Während der jahrelangen Recherche und Vorbereitungen für das Konzert bekam Mitchell schließlich das Bootleg eines Audiomitschnitts der Ereignisses von 1984 in die Hände und das Neubauten-Mitglied Mark Chung stellte ihr die Partitur des Concerto zur Verfügung. »Es bestand im Wesentlichen aus drei Sätzen: einem Intro, dann kamen die Bohrer, die Akkorde und die Stimmen dazu und der Höhepunkt war das Finale ›Down to the Queen‹.« Die Idee war, dass die Gruppe in die ungefähre Richtung der Tunnel bohrt, die Gerüchten zufolge tief unter dem ICA verliefen und die angeblich den Buckingham Palace mit unterirdischen Bunkern verbanden, die der königlichen Familie und den Mitgliedern der Regierung im Falle eines nuklearen Angriffs zum Schutz dienten.
Dank der Fotografen, die sie mit Bildern versorgten, die nie gedruckt worden waren, gewann Mitchell einen Eindruck davon, wer die Rädelsführer und Unruhestifter im Publikum waren, und konnte Schauspieler angemessen casten und ausstaffieren (ein besonders aktiver Randalierer trug beispielsweise einen Iro). Beim Reenactment gab es Schauspieler, die das Publikum, die Musiker, die Security und die Verantwortlichen des ICA spielten; das bedeutete, dass es bei dem Konzert am 20. Februar 2007 ein echtes Publikum gab, das sich mit dem gespielten Publikum mischte, und zwei Gruppen von ICA-Angestellten, die einen unecht, die anderen echt. Die echten Verantwortlichen des ICA hatten eine beruhigende Wirkung auf das Reenactment, da sie einschritten, wenn allzu enthusiastische Besucher aus dem tatsächlichen Publikum sich an der inszenierten Zerstörung beteiligen wollten. Es gab auch strengere Sicherheitsvorschriften: »Es durfte nicht soviel Staub und Rauch geben wie 1984 und das ICA hatte sogar Ohrstöpsel ans Publikum verteilen lassen. Es gab ein Dezibel-Limit, an das wir uns halten mussten, und Beschränkungen bei den Funken, die durch die Flex erzeugt wurden.«
Eine andere Sache, die in sonderbarem Widerspruch zu dem ursprünglichen Geist des Ereignisses stand, war, dass Mitchell die Finanzierung über die Geräteverleihfirma HSS Tool Hire sicherstellte. Reenactments seien sehr teuer, erklärt sie, vor allem mit all den Proben und der Masse an Beteiligten. »Auf den Fotos waren die ganzen Betonmischmaschinen zu erkennen und sie stammten alle von HSS, einer der größten Geräteverleihfirmen. Ich brauchte die Maschinen für die drei Wochen Probe und sie übernahmen das. Andernfalls hätte das 10.000 Pfund gekostet.«
Blixa Bargeld, der Chef-Ideologe und Frontmann der Neubauten, hatte Mitchell sein Einverständnis gegeben und fand die ganze Idee, das Concerto zu wiederholen, »reizend«. Obwohl er am Ende an dem Chaos beim Original beteiligt war, entschied er sich, nicht als Zuschauer teilzunehmen, aus Angst, zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und so vielleicht die temporäre Echtheit des Reenactment zu gefährden. Aber während der heute reife und höfliche Bargeld sich dabei köstlich amüsiert, habe ich den Verdacht, dass der junge, mit Amphetamin vollgepumpte Blixa rot gesehen hätte. Schließlich standen die Einstürzenden Neubauten der Idee des kulturellen Erbes noch vehementer entgegen als Punk. Beeinflusst von Artaud, Nietzsche und Bataille war ihr gesamtes künstlerisches Projekt von einer Zerstörungslust geprägt, einer Sehnsucht nach dem Ende der Geschichte. Concerto for Voice & Machinery war auch so etwas die die abgespeckte Neubauten-Version von der Bootsfahrt der Pistols auf der Themse – dem Moment, in dem Rock mit den Autoritäten zusammenprallte. Aber was bedeutet es, wenn dieser Zusammenprall sich »wiederholt«, diesmal mit der Erlaubnis der Behörden?
Mir ist nie klar geworden, was der Sinn der historischen Reenactments ist: Diese ganze akribische Sorgfalt, um die Uniformen und den Kanonenrauch richtig hinzukriegen. Es ist klar, dass die Illusion, »dort zu sein«, auf allen Ebenen misslingt: Man weiß, dass es keine wirkliche Todesgefahr gibt; man weiß, wie das alles ausgehen wird. Es ist nur ein Historienspiel. Es gibt keine wirkliche Ungewissheit. In der erlebten Geschichte wussten die Beteiligten in Gettysburg nicht, dass die Konföderierten nicht gewinnen würden. Genauso wusste das Publikum des originalen Concerto for Voice & Machinery nicht, dass das Konzert im Chaos enden würde.
Diese Widersprüche sind dem Reenactment von Mitchell ohne Zweifel immanent. »Teilweise gehört die Unmöglichkeit, ein Ereignis zu wiederholen, dazu«, sagt sie. Ähnliche Gedanken äußerten auch andere prominente Reenactment-Künstler: Rod Dickinson hat sein Werk beispielsweise »als die Erschaffung einer Reihe von Paradoxien« beschrieben, »die die Widersprüche betonen, die bei einem solchem Versuch entstehen, seine Unmöglichkeit«. Forsyth und Pollard erzählen in Interviews immer: »Scheitern ist uns ungemein wichtig. Wenn man etwas kopiert, kann die Kopie das Original nie vollständig reproduzieren. Und durch diese Fehlleistung entsteht das Reale. Gute Kunst scheitert, auf einer gewissen Ebene, immer.«
Als ich mich mit Mitchell, Forsyth und Pollard unterhielt, fiel mit auf, wie begeistert sie über die Herausforderungen ihrer Projekte sprachen, die anstrengenden Recherchen, die beharrlichen Bemühungen, die Details der Epoche so präzise wie möglich hinzukriegen. Für A Rock’n’Roll Suicide konnten Iain und Jane einen von Bowies originalen Kostüm-Designern ausfindig machen. Mitchell schwärmt davon, »völlig hineingesogen zu werden. Das ist wahrscheinlich das komischste Gefühl, das ich je hatte. Ich hatte hunderte von Fotos, die meisten waren von den Abzügen der drei Fotografen abfotografiert und als Bilder ausgedruckt worden. Und ich verstreute sie über den Boden und versuchte, daraus eine Erzählung zu formen.«
Mitchell, Forsyth und Pollard waren sehr gesprächig und aufgeschlossen, wenn es um das »Wie« ihrer Reenactment-Projekte ging. Aber das »Warum« umgingen wir in unseren Gesprächen irgendwie. Genauso erging es mir, als ich die Kunstkritiken zu diesem Thema ansah, die mich nur mit dem vagen Gefühl zurückließen, dass die Arbeiten zeitgemäß waren und auf Resonanz stießen.
Was ist los mit der Gegenwart, dass diese Kunst nicht nur möglich und begehrenswert, sondern sogar unausweichlich wird? Wie dieses Kapitel andeutet, sind Reenactments mit der Etablierung der Idee vom kulturellen Erbe verknüpft und in gewisser Weise eine Antwort darauf: Museen, Spektakel der »lebendigen Geschichte« wie nachgebaute Dörfer oder inszenierte Schlachten, das Erbe als kulturelles Ideal. Das Reenactment ist gleichzeitig in eine weiterreichende Kultur der Kopie verstrickt, die alles von Karaoke, über Fernsehsendungen wie Stars in Their Eyes, bei der gewöhnliche Menschen berühmte Persönlichkeiten imitieren, das riesige Geschäft mit den Live-Cover-Bands, das von den Medien aber kaum wahrgenommen wird, die Online-Subkulturen der Fan Fiction und der Parodien auf YouTube bis hin zu extrem erfolgreichen Videospielen wie Rock Band und Guitar Hero umfasst. Eine intellektuellere Ebene bedienen Remakes wie Fenêtre sur cour von Pierre Huyghe – ein Remake von Hitchcocks Das Fenster zum Hof, das in einem Pariser Wohngebäude inszeniert wurde – oder Gus Van Sants Einstellung für Einstellung exaktes Remake von Psycho. Der endlose Strom von Remakes aus Hollywood trägt stark zu dieser Kultur der Reproduktion und Redundanz bei. Im Rock geschieht das auch durch Filme wie School of Rock und The Rocker: Sie stellen Rock’n’Roll in Komödien als eine durch und durch konventionalisierte Art der Rebellion dar und karikieren und perpetuieren dieses Phänomen damit gleichzeitig. Im ersten Film bringt Jack Black als Lehrer den Kindern all die orthodoxen, althergebrachten Gesten bei, die für Freiheit, Exzess und »Widerstand gegen die Staatsgewalt« stehen. Es ist die Kopie einer Kopie einer Kopie, aber die reglementierte Idee des wahren Rock’n’Roll, die aus seinen Augen spricht, unterscheidet sich nicht so sehr von dem, was man auf den Bühnen der ganzen Welt sehen kann. Johan Kugelberg gebraucht den Vergleich mit Reenactments historischer Schlachten, um gegenwärtige Punkbands zu beschreiben, die erfolgreich »30 Jahre alte Gigs« wiederholen, die ursprünglich an legendären Orten wie dem CBGB’s, The Masque in L. A., The Mabuhay in San Francisco und Londons 100 Club stattfanden. Nicht zu vergessen die unzähligen immer noch bestehenden Punkbands aus dieser Zeit, die trotz Arthritis nach wie vor auf der Bühne stehen.
Obwohl sie mehr aus der Kunstwelt denn aus der Rock-Kultur entstanden sind, befriedigen die Rock-Reenactments ein verborgenes Bedürfnis der Musikszene nach Ereignissen wie Punk oder Rave, die die Welt auf den Kopf stellten. Dem Anschein nach sind die Reenactments nur ein Teil der rückwärtsgewandten Kultur, die uns immer weiter von den Bedingungen entfernt, die solche totalen Veränderungen und einmaligen Umbrüche möglich machen. Aber vielleicht haben die Künstler recht, wenn sie vom Scheitern als Ziel sprechen: Das