Bezogen auf den Mainstream-Pop handelte es sich bei vielen der in den 2000ern kommerziell erfolgreichsten Trends um die Wiederverwertung von Bekanntem: das Wiederaufflammen des Garage-Punk durch The White Stripes, The Hives, The Vines, Jet; der Vintage-Soul von Amy Winehouse, Duffy, Adele und anderen jungen britischen Frauen, die wie schwarze amerikanische Sängerinnen der 60er daherkommen; Frauen, die vom Synthie-Pop der 80er beeinflusst sind, wie La Roux, Little Boots und Lady Gaga. Aber seine wahre Herrschaft als bestimmende Geisteshaltung und kreatives Paradigma hat Retro im Land der Hipster, den Intellektuellen des Pop, errichtet. Es sind genau diejenigen, von denen man erwartet, dass sie als Künstler das Unerwartete und Wegweisende produzieren oder es als jene Konsumenten unterstützen, die am meisten auf die Vergangenheit fixiert scheinen. Demographisch betrachtet ist es genau die Gruppe, die auf dem neuesten Stand ist, aber anstatt sich als Pioniere oder Erneuerer hervorzutun, haben sie die Seiten gewechselt und sind zu Kuratoren und Archivaren geworden. Aus der Avantgarde ist eine Arrière-garde geworden.
Auf einmal war die ganze Musikhistorie verfügbar, und dies übte natürlich eine große Anziehungskraft aus. Das Gefühl, etwas zu erleben, konnte leicht erlangt werden (tatsächlich sogar leichter), indem man sich in die immense Vergangenheit zurückbegab, statt nach vorne zu gehen. Es handelte sich dabei immer noch um einen Forschungsdrang, der aber die Gestalt der Archäologie annahm.
Dieses Phänomen setzte bereits in den 80ern ein, doch im letzten Jahrzehnt ist es richtig eskaliert. Die jungen Musiker, die in den letzten zehn Jahren zur künstlerischen Reife gelangten, wurden in einer Umgebung groß, in der die musikalische Vergangenheit in einem beispiellosen und überwältigenden Maße verfügbar war. Das Resultat ist ein anderer Ansatz des Musik-Machens, der zu einem sorgfältig arrangierten Mosaik aus Verweisen, Andeutungen und Klanggeflechten führt, dem Produkt eines ausgesuchten und oftmals überraschenden Geschmacks, der die Zeiten und die Weltmeere überbrückt. Ich habe diese Herangehensweise »Plattensammler-Rock« genannt, aber heute muss man dazu überhaupt keine Platten mehr sammeln, nur MP3s anhäufen oder wahllos durch YouTube cruisen. Die gesamte Musik und alle Bilder, die man sich früher für Geld und unter körperlicher Anstrengung besorgen musste, sind jetzt kostenlos verfügbar und immer nur ein paar Mausklicks entfernt.
Es ist nicht so, als wäre in der Musiklandschaft der 2000er gar nichts passiert. Es herrschte ein wahnsinniges Gewimmel von Mikro-Trends, Subgenres und neu zusammengesetzten Stilen. Aber die bedeutsamsten Umwälzungen betrafen die Methode unseres Konsums und die seiner Verbreitung – das führte dazu, dass die Retromanie überhand nahm. Wir wurden zu Opfern unserer Fähigkeit, große Mengen kultureller Daten zu speichern, zu ordnen, jederzeit darauf zugreifen zu können und sie zu teilen. Es gab bisher nicht nur keine Gesellschaft, die derart von den kulturellen Artefakten ihrer unmittelbaren Vergangenheit besessen war, es gab auch keine Gesellschaft, der es möglich war, so einfach und unbegrenzt auf ihre unmittelbare Vergangenheit zuzugreifen.
Allerdings geht es in Retromania nicht einfach nur darum, Retro als Ausdruck einer kulturellen Regression oder als Dekadenz anzuklagen. Wie auch? Ich bin ja selbst mitschuldig. Ebenso wie ich als Journalist über »das schöne neue Grenzgebiet« der Musik, nämlich Rave und Elektro, geschrieben habe, und ebenso wie ich auf Buchlänge Bewegungen wie Post-Punk, bei denen es immer um das Zukünftige ging, gefeiert habe, so bin ich auch mit Begeisterung an der Verbreitung der Retro-Kultur beteiligt: als Historiker, als Rezensent von Wiederveröffentlichungen, als »Talking Head« in Dokus und als Verfasser von Booklets. Aber ich bin nicht nur beruflich involviert. Als Fan von Musik bin ich genauso der Retrospektion verfallen wie alle anderen auch: Ich durchforste Second-Hand-Plattenläden, grüble über Rockbüchern, bleibe bei VH1 Classic und YouTube hängen und schaue mir Rockdokus an. Ich sehne mich nach der Zukunft, die unentschuldigt fehlt, aber ich erliege auch der Verlockung der Vergangenheit.
Als ich für dieses Buch recherchierte, war ich beim Durchsehen meiner alten Artikel überrascht, wie sehr Themen, die mit Retro zu tun haben, bereits über lange Zeit im Fokus standen. Inmitten des begeisterten Geplappers vom »Next Big Thing« in der Musik, tauchte dessen Gegenpol auf – die seltsame Bürde des Rock, seine stetig schwerer werdende Vergangenheit zu schultern. Retro verfolgte mich, diese geisterhafte Umkehrung der »Zukunft«, über die ich mich sonst ausgelassen habe und wofür ich viel bekannter bin. Im Rückblick fällt mir auf, dass ich oft unbewusst meinen ganzen Glauben und Optimismus aufbrachte, um dieses Gefühl der Verspätung beiseite zu fegen, das meiner ganzen Generation eigen ist: die Ungnade der späten Geburt all derer, die die 60er oder Punk noch nicht als bewusste Akteure miterleben konnten. Genauso wie sie begeisterten, lösten die Bewegungen der 90er, Grunge und Rave, auch eine Art Erleichterung aus: Endlich passierte mal was, das dem sagenumwobenen Glanz der Vergangenheit auch in unserer Zeit, im Heute, ebenbürtig war.
Ich konnte eine Menge Zeit und Begeisterung für Bands aufbringen, die man einfach als einen Retro-Abklatsch abtun könnte. Ich griff auf ausgefallene Argumente und abgedroschene Metaphern zurück, um zu erklären, warum eine bestimmte Band, die ich bewundere, nicht bloß ein weiterer nekrophiler Grabräuber ist. Das aktuellste Beispiel dafür ist Ariel Pink, wahrscheinlich mein Lieblingsmusiker der 2000er, dessen Before Today überall als eines der besten Alben 2010 gefeiert wurde. Ohne einen Anflug von Verlegenheit beschreibt Ariel seinen Sound als ein verzogenes Echo des friedvollen Radiopops der 60er, 70er und 80er, als »retroartig«. Und das ist er auch! Nostalgie ist trotz allem eine der großen Emotionen im Pop. Und manchmal ist diese Nostalgie eben das bittersüße Verlangen nach seiner eigenen Version der verlorengegangenen Zeit, die auch immer eine goldene war. Um es anders auszudrücken: Einige der großartigsten Künstler unserer Zeit machen Musik, deren vordergründige Emotion auf andere Musik gerichtet ist, auf frühere Musik. Aber ist andererseits nicht etwas grundsätzlich falsch daran, dass so viel großartige Musik des letzten Jahrzehnts auch genauso gut 20, 30 oder sogar 40 Jahre früher hätte entstanden sein können?
Bisher habe ich die Einleitung eines Buches immer als letztes geschrieben. Dieses Mal beginne ich mit dem Anfang. Ich weiß noch nicht genau, was ich alles herausfinden werde, wenn ich mich erstmal auf den Weg gemacht habe. Dieses Buch ist in vielerlei Hinsicht eine Recherche. Nicht nur suche ich nach dem Wie und Warum von Retro als Kultur und Industrie, sondern auch nach den größeren Fragen, die das Leben in, von und mit der Vergangenheit betreffen. Warum empfinde ich Retro trotz der vielen Aspekte, die ich daran mag, nach wie vor als dürftig und beschämend? Wie neu ist das Phänomen der Retromanie und wie weit können seine Wurzeln in der Popgeschichte zurückverfolgt werden? Bleibt uns Retro erhalten oder wird es eines Tages zurückgelassen werden und sich nur als eine historische Phase entpuppen? Und wenn das so ist, was verbirgt sich dann dahinter?
DIE RETROLANDSCHAFT
April 2000: Das Memphis Rock’n’Soul Museum der Smithsonian Institution wird eröffnet ››››››› Mai 2000: Julien Temples Sex-Pistols-Doku The Filth and the Fury wird veröffentlicht und gibt den Anstoß für eine das Jahrzehnt überspannende Trilogie von Punk-Dokumentationen vom Regisseur des The Great Rock’n’Roll Swindle ›››››››