»Popmusik ist heute viel flüchtiger«, sagt der für den Einzelhandel zuständige Billboard-Redakteur Ed Christman. Ich habe Christman kontaktiert, weil ich herausfinden wollte, ob die Konsumenten heutzutage mehr alte Musik kaufen. Er erklärte mir, dass die Industrie bei Veröffentlichungen zwischen »aktuell« (die Zeitspanne vom Erscheinungstermin bis 15 Monate nach VÖ) und »Katalog« (ab dem 16. Monat nach VÖ) unterscheidet. Aber auch der Katalog wird in zwei Kategorien unterteilt: in jene, die noch relativ aktuell ist, und Dinge, die aus den »Tiefen« des Katalogs stammen, wozu Musik drei Jahre nach der Veröffentlichung zählt. Christmans Wahrnehmung war, dass der relativ aktuelle Katalog (Veröffentlichungen, die zwischen 15 Monaten und drei Jahren alt sind) »nicht so gut geht wie früher«. Außerdem sind die Karrieren von Bands kürzer geworden, auf erfolgreiche Debüts folgen Flops, der größte Teil von Bands, die Bestand haben, sind Überbleibsel aus den 60ern, 70ern und 80ern.
Als wir auf mein Hauptinteresse zu sprechen kamen – das relative Verhältnis zwischen dem Verkauf alter Musik und dem Verkauf neuer Musik –, grub Christman ein paar Statistiken aus. Im Jahr 2000, erklärte er, waren 34,4 Prozent aller Albenverkäufe in den USA die Katalogverkäufe (wozu der jüngere und der ältere Katalog gerechnet wurde), während die aktuellen Produktionen bei 65,6 Prozent standen; bis zum Jahr 2008 war der Katalogverkauf auf 41,7 Prozent angestiegen, während die aktuelle Rate bei 58,3 lag. Das scheint keine so dramatische Veränderung zu sein, aber laut Christman ist diese beständige Verschiebung Jahr für Jahr hin zur Backlist während der 2000er sehr bezeichnend. Sie widerspricht einem völlig stabilen Verhältnis von Aktuellem und Katalog, wie es die gesamten 90er über Realität war. Frühere Zahlen liegen nicht vor.
Was diesen Anstieg noch beachtlicher macht, ist der Umstand, dass es für die Konsumenten aufgrund des himmelschreienden Niedergangs des Musikeinzelhandels tatsächlich schwerer geworden war, an nicht-aktuelle Veröffentlichungen zu kommen. »Alle alteingesessenen Plattenläden verfügten über diese Backlist-Sachen, aber viele von ihnen mussten ihr Geschäft aufgeben«, sagte Christman. Diejenigen, die überlebten, waren gezwungen, Non-Music Produkte wie etwa Spiele in ihr Sortiment aufzunehmen, was dazu führte, dass sie das Angebot an Musiktiteln auf Lager drastisch reduzierten. Borders hatte im Jahr 2000 noch 50.000 Titel im Programm, bis 2008 war diese Zahl auf unter 10.000 gesunken, so Christman.
Aber wenn die Masse der Klassiker aus den Plattenläden verschwunden ist, deren Zahl selbst immer weiter abnahm, wirft das eine Frage auf: Wie konnten die Verkäufe alter Musik im letzten Jahrzehnt zunehmen? Teilweise lässt sich das durch den Erfolg von Online-Händlern wie Amazon erklären, die aufgrund günstiger Einkäufe und Lagerhallen große Mengen vorrätig halten können. Es gab auch bestimmte Katalogtitel, die als »heißer Scheiß«, wie Christman es ausdrückt, wieder veröffentlicht wurden: Jubiläumseditionen und Deluxe-Doppel-CDs, die wie Neuerscheinungen aufgemacht und beworben und in den Plattenläden entsprechend ausgestellt wurden. Schließlich gab es noch den Anstieg der digitalen Verkäufe: Die iPod-Explosion erweckte bei vielen Musikfans die erloschene Begeisterung für Musik wieder, da sie zum ersten Mal in der Lage waren, einzelne Tracks anstelle ganzer Alben zu kaufen – einiges davon war alte Musik, ein Katalog-Boom, der mit den CD-Wiederveröffentlichungen klassischer Alben seit Mitte der 80er vergleichbar ist. Christman erklärte, 2009 sei »das erste Jahr gewesen, in dem Soundscan bei ihren digitalen Verkäufen zwischen Katalog und aktuellen unterschied«, was zeigte, dass der Katalog »die Mehrheit der digitalen Track-Verkäufe ausmachte, 64,3 Prozent gegenüber den 35,7 Prozent des Aktuellen«. Ich vermute, dass es einen vergleichbaren Trend zu alter Musik bei illegalen Downloads gibt. Das leuchtet ein: Die Vergangenheit kann gar nicht anders, als die Gegenwart zu übertrumpfen, nicht nur bezüglich der Quantität, sondern auch qualitativ. Nehmen wir einmal an, nur hypothetisch, jedes Jahr würde durchschnittlich gleichviel großartige Musik produziert werden (ohne die Schwankungen in speziellen Genres). Das würde bedeuten, dass die brillante Ernte eines Jahres mit einer immer umfangreicher werdenden Halde, angefüllt mit Großartigkeit, konkurrieren müsste. Wie viele Platten von 2011 sind für einen neuen Hörer so erwerbenswert wie Rubber Soul, Astral Weeks, Closer oder Hatful of Hollow?
Die Idee des Backkataloges ist zentral für Chris Andersons viel diskutierte und an machen Stellen widersprüchliche Long-Tail-Theorie. Die Argumentation kennen wir aus technologischen Utopien, die im Wired so oft zu lesen waren, wo Andersons Artikel ursprünglich erschienen sind, bevor daraus der Bestseller The Long Tail. Nischenprodukte statt Massenmarkt – Das Geschäft der Zukunft wurde. Er argumentiert, die durch das Internet entstandene Handelsstruktur habe das Verhältnis zugunsten des kleinen Mannes gewendet (der einzelne mutige Unternehmer, die kleinen Independent-Verlage und -Labels, die Nischen-Künstler), im Gegensatz zu den großen Unterhaltungsindustrie-Konglomeraten, die mit ihren riesigen Startverkäufen und teuren Werbekampagnen nur auf Blockbuster und Megastars fixiert sind.
Der faszinierende Subtext der Long-Tail-Theorie zeigt, dass die Landschaft der neuen Medien auch das Gleichgewicht zugunsten der Vergangenheit und zu Ungunsten der kulturellen Gegenwart verschiebt. Gleich am Anfang seines Artikels für Wired im Oktober 2004 berichtet Anderson von Bestseller-Memoiren übers Bergsteigen (In eisigen Höhen. Das Drama am Mount Everest), deren Erfolg die Käufer unmittelbar auf ein viel älteres Buch zu dem gleichen Thema von einem anderen Autor (Sturz ins Leere. Ein Überlebenskampf in den Anden) aufmerksam gemacht hat – mit Hilfe des »Kunden, die diesen Artikel gekauft haben, kauften auch …«-Algorithmus von Amazon und den Empfehlungen anderer Leser. Das Anden-Buch war bis dahin nur mäßig erfolgreich und stand kurz davor, nicht mehr lieferbar zu sein, aber dank In eisigen Höhen wurde es wieder aufgelegt und zum Bestseller. Anderson beschreibt, wie Amazon »das Sturz-ins-Leere-Phänomen durch die Kombination von unendlichem Lagerraum und Echtzeit-Informationen über Verkaufs-Trends und die öffentliche Meinung erzeugt hat«, und charakterisiert die »daraus resultierende Nachfrage für ein obskures Buch« als Sieg der Marginalisierten über den Mainstream, einen der Qualität über den marktführenden Einheitsbrei. Aber wenn Anderson frohlockt, dass »die Verkaufzahlen von Sturz ins Leere mehr als doppelt so hoch sind wie bei In eisigen Höhen«, beschreibt er tatsächlich einen Fall, bei dem die Vergangenheit die (damalige) Gegenwart schlägt – 1988 lässt 1999 alt aussehen.
Die zentrale These der Long-Tail-Theorie lautet, dass »die Tyrannei des physischen Raumes« durch das Internet überwunden wird. Einzelhändler waren vor der Netz-Ära auf die Anzahl an Käufern beschränkt, die den Laden physisch erreichen konnten. Außerdem war die Lagerkapazität beschränkt – je näher an dicht besiedelten Gegenden, desto teurer der Lagerraum. Aber das Internet ermöglicht es Firmen, in abgelegenen Gegenden für wenig Geld Lagerhäuser mit einem großen Fassungsvermögen in noch nie dagewesenem Ausmaß für ihren Bestand zu mieten. Sie können auch ein geografisch weit verteiltes Nischen-Publikum erreichen, und damit das Problem »eines Publikums, das so verstreut ist«, dass es praktisch »keins ist«, überwinden. Aber Long-Tail behauptet auch einen Sieg über die Tyrannei der Zeit: die Herrschaft des Aktuellen und Brandneuen im Einzelhandel. Im herkömmlichen Handel werden Lager- und Ladenraum über die Einnahmen finanziert, darum lohnt es sich, in einem Plattenladen eine aktuelle CD oder in einer Videothek eine DVD im Regal besonders hervorzuheben; an einem bestimmten Punkt muss man die älteren Sachen reduzieren oder loswerden. Wenn der Lagerraum drastisch billiger wird, weil eine niedrige Miete bezahlt wird, oder durch die Digitalisierung fast auf Null sinkt (das Online-Repertoire von Netflix an Filmen und Fernsehserien, digitale Musikfirmen wie iTunes und eMusic), resultiert daraus eine massive Ausweitung des Bestands. Wenn die Auslagen des Geschäfts online und virtuell sind, gibt es auch überhaupt keinen Grund, die älteren, sich nur schleppend verkaufenden Sachen schnell los zu werden, um Platz für neuere Waren zu schaffen.
»Von DVDs bei Netflix über Musikvideos bei Yahoo! … bis hin zu Songs im iTunes Music Store und Rhapsody«, freut sich Anderson, »wühlen die Leute tief im Katalog, durchsuchen die endlose Liste verfügbarer Titel viel weiter als die Angebote bei Blockbuster Video, Tower Records und Barnes & Noble«. »Viel weiter« heißt viel weiter in die Vergangenheit, kann aber auch heißen, jenseits des Mainstream, hin zu abseitiger Independent-Label-Kultur und exotischen Importen. Da bei den verschwindend geringen Mieten wenige