Während Eliza Carthy die Folkmusik aktualisiert hat, um ein zeitgenössisches Publikum anzusprechen, möchten die Freak-Folk-Bands die Vergangenheit in die Gegenwart hinein übersetzen. Folk liegt Carthy wortwörtlich im Blut, sie ist damit aufgewachsen; im Gegensatz dazu ist die Beziehung der Freak-Folk-Künstler zu ihren Vorbildern fast immer durch Aufnahmen aus einer viel früheren Epoche vermittelt, und der Abstand vergrößert sich auch noch, da sie ihren Fokus hauptsächlich auf den britischen Folk und nicht dessen amerikanische Pendants aus der gleichen Zeit richten. Sie zeigen null Interesse an zeitgenössischen Vertretern wie Carthy oder an den gegenwärtigen Aktivitäten der Veteranen aus der originalen Britfolk-Epoche der späten 60er / frühen 70er wie etwa Richard Thompson.
»Es handelt sich um Musik für Plattensammler«, sagte Byron Coley, ein Journalist und einer der Verteidiger der Free-Folk-Szene, der auch selbst Plattenhändler ist, gegenüber der Musikkritikerin Amanda Petrusich. Anders als Folkmusik, die als Tradition von Generation zu Generation weitergegeben und durch Unterricht oder das Zuhören bei Auftritten gelernt wird, ist Free Folk eine »fabelhafte Simulation«, die auf dem Anhören von Platten basiert. Coley: »Es geht dabei größtenteils um Typen, die alleine in ihren Zimmern sitzen und die Liner Notes studieren.« Einer der Säulenheiligen des Genres, der Gitarrist John Fahey, war ein obsessiver Plattensammler, der in späten Jahren das archivarische Reissue-Label Revenant – der Name bedeutet soviel wie Wiedergänger – gründete, auf dem er den ganzen primitiven Folk, Blues und Gospel wiederveröffentlichte, den er ausgegraben hatte.
Obwohl die Technik für Tonaufnahmen bereits im 19. Jahrhundert entwickelt wurde, definierte es erst das 20. Jahrhundert und schuf in seinen zahlreichen Formen schließlich die Möglichkeiten für Retro. Audioaufnahmen und andere Formen der Dokumentation (Fotografie, Video) liefern nicht nur das Rohmaterial für Retro, sie erschaffen auch eine bestimmte Sensibilität. Artefakte lassen sich obsessiv vor- und vurückspulen, man kann konzentriert zuhören und sich so minutiös auf stilistische Details versteifen. »Das ist ein kompletter Paradigmenwechsel, es hat sich völlig in unsere Gehirne hineingefressen«, sagt Ariel Pink über den Umbruch von Musik, die als Partitur, und Musik, die als Album verkauft wird. »Das Aufnahme-Medium kristallisiert tatsächlich so etwas wie ein Ereignis heraus, das mehr ist als die Summe der Partitur. Das Gefühl des Augenblicks wird eingefangen. Das hat alles verändert – die Leute sind in der Lage, Erinnerungen wieder wachzurufen.« Über Alben zu grübeln, erlaubt es Sound-Fanatikern wie Pink, die spezifischen Qualitäten vergangener Produktionsstile und Gesangsformen zu isolieren und zu kopieren. So gibt es bei »Can’t Hear My Eyes« auf Before Today beispielsweise einen Wirbel auf der Tom-Tom, bei dem die Klangfarbe des Schlagzeugs, das Feeling einer bestimmen Struktur wie ein Zeitfenster in die Spät-70er-Epoche von Gerry Raffertys »Baker Street« und Fleetwood Macs Tusk wirkt. Pink beschreibt die Beziehung seiner Musik zur Vergangenheit des Pop so: »Ich bewahre etwas, das gestorben ist. Etwas, das ausgestorben ist. Und dabei schreie ich ›Oh Nein!!!‹ Das ist für mich als Musikliebhaber alles. Ich mache gerne Sachen, die ich mag. Und was ich mag ist etwas, das ich nicht höre.«
Der Einfluss von Pop war abhängig von Alben. Seine Qualität der Gegenwärtigkeit und die Art und Weise, wie er tief in das alltägliche Leben wirkte, rührte daher, dass Platten innerhalb der ungefähr gleichen Zeitspanne im Radio gespielt oder in den Läden massenhaft gekauft und dann mit nach Hause genommen und immer und immer und immer wieder angehört wurden. Musiker konnten auf eine viel persönlichere und tiefgreifendere Methode eine viel größere Zahl von Menschen auf der ganzen Welt erreichen, als sie das je mit Konzerten gekonnt hätten. Aber die Platten erschufen auch eine Art Rückkopplungsschleife: Es bestand jetzt die Möglichkeit, dass man bei einer bestimmten Platte oder einem bestimmten Künstler hängen blieb. Schließlich, nachdem Pop genug Vergangenheit angehäuft hatte, wurde es möglich, dass man sich auf eine zurückliegende Popzeit, die man der eigenen vorzog, fixierte. Ariel Pink: »Wenn Leute auf Sixties-Musik stehen, dann bleiben sie für immer dort hängen. Sie leben in dem Moment, in dem die Person, der sie zuhören, ihre Haare zum ersten Mal lang wachsen ließ. Sie sehen sich Fotos an und sie glauben, sie würden tatsächlich dort leben können. Was meine Generation betrifft, wir waren nicht einmal da« – er wurde 1978 geboren – »und doch leben wir ›dort‹. Wir haben keine Vorstellung von Zeit.«
Die phonografische Aufnahme ist so etwas wie ein philosophischer Skandal, da sie einen einzelnen Moment nimmt und ihn auf ewig konserviert; sie fährt in der Einbahnstraße der Zeit entgegen der Fahrtrichtung. In einem anderen Sinn ist das Problem der Popmusik, dass ihr Wesen auf das Ereignis ausgerichtet ist – Momente, die ganze Epochen bestimmen, wie Elvis Presleys Auftritt bei Ed Sullivan, die Ankunft der Beatles am JFK-Flughafen, die Hendrix-Darbietung von »The Star-Spangled Banner« in Woodstock oder wie die Sex Pistols in der Bill Grundy Show Schimpftiraden loslassen. Aber ausgerechnet das Medium, von dem Pop abhängt und durch das er verbreitet wird – Aufnahmen und Fernsehen – ermöglichen es, dass der Moment permanent verfügbar und das Subjekt endloser Wiederholung wird. Der Moment wird zum Monument.
NOSTALGIE ALS TRÄUMEREI VERSUS NOSTALGIE ALS RESTAURATION
Die Theoretikerin Svetlana Boym unterscheidet mit ihrer Dichotomie von der reflexiven Nostalgie versus restaurativen Nostalgie. Letztere reicht von einer griesgrämigen Ablehnung von allem Neumodischen und Progressiven bis hin zu hartnäckigen militanten Versuchen, die Uhr zurückzudrehen, um eine ältere Ordnung wiederherzustellen (die Bandbreite reicht hier von gegenwärtigen amerikanischen Auswüchsen wie der Tea-Party-Bewegung und Glenn Becks »Restoring Honor«-Kundgebung 2010 bis hin zu zahlreichen Ausprägungen wie theokratischem Fundamentalismus, Royalismus, Nativismus oder neo-faschistischen Bestrebungen für eine ethnisch gesäuberte Heimat etc.). Die restaurative Nostalgie präsentiert sich gerne prunkvoll (die Paraden der Oranier in Ulster), folkloristisch und romantisch-nationalistisch. Diese unterfüttern das kollektive Ego mit Geschichten über die ruhmreiche Vergangenheit, aber gleichzeitig nähren sie alte Wunden und Fehden (man denke an den uralten Unmut, der in den Nationen im ehemaligen Jugoslawien gärt).
Die reflektive Nostalgie dagegen ist persönlicher Natur, meidet die politische Arena gänzlich, um sich ganz der Träumerei hinzugeben, oder sie durch Kunst, Literatur und Film zu sublimieren. Sie ist weit davon entfernt, ein verlorenes, goldenes Zeitalter wiederherzustellen, sondern findet Vergnügen in der nebligen Ferne der Vergangenheit und kultiviert die bittersüßen Schmerzen der Vergänglichkeit. Die Gefahr der restaurativen Nostalgie liegt in ihrem Glauben, dass die verwundete »Ganzheit« des politischen Körpers geheilt werden kann. Aber die reflektive Nostalgie weiß tief drinnen, dass der Verlust unwiederbringlich ist: Die Zeit verwundet alle Ganzheit. In der Zeit zu existieren bedeutet, an einem endlosen