten den Exdandy. Die Haltung und die Freude der Frau de la Chanterie glich vollständig denen einer Frau, die einem Kaufmann, der im Begriff ist, Konkurs anzumelden, hunderttausend Franken darbietet.
»Ich habe mich seiner seit zwanzig Jahren bedient. Gebe Gott, dass das Buch ansteckend wirke! Gehen Sie nun, und kaufen Sie mir ein anderes; es ist jetzt die Zeit, wo Leute zu mir kommen, die nicht gesehen werden dürfen.«
Gottfried empfahl sich der Frau de la Chanterie und ging in sein Zimmer