Vielleicht provoziert deshalb Reynolds’ Wechsel »vom Hardcore-Kontinuum schnurstracks ins Retro-Kontinuum« (Aram Lintzel in De:Bug) so sehr. Hat nicht die Club- und Bassmusik ein gänzlich anderes Verständnis von Zeit und Raum (im Reggae heißen die Pausen/Breaks »Space«)? Gerade in der Popkultur stoßen wir dabei doch immer auf zwei unterschiedliche Positionen: Entsteht die Zeit aus dem Tun (dem Loop, der Wiederholung, den geringen Verschiebungen), oder entsteht das Tun aus der Zeit (der linearen Abfolge von Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft, den großen Brüchen und Erzählungen)?
Pop schaute immer schon mit einem Auge in den Rückspiegel und hörte mit einem Ohr in die Vergangenheit. Einerseits um richtig rückwärts einparken, andererseits um überholen zu können. Auch Markus Heidingsfelder spricht in seiner Analyse System Pop (2012) von einer grundsätzlichen »Rückwärtsbewegung«, die Pop charakterisiert: »Das System (Pop) bewegt sich mit dem Rücken zur Zukunft.«
Problematisch wird das jedoch, wenn die Bewegungen des Einparkens und Überholens immer weniger zu unterscheiden sind. Nur ist das nicht immer so leicht zu differenzieren, kann doch die Frage »Bin ich noch Retro oder schon Future bzw. bin ich noch Future oder schon wieder Retro?« meist nur retrospektiv beantwortet werden.
Dennoch ist eine Unterscheidung möglich: Ein Sprung zurück in die Zeit ist etwas anderes als ein Gang zurück durch die Zeit. Ein Zeitsprung will zurück zu den »reinen Zeichen«, die jedoch nur um den Preis einer reaktionären Aneignung zu haben sind. Deshalb setzt etwa der Neo Soul alles daran, so zu klingen, als hätte es Hip Hop, House oder Techno nie gegeben, wohingegen sich Reynolds noch sehr genau an eine Zeit erinnert, in der allein die Vermutung, hier würde etwas »like Punk never happened« klingen, ausreichte, um die rote Karte zu zücken.
Andererseits braucht es immer ein »Second Coming«, damit etwas wirkungskräftig wird. Sonst bleibt es beim »done and gone« für elitäre Zirkel. Die ersten Platten der Rolling Stones mögen für Bluesfans schlimmste Retromanie gewesen sein, für andere jedoch ein folgenschwerer Erstkontakt mit Muddy Waters, Willie Dixon, Robert Johnson. Ebenso wären ohne Hip Hop viele rocksozialisierte Teens und Twens nicht auf den Geschmack von Soul und Funk gekommen, zwei Genres, um die es Ende der 70er/Anfang der 80er nicht gerade zum Besten stand, über die wenig in den Rocklexika zu finden war.
Vielleicht sollten wir uns Retro-Schleifen eher als Möbius-Schleifen denken. Analog zu Butler spricht Diederichsen in Eigenblutdoping daher auch vom »nicht Vorhersehbaren« im Loop, vom Kopfanstoßen, Auf-den-Arschfallen, Entgleisen, Ausrutschen: »Es ist dasselbe, mindestens zweimal von mir erlebt.« Und hier finden wir auch den Schlüssel zu dem Rätsel, warum manche Platten besser altern, als andere: »Wer im Immergleichen des Loops etwas Neues erlebt, hat es mit einem viel härteren Neuen zu tun, als wer dies in einer Struktur erlebt, in der das Auftreten des Neuen vorgesehen ist.«
Wie Klaus Theweleit einmal so schön sagte, sind Schallplatten (oder CDs, MP3s) auch »Gedächtnisspeicher«. Während wir Musik abspielen, schreibt sich gleichsam auch immer etwas in sie hinein (die Bierflecken und Kratzer von der Party, die Erinnerungen an hitzige Diskussionen, die dazu gelesenen Bücher, die peinlichsten Momente der Jugend, die Geisterstimmen, die uns später immer wieder heimsuchen werden, ein »neues«, anderes Denken über Musik). Wir können also gar nicht mehr zurück, es sei denn, wir machen aus dem Gestern eine Schneekugel. Oder, um es mit Elvis zu sagen: »I forgot to remember to forget you.«
Das Jahrzehnt des »Re«
Einleitung
Wir leben in einem Zeitalter des Pop, das völlig verrückt ist nach permanenter Erinnerung. Bands reformieren sich, spielen Reunion-Touren. Es erscheinen Tributalben und Box-Sets, es finden Jubiläums-Festivals und Livekonzerte statt, auf denen komplette Alben, bevorzugt die Klassiker, durchgespielt werden: Mit jedem neuen Jahr, das ins Land geht, scheint die Musik von gestern wichtiger zu werden.
Kann es sein, dass die größte Gefahr für die Zukunft der Musik … ihre eigene Vergangenheit ist?
Vielleicht klingt das übertrieben apokalyptisch. Aber das Szenario, das ich mir ausmale, ist weniger eine plötzliche Katastrophe denn vielmehr ein schleichendes Verschwinden. So wird Pop enden: nicht mit einem Knall, sondern in einem Box-Set, dessen vierte CD du niemals abspielen wirst, und mit einer überteuerten Eintrittskarte für ein Pixies- oder Pavement-Konzert, auf dem ein Album eins zu eins neu inszeniert wird, das du bereits in deinem ersten Semester bis zum Gehtnichtmehr gehört hast.
Es gab einmal eine Zeit, in der der Stoffwechsel des Pop auf Hochtouren lief und während der psychedelischen 60er, der Post-Punk-70er, der Hip-Hop-80er und der Rave-90er das Gefühl erzeugte, direkt in die Zukunft gespült zu werden. Die 2000er fühlten sich anders an. Der Pitchfork-Kritiker Tim Finney verwies auf »die seltsame Langsamkeit, mit der das Jahrzehnt voranschreitet«. Er meinte damit insbesondere die elektronische Dance Music, die in den 90ern die Avantgarde der Popkultur war und die in jeder Saison das Next Big Thing hervorbrachte. Aber Finneys Beobachtung trifft nicht nur auf die Dance Music zu, sondern lässt sich auf die gesamte Popmusik übertragen. Das Gefühl, vorwärts zu kommen, wurde immer schwächer, je weiter das Jahrzehnt voranschritt. Die Zeit selbst wurde scheinbar träger, wie ein Fluss, der sich ruhig dahinschlängelt und tote Flussarme ausbildet.
Wenn der Pulsschlag des JETZT sich mit jedem Jahr schwächer anfühlte, lag das daran, dass die Gegenwart von Pop in den 2000ern immer mehr von der Vergangenheit verdrängt wurde, sei es durch die Erinnerungen aus dem Archiv des Gestern oder als Retro-Rock, der sich an alte Stile klammerte. Anstatt sich mit sich selbst zu beschäftigen, drehten sich die 2000er um alle vorangegangenen Jahrzehnte auf einmal: Die Gleichzeitigkeit der Pop-Zeit, die die Vergangenheit abschaffte, während sie die Bedeutung der Gegenwart als eine Epoche mit eindeutiger Identität und Atmosphäre demontierte.
Anstatt die Schwelle in die Zukunft zu verkörpern, waren die ersten zehn Jahre des 21. Jahrhunderts das »Re-«Jahrzehnt. Die 2000er waren von dem Präfix »Re-« bestimmt: Revivals, Reissues, Remakes. Endlose Retrospektive: Jedes Jahr brachte eine neue Flut von Jubiläen mit dem dazugehörigen Überschuss an Biografien, Erinnerungen, Rockumentationen, Biopics und Jubiläumsausgaben von Magazinen mit sich. Und dann gab es die Bands, die sich reformierten; entweder waren es Gruppen, die sich für Nostalgie-Touren wiedervereinigten, um die leeren Konten der Band-Mitglieder wieder aufzufüllen (oder deren volle Konten noch weiter aufzublähen – Police, Led Zeppelin, Pixies … die Liste ist endlos), oder es waren Bands, die ins Studio zurückkehrten, um die Karrieren ihrer Musiker wieder anzukurbeln (Stooges, Throbbing Gristle, Devo, Fleetwood Mac, My Bloody Valentine …).
Wären doch bloß lediglich alte Musik und alte Musiker wieder zurückgekehrt, sei es in »archivierter Form« oder als wiederbelebte Performer. Aber die 2000er waren auch das Jahrzehnt des ungezügelten Recyclings: Vergangene Genres wurden wiederbelebt oder erneuert, verstaubte Aufnahmen wurden neu bearbeitet und neu kombiniert. Viel zu häufig konnte man unter der straffen Haut und den rosa Wangen junger Bands das schlaffe graue Fleisch alter Ideen durchschimmern sehen.
Je weiter die 2000er voranschritten, desto mehr schrumpfte der Abstand zwischen einem Ereignis und seiner Wiederverwertung auf frappierende Weise. Die I Love the … -Fernsehserie, die erst von der BBC ausgestrahlt und dann für Amerika von VH1 übernommen wurde, brauste durch die 70er, 80er und 90er und nahm dann – mit I Love the Millennium, die im Sommer 2008 gesendet wurde – die 2000er gleich mit, noch bevor das Jahrzehnt überhaupt vorbei war.
Inzwischen greifen die Tentakel der Wiederveröffentlichungsindustrie bereits nach den 90ern, mit Box-Sets und neu gemasterten oder erweiterten Versionen von deutschem Minimal Techno, Britpop und selbst den schwächsten Soloalben von Morrissey. Wir stehen bereits knöcheltief in einer zunehmenden Flut historisierter Vergangenheit. Wenn es um Revivals ging, hielt sich die Musikszene zunächst an die 20-Jahre-Regel: In Form