Als er am andern Morgen inmitten der Raffiniertheiten des modernen Luxus und des englischen Komforts erwachte, erinnerte sich Gottfried an alle Einzelheiten seines Besuchs im Kloster Notre-Dame, und machte sich die Bedeutung der Dinge, die er gesehen hatte, klar. Die vier Unbekannten, deren Kleidung, Haltung und Schweigsamkeit noch jetzt auf ihn wirkten, mussten ebenso wie der Priester Pensionäre sein. Das feierliche Wesen der Frau de la Chanterie erschien ihm als die schweigende Würde, mit der sie ein großes Unglück ertrug. Aber trotzdem er sich das so erklärte, konnte Gottfried sich doch nicht enthalten, hinter diesen verschwiegenen Gesichtern irgendetwas Geheimnisvolles zu vermuten. Ermusterte seine Möbel, um festzustellen, welche er behalten wollte, welche ihm unentbehrlich waren; aber wenn er sie im Geiste in die abscheuliche Wohnung in der Rue Chanoinesse versetzte, musste er bei der Vorstellung, wie merkwürdig sie sich dort ausnehmen würden, lachen, und er beschloss, alles zu verkaufen, schon um Schulden zu bezahlen, und sich von Frau de la Chanterie einrichten zu lassen. Er musste ein neues Leben beginnen, und alle Gegenstände, die ihn an seine frühere Lage erinnern könnten, würden ihm einen unangenehmen Anblick gewähren. In seinem Verlangen nach Umgestaltung, denn er gehörte zu den Leuten, die sich gleich mit dem ersten Sprung weit vorwärts in eine neue Situation stürzen, anstatt wie andere Schritt für Schritt vorzurücken, kam er während des Frühstücks auf neue Gedanken: Er wollte sein Vermögen flüssig machen, seine Schulden bezahlen und den Rest seines Kapitals bei dem Bankhause anlegen, mit dem schon sein Vater in Verbindung gestanden hatte.
Dieses Haus war die Firma Mongenod und Kompanie, gegründet im Jahre 1816 oder 1817, deren ehrenhaftes Renommee inmitten der kaufmännischen Verderbtheit, in die mehr oder weniger gewisse Pariser Firmen verfallen waren, niemals auch nur im geringsten angezweifelt worden war. Daher wurden, trotz ihres ungeheuren Reichtums, die Firmen Nucingen und Du Tillet, die Gebrüder Keller, Palma und Kompanie heimlich oder, wenn man will, von Mund zu Mund beredet, verachtet. Mit den übelsten Mitteln hatten sie so glänzende Resultate erreicht, und ihre politischen Erfolge, ihre dynastischen Grundsätze verhüllten ihre unsaubere Herkunft so gut, dass im Jahre 1834 niemand mehr an den Schmutz dachte, in dem diese majestätischen Stämme, diese Stützen des Staates, wurzelten. Und trotzdem gab es unter diesen Bankiers keinen einzigen, für den der lobenswerte Ruf des Hauses Mongenod nicht eine brennende Wunde war. Gleich den englischen Bankiers entfaltete das Haus Mongenod keinerlei äußeren Luxus; alles vollzog sich dort geräuschlos, man begnügte sich damit, Bankgeschäfte mit kluger Vorsicht und einer Ehrlichkeit zu machen, die den Operationen von einem Ende der Welt bis zum andern Sicherheit gewährten.
Der gegenwärtige Chef, Friedrich Mongenod, war der Schwager des Vicomte von Fontaine. Dessen zahlreiche Familie war auch durch den Baron von Fontaine mit dem Herrn Grossetête, dem Generalsteuereinnehmer, dem Bruder des Inhabers der Firma Grossetête und Kompanie in Limoges, mit Vandenesse und Planat de Baudry, dem anderen Generalsteuereinnehmer, verbunden. Diese Verwandtschaft, die dem verstorbenen alten Mongenod von großem Nutzen bei seinen Finanzoperationen unter der Restauration gewesen war, hatte ihm das Vertrauen der vornehmsten alten Adelsfamilien eingetragen, deren Kapitalien und ungeheuren Ersparnisse in seiner Bank angelegt wurden. Fern davon, nach der Pairschaft zu streben, wie die Kellers, die Nucingens und die Du Tillets, hielten sich die Mongenods von der Politik fern und wussten von ihr nicht mehr, als ein Bankhaus wissen muss.
Die Firma Mongenod war in einem prächtigen Hause in der Rue de la Victoire zwischen Hof und Garten untergebracht, wo auch die alte Frau Mongenod und ihre beiden Söhne, alle drei Geschäftsteilhaber, wohnten. Die Vicomtesse von Fontaine war beim Tode des alten Mongenod im Jahre 1827 ausbezahlt worden. Friedrich Mongenod, ein schöner junger Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, von kühlem, schweigsamem Wesen, zurückhaltend wie ein Genfer, gepflegt wie ein Engländer, hatte sich bei seinem Vater alle für seinen schwierigen Beruf erforderlichen Eigenschaften angeeignet. Besser gebildet als die meisten anderen Bankiers, hatte ihn seine Erziehung mit den umfassenden Kenntnissen, die der polytechnische Unterricht verleiht, ausgerüstet; wie viele Bankiers hatte er eine Liebhaberei außerhalb seines Berufs, eine Vorliebe für Mechanik und Chemie. Der zweite Mongenod, um zehn Jahre jünger als Friedrich, arbeitete bei seinem älteren Bruder wie der erste Gehilfe eines Notars oder eines Anwalts; Friedrich bildete ihn, wie ihn selbst sein Vater ausgebildet hatte, in allen Fächern des richtigen Bankiers aus, der für das Geld dasselbe bedeutet wie der Schriftsteller für die Ideen: Der eine wie der andere muss über alles Einschlägige unterrichtet sein. Als er seinen Familiennamen nannte, merkte Gottfried, welche Achtung sein Vater hier genossen hatte, denn er durfte durch die Büros hindurch sich bis an das Arbeitszimmer Mongenods begeben. Dieses Zimmer hatte nur Glastüren, so dass Gottfried, der nicht die Absicht hatte, zu horchen, das Gespräch, das drinnen geführt wurde, mit anhören musste.
»Gnädige Frau, Ihre Abrechnung beläuft sich in Einnahme und Ausgabe auf eine Million sechshunderttausend Franken, sagte der jüngere Mongenod. »Ich kenne die Absichten meines Bruders nicht, er allein kann beurteilen, ob ein Vorschuss von hunderttausend Franken möglich sein wird ... Sie waren nicht vorsichtig ... Man steckt doch nicht eine Million sechshunderttausend Franken in Handelsgeschäfte ...«
»Nicht so laut, Louis, sagte eine weibliche Stimme, »dein Bruder hat dir doch angeraten, immer nur leise zu sprechen. Es kann doch jemand in dem kleinen Salon nebenan sein.«
In diesem Augenblick öffnete Friedrich Mongenod die Verbindungstür zwischen seiner Wohnung und seinem Arbeitszimmer, bemerkte Gottfried und durchschritt das Arbeitszimmer, während er die Person, mit der sein Bruder sprach, respektvoll grüßte. »Mit wem habe ich die Ehre ...?« sagte er zu Gottfried und ließ ihn vorangehen.
Als Gottfried seinen Namen genannt hatte, ließ ihn Friedrich Platz nehmen, und während der Bankier seinen Schreibtisch öffnete, erhoben sich Louis Mongenod und eine Dame, die niemand anders als Frau de la Chanterie war, und gingen auf Friedrich zu. Alle drei traten in eine Fensternische und sprachen leise mit Frau Mongenod, der alle Geschäftsangelegenheiten unterbreitet wurden. Diese Frau hatte seit dreißig Jahren ihrem Gatten wie ihren Söhnen so viele Beweise ihrer Fähigkeiten gegeben, dass sie tätiger Geschäftsteilhaber mit dem Recht, die Firma zu zeichnen, geworden war. In einem Kasten sah Gottfried Akten mit der Aufschrift: »Konto de la Chanterie« mit den Nummern 1 bis 7. Als die Besprechung mit der Aufforderung des Bankiers an seinen Bruder: » Also geh zur Kasse« beendet war, wandte sich Frau de la Chanterie um, erblickte Gottfried, konnte noch eine Gebärde des Erstaunens zurückhalten und richtete mit leiser Stimme Fragen an Mongenod, auf die er mit wenigen Worten ebenso leise antwortete.
Frau de la Chanterie trug kleine dunkelblaue Schuhe und grauseidene Strümpfe, dasselbe Kleid wie am Abend vorher und darüber eine Art venezianischen Umhang, der wieder in Mode gekommen war, ferner einen Kapotthut »bonne femme« aus grüner Seide, der mit weißer Seide gefüttert war. Sie hielt sich sehr gerade, und ihre Haltung verriet, wenn nicht eine vornehme Abstammung, so doch, dass sie gewohnt war, in aristokratischer Umgebung zu leben. Ohne ihre außergewöhnliche Liebenswürdigkeit würde sie wohl als unnahbar erschienen sein. Jedenfalls machte sie einen imponierenden Eindruck.
»Es ist weniger ein Zufall, als ein Wink der Vorsehung, der uns hier zusammenführt, mein Herr«, sagte sie zu Gottfried; »ich war schon fast entschlossen, einen Pensionär abzulehnen, dessen Lebensgewohnheiten zu denen meines Hauses nicht zu passen schienen; aber Herr Mongenod hat mir eben Auskünfte über Ihre Familie gegeben, die mich ...«
»Oh, gnädige Frau ... Mein Herr,« sagte Gottfried, indem er sich gleichzeitig an Frau de la Chanterie und an den Bankier wandte, » ich habe keine Familie mehr; ich kam nur her, um den früheren Bankier meines Vaters um Rat zu fragen, mit welcher neuen Lebensweise ich mich meinen Vermögensverhältnissen anpassen müsste.«
Und mit wenigen Worten erzählte Gottfried von seinem bisherigen Leben und äußerte den Wunsch, ein anderes anzufangen.
»Früher« , sagte er, »wäre ein Mann in meiner Lage ins Kloster gegangen; aber wir haben ja keine Mönchsorden mehr ...«
» Ziehen Sie nur zu der gnädigen Frau, wenn sie Sie als Pensionär aufnehmen will,« sagte Friedrich Mongenod, nachdem er mit Frau de la Chanterie einen Blick gewechselt hatte;