Wenn man YouTube aus einer rein musikalischen Perspektive betrachtet, fallen einem zwei Aspekte dieses neuen (Post-)Broadcasting-Mediums besonders auf: Zum einen ist YouTube ein Sammelbecken für die zahlreichen extrem seltenen Fernsehauftritte oder Bootleg-Liveaufnahmen geworden, die früher von Hardcore-Fans gesammelt und gehandelt wurden. Mit Inseraten auf den letzten Seiten von Goldmine oder Record Collector, über Fanzines oder Brieffreundschaften tauschten oder verkauften Fans Videokassetten, die so oft kopiert und überspielt worden waren, dass die Bilder von Elvis oder Bowie durch das Schneegestöber oder die Verzerrung nur noch vage zu erkennen waren. Heutzutage finden sich diese Sachen auf YouTube und sind für jeden zugänglich, der sie anklickt. Wenn ich darüber nachdenke, wie nützlich YouTube für meine Post-Punk-Geschichte Rip It Up gewesen wäre, die ich ungefähr 18 Monate, bevor YouTube im Winter 2005 startete, geschrieben hatte, habe ich gemischte Gefühle: Die Frustration wird im Rückblick durch das seltsame Gefühl der Erleichterung aufgewogen. Obwohl es eine großartige Quelle darstellt, hätte ich mich genau so gut in den endlosen Clips mit Live-Mitschnitten, alten Promo-Videos und Fernsehauftritten verlieren können.
Die andere interessante Entwicklung im Musik-Kontext ist, wie Fans große Teile dieses Video-Archivs in eine reine Audio-Ressource verwandelt haben, indem sie einfach Songs zusammen mit abstrakten, an Bildschirmschoner erinnernden Standbildern präsentieren, in vielen Fällen nur ein Bild des Plattencovers oder -labels oder eine körnige Aufnahme, die zeigt, wie sich das Vinyl auf einem Plattenspieler dreht. Ganze Alben sind auf YouTube hochgeladen, bei denen jeder Track mit dem gleichen halbherzigen Bild versehen ist. Die Kombination aus Promovideos und Sound-Uploads hat dazu geführt, dass YouTube zu einer öffentlichen Bibliothek für Aufnahmen geworden ist, wenn auch zu einer desorganisierten, unordentlichen, mit vielen Lücken, Wiederholungen und »beschädigten Kopien«. Mithilfe von Tools wie Dirpy, mit denen man YouTube-Videos in MP3s konvertieren kann, kann man Sachen auch »ausleihen«, ohne sie zurückzugeben.
YouTube lässt sich viel leichter zu Rate ziehen als meine riesige und unübersichtliche Plattensammlung. Ich habe tatsächlich schon ein Album aus dem Netz gesaugt, das ich eigentlich besitze, nur um mich nicht durch die Boxen wühlen zu müssen. Auch wenn CD oder Vinyl besser klingen, reichen MP3s völlig aus, wenn es schnell gehen soll. In meinem Fall recherchiere ich meistens Referenzen und Zitate, ich nutze die Musik also mehr als Informationsquelle, als dass ich mich dem Klangerlebnis hingebe. YouTube selbst ist ein Beispiel für die Art von digitaler Kultur, die Qualität gegen Bequemlichkeit eintauscht. Das Medium hat eine »miese Bild- und Tonqualität«, bemerkt Hilderbrand, wenn er beschreibt, wie die akzeptable Qualität des Bildes, wenn es noch klein dargestellt wird, in all seiner gering aufgelösten Bescheidenheit entlarvt wird, wenn man auf Vollbild klickt. Doch genau wie die Hörer den »verlustreichen«, dünnen Klang der MP3s akzeptiert haben, beschwert sich niemand über die geringe Wiedergabequalität, die ein Computer-Bildschirm bietet – obwohl die Entwicklung mit HD-TV, 5.0 Surround-Soundanlagen für das Heimkino, 3-D-Filmen etc. eigentlich in die entgegengesetzte Richtung weist.
Zwar ist die Qualität mies, aber mit dem Online-Archiv gibt es schier unbegrenztes Angebot. Wir haben auch den komsumentenfreundlichen Service, mit der Zeitanzeige vor- und zurückzuspulen, um schneller an »die guten Stellen« zu kommen. YouTube, das auf dem Zeigen von Ausschnitten basiert, ist bereits dabei, größere Erzählstränge (die Sendung, den Film, das Album) zu fragmentieren, aber diese Funktion ermuntert uns Zuschauer, diese kulturellen Fragmente auf noch kleinere Einheiten herunterzubrechen, womit wir unbewusst unsere Konzentrations- und Entfaltungsfähigkeit einbüßen. Wie beim Internet als Ganzem wird damit unser Zeitempfinden immer spröder und unbeständiger: Während wir nervös am Datenstrom knabbern, flitzen wir unruhig von einem Zuckerrausch zum nächsten.
YouTube verstärkt dieses Bedürfnis durch die Seitenleiste, auf der Clips mit Bezug zum gerade laufenden angeboten werden, oft nach einer kruden Logik. Es ist schwer, nicht unaufmerksam irgendwo zwischen dem Surfen und Zappen durch die Kanäle hängenzubleiben. (Obwohl man natürlich immer durch den gleichen Kanal flitzt, nämlich YouTube – mittlerweile selbst eine Provinz im Reich von Google geworden, das es im Oktober 2006 aufgekauft hat.) Dieses Abschweifen gleicht einer künstler- und genreübergreifenden Zeitreise, da die Video-Artefakte aus verschiedenen Epochen wild durchmischt nebeneinander stehen und nur durch ein Gitter von Assoziationen miteinander verlinkt sind.
Der Grund für dieses Abschweifen liegt in der Unordnung von YouTube, das eher einem vollgestopften Dachboden als einem Archiv gleicht, nachlässig geordnet und gekennzeichnet wie es ist. Aber anderswo im Netz stellen offizielle Organisationen wie auch Amateure gut sortierte Kultur-Datenbanken zusammen, deren Inhalte für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Die Britische Nationalbibliothek hat beispielsweise jüngst ihre riesige ethnografische Sammlung von Musik im Netz kostenlos zugänglich gemacht: Ungefähr 28.000 Aufnahmen und 2.000 Stunden traditioneller Musik, Wachszylinder-Dokumenten von Liedern der Aborigines, die der Anthropologe Alfred Cort Haddon 1898 aufgenommen hat, bis hin zu den Aufnahmen des westafrikanischen Decca-Ablegers mit Calypso und Quickstep aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die Filmbehörde von Kanada unterhält ein ähnliches Archiv seiner berühmten Dokumentationen, Natursendungen und Animationsfilme von Lichtgestalten wie Norman McLaren, die via Stream frei zugänglich sind. Dann gibt es noch UbuWeb, eine Goldgrube für Avantgarde-Kino, Klangkunst, Musik und Texte, das von Fans mit wissenschaftlicher Akribie gestaltet wird. UbuWeb hat das Ziel, Werke, die sonst in Lagerräumen, Kunstmuseen oder in den Untiefen von Universitätsbeständen dahinvegetieren würden und vielleicht zu seltenen Anlässen auf Festivals oder Ausstellungen öffentlich einsehbar wären, permanent verfügbar zu halten.
Neben Organisationen wie UbuWeb gibt es noch eine umtriebige Vielzahl von Blogs wie The Sound of Eye, BibliOdyssey, 45cat und Found Objects, die von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen Gleichgesinnter betrieben werden; Amateur-Kuratoren, die frenetisch alle Formen abseitiger Bilder und Sounds ins Internet stellen: kuriose und verlorene Klassiker von Buchillustrationen, Grafik-Design und Typografien des 20. Jahrhunderts, Avantgarde- und Animationsfilme, eingescannte Artikel und in zunehmendem Maße ganze Ausgaben von obskuren Magazinen und Fanzines, alte Bildungssendungen und die Intros von lange verloren geglaubten Kindersendungen etc. Wenn ich ein zweites Leben führen könnte (bei dem ich mir keine Gedanken über mein Einkommen machen müsste), würde ich mich den ganzen Tag an all diesen Kulturgütern weiden und wäre glücklich dabei.
Im Internet korrelieren Vergangenheit und Gegenwart auf eine Weise, die die Zeit breiig und schwammig werden lässt. YouTube ist die vollkommene Erfüllung des Web 2.0, da es jedem Video, das hochgeladen wird, Unsterblichkeit verspricht: Theoretisch kann der betreffende Inhalt dort für immer bleiben. Man kann mit einem Klick vom Veralteten zum Aktuellsten wechseln. Das Ergebnis ist, kulturell betrachtet, eine paradoxe Mischung aus Geschwindigkeit und Stillstand. Man kann das auf allen Ebenen der Web-2.0-Realität beobachten: Eine unglaublich hohe Fluktuation von Nachrichten, die alle zehn Minuten geupdatet werden, steht der sturen Beharrlichkeit nostalgischen Mists gegenüber. In die Lücke zwischen diesen beiden Polen fällt sowohl die jüngste Vergangenheit als auch das, was man als »verlängerte Gegenwart« bezeichnen könnte: Moden, die Bestand haben, Bands, deren Karrieren länger als ein Album anhalten, Subkulturen und Bewegungen, die gegen Trends und Geschmäcker bestehen. Die jüngste Vergangenheit gleitet in eine amnesische Leere ab, während die verlängerte Gegenwart in ihrer ganzen Bandbreite