Prolog: Don’t Look Back
Nostalgie und Retro
Das Wort wie auch das Konzept der Nostalgie wurden im 17. Jahrhundert von dem Physiker Johannes Hofer entwickelt, um den seelischen Zustand schweizerischer Söldner während langer Dienste in der Ferne zu beschreiben. Wörtlich bedeutete Nostalgie Heimweh, ein die Kräfte aufzehrendes Verlangen, ins Heimatland zurückzukehren. Zu den Symptomen gehörten Melancholie, Anorexie und sogar Selbstmord. Diese »Krankheit« – im Nachhinein offensichtlich psychosomatisch – blieb bis ins späte 19. Jahrhundert ein Problem der Militärärzte, denn es war für die Kriegsführung wesentlich, die Moral aufrechtzuerhalten.
Ursprünglich bezog sich Nostalgie also auf ein räumliches Verlangen und nicht auf ein zeitliches; es war schlicht der Schmerz darüber, am falschen Ort zu sein. Nach und nach verlor Nostalgie diese topografische Bedeutung und bezog sich auf einen temporalen Zustand: Es handelte sich nicht mehr um ein qualvolles Verlangen nach dem Vaterland, sondern um ein sehnsüchtiges Schmachten nach einer verlorenen, glücklichen Zeit. Seit sie nicht mehr pathologisiert wurde, begriff man Nostalgie nicht nur als individuellen Gemütszustand, sondern auch als kollektive Sehnsucht nach einer glücklicheren, einfacheren und unschuldigeren Epoche. Ursprünglich war Nostalgie eine nachvollziehbare Emotion, insofern, als es dafür auch Abhilfe gab (indem man das erstbeste Kriegs- oder Handelsschiff nahm, um zum heimischen Herd, zu Kind und Kegel zurückzukehren, in eine Welt also, mit der man vertraut war). Nostalgie im modernen Sinne ist eine unmögliche Emotion oder zumindest eine unheilbare: Das einzige Mittel dagegen wäre eine Zeitreise.
Dieser Bedeutungswandel hat sich zweifelsfrei mit der zunehmenden und selbstverständlichen Mobilität vollzogen, aufgrund der Massenimmigration in die Neue Welt und der Wanderbewegung der Siedler und Pioniere innerhalb Amerikas, der kolonialistischen und militärischen Bestrebungen der Europäer in ihren zahlreichen Imperien und aufgrund der Vielzahl von Menschen, die Teil der weltweiten Migrationsbewegungen geworden sind, um überhaupt einer Arbeit nachgehen zu können oder beruflich ihre Aufstiegschancen zu verbessern. Die nostalgische Fixierung auf die Vergangenheit nahm aber auch zu, weil die Welt sich schneller veränderte. Ökonomische Umwälzungen, technologische Erfindungen, soziale und kulturelle Verschiebungen führten dazu, dass es zum ersten Mal eine starke Diskrepanz gab zwischen der Welt, in der man aufwuchs, und der, in der man alt wurde. Angefangen bei den Landschaften, die sich durch Bebauung dramatisch veränderten (»Das waren alles Felder, als ich noch ein junger Bursche war«), bis hin zu technischen Entwicklungen, die den Takt des Alltags beeinflussten, verschwand die Welt, wie man sie kannte, schrittweise. Die Gegenwart wurde zu einem fremden Land.
Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Nostalgie nicht mehr pathologisch betrachtet, sondern als eine universelle Befindlichkeit. Sie konnte genauso für Individuen gelten – ein morbides Horchen in die Vergangenheit – wie auch für die Gesellschaft als Ganzes. Häufig war an die Nostalgie ein reaktionäres Verlangen nach einer alten sozialen Ordnung gekoppelt, die dank ihrer klar definierten Klassenunterschiede als stabiler angesehen wurde – »hier kannte noch jeder seinen Platz«. Aber Nostalgie hat nicht immer nur den konservativen Kräften gedient. Im Laufe der Geschichte haben radikale Bewegungen ihre Ziele oft nicht als revolutionär, sondern als restaurativ begriffen: Sie wollten die Dinge wieder in den Zustand zurückversetzen, in dem sie einmal waren, ein goldenes Zeitalter des Gleichgewichts und der Gerechtigkeit, das durch ein historisches Trauma oder Machenschaften der herrschenden Klasse zerstört worden war. Im Vorfeld des englischen Bürgerkriegs sahen die Parlamentarier sich selbst als Konservative und König Karl I. als einen Erneuerer, der die Macht der Krone ausweitete. Selbst die Levellers, eine der radikalsten Fraktionen, die während der kurzen Regierungszeit Oliver Cromwells nach der Hinrichtung des Königs aktiv waren, glaubten daran, nur die Magna Carta und das »Naturrecht« aufrechtzuerhalten.
Revolutionäre Bewegungen basieren oft ideengeschichtlich auf den Bildern von »verlorenen und wiedergewonnenen Paradiesen«. Die Situationisten, die Theoretiker der Pariser Unruhen 1968, schrieben von der »verlorenen Totalität«: Ein paradiesischer Zustand sozialer Gleichheit und individueller Nicht-Entfremdung, von dem sie annahmen, dass er vor der Epoche des industrialisierten Kapitalismus existiert hätte. Und dass dieses Paradies von dem gespaltenen Bewusstsein, verursacht durch Klassengrenzen, Spezialisierung am Arbeitsplatz und Stundenlohn, abgelöst worden war. Die Situationisten gingen davon aus, dass Automatisierung die Menschheit vom Arbeitszwang befreien würde, und ihr ermögliche, die »Totalität« wiederzuentdecken. Ebenso glauben einige Feministinnen an ein verlorenes ursprüngliches Matriarchat, das vor langer Zeit frei von Herrschaft und Ausbeutung existiert habe, und in dem die Menschheit in Eintracht mit sich und Mutter Natur gelebt hätte.
Die reaktionäre und die radikale Nostalgie eint die Unzufriedenheit mit der Gegenwart, worunter gemeinhin die Welt seit der industriellen Revolution, der Urbanisierung und dem Kapitalismus verstanden wird. Mit dem Beginn dieser neuen Epoche wurde die Zeit selbst in zunehmendem Maße nach der Taktung der Fabriken, der Büros und auch der Schulen, wo die Kinder für diese Arbeitsplätze ausgebildet werden, organisiert und nicht mehr nach dem natürlichen Lauf von Sonnenauf- und -untergang oder den Jahreszeiten. Ein Aspekt der Nostalgie ist auch die Sehnsucht nach einer Zeit vor der Zeit: die ständige Anwesenheit der Kindheit. Diese Vorstellung kann auch auf ganze vergangene Epochen ausgeweitet werden (wie z. B. die Faszination der viktorianischen Epoche für das Mittelalter), die für die Geschichte das Pendant zur Kindheit sind. Svetlana Boym, die Autorin von The Future of Nostalgia, untersucht, wie es überhaupt möglich ist, »sich nostalgisch nach einem vornostalgischen Zustand« zu sehnen. Und es geht mir auch so, dass, wenn ich wehmütig an die goldenen Zeiten meines Lebens denke, diese die völlige Versenkung in ein Jetzt gemeinsam haben: die Kindheit, Verliebtsein, oder Phasen, in denen ich vollständig in aktuelle Musik versunken war (als Teenager in Post-Punk und in meinen späten Zwanzigern in die frühe Rave-Szene).
Die Pop-Nostalgie wird da interessant, wo es um diese sonderbare Nostalgie für die wundervollen Tage des »Leben im Jetzt« geht, die man tatsächlich nicht erlebt hat. Sowohl Punk als auch der Rock’n’Roll der 50er evozieren Emotionen dieser Art, aber die Swinging Sixties stellen alles in den Schatten, wenn es um das Auslösen einer nachgestellten Nostalgie geht. Ironischerweise führte die Nichtexistenz von Revivals und Nostalgie in den 60ern selbst dazu, dass es seitdem zahllose 60er-Revivals gab. Ein Teil der Attraktion dieser Epoche liegt in ihrer völligen Fixiertheit auf die Gegenwart. Schließlich war dies die Epoche, die den Slogan »be here now« geprägt hat.
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Nostalgie immer stärker mit der Popkultur verbunden. Sie drückte sich in der Popkultur aus (Revivals, Radiosendungen mit Oldies, Reissues etc.), aber sie wurde auch von der Popkultur aus der eigenen Jugend ausgelöst: Artefakte der Massenunterhaltung wie etwa längst vergessene Prominente und verstaubte TV-Sendungen, bizarre Werbung und Tanzstile, alte Hits und veralteter Slang. Fred Davis weist in seiner Studie Yearning for Yesterday: A Sociology of Nostalgia von 1979 nach, dass längst vergangene Massenkultur in zunehmendem Maße politische Ereignisse wie Kriege oder Wahlen als die Schlüsselereignisse des Generationengedächtnisses ablöst. Wer in den 30ern aufgewachsen ist, bei dem werden durch Radio-Komödien und Übertragungen von Live-Musik wehmütige Erinnerungen geweckt, während es für die, die in den 60ern und 70ern aufwuchsen, TV-Pop-Sendungen