Alle diese I Love the …-Sendungen sind chronisch gewordene Fälle des Chris-Farley-Syndroms. Die meisten der Gast-Kommentatoren taten dort nicht mehr, als die Phrasen/Songtexte/Werbeslogans, um die es ging, nachzuplappern oder irgendeine Variation von »Das war … so … cool« zu stammeln. Aber die wirklichen Metastasen des Chris-Farley-Syndroms zeigen sich im willkürlichen Chaos aus kulturellem Amateur-Altmaterial auf YouTube.
Das unermüdlich sich fortsetzende Labyrinth dieser kollektiven Sammlung ist ein einmaliges Beispiel für die Krise der Überdokumentation, die von den digitalen Medien ausgelöst wurde. Seit die kulturelle Datenmenge nicht mehr an ein physisches Material gebunden ist, sind unsere Kapazitäten, diese zu lagern, zu sortieren und darauf zuzugreifen, unglaublich gestiegen. Die Komprimierung von Text, Bild und Ton führt dazu, dass Raum- und Kostenfragen uns nicht mehr davon abhalten, alles und jedes, was auch nur annähernd interessant oder unterhaltsam scheint, zu konservieren. Durch die Fortschritte in der Technik (Scanner, Festplattenrecorder, Handycameras) ist es möglich, schnell und unwiderstehlich bequem Dinge zu teilen: Fotos, Songs, Fernsehmitschnitte, Vintage-Mags, Illustrationen und Titelbilder von Büchern, Bilder einer bestimmten Epoche, was auch immer. Und sobald etwas im Netz ist, bleibt es meistens auch dort, für immer.
Damit hat sich ein tiefgreifender Umbruch ereignet, bei dem YouTube einerseits als wichtiger Akteur und andererseits als wirkungsmächtiges Symbol fungiert: eine astronomische Expansion der Ressourcen des menschlichen Gedächtnisses. Wir haben als Individuen und auch als ganze Zivilisation unglaublich viel mehr »Raum« für Erinnerungsstücke, Dokumentation und Aufnahmen aller möglichen Spuren unserer Existenz. Und naturgemäß sind wir damit beschäftigt, diesen Raum zu füllen, während sich gleichzeitig dessen Kapazität immer weiter erhöht. Trotzdem gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass unsere Fähigkeit, diese Erinnerungen zu verarbeiten oder sie sinnvoll zu gebrauchen, wesentlich zugenommen hätte.
Andreas Huyssen schreibt über diese »Erinnerungsepidemie«, von der die Industrienationen in den letzten paar Jahrzehnten erfasst worden sind, und fragt: »Das Ziel scheint die totale Erinnerung zu sein. Ist das die übergeschnappte Fantasie eines Archivars?« Noch bedeutsamer als diese »totale Erinnerung« ist der permanente Zugriff auf selbige, den die kulturellen Datenbanken des Internets ermöglichen. Auch vor dem Internet-Zeitalter gab es viel mehr Informationen und Zugang zur Kultur als der Einzelne verarbeiten konnte. Doch der Großteil dieser Kulturdaten und dieses Materials lag außerhalb der alltäglichen Reichweite, in Bibliotheken, Museen und Galerien. Heutzutage ersparen uns Suchmaschinen die Verzögerungen, die das Wühlen in den finsteren und labyrinthischen Magazinen einer Bibliothek mit sich brachte.
Das hat dazu geführt, dass die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit in unserem Leben auf unermessliche und geradezu heimtückische Weise zugenommen hat. Der alte Kram durchdringt die Gegenwart entweder direkt oder lauert unter der Oberfläche des Gegenwärtigen, in Form von Bildschirm-Fenstern in andere Zeiten. Da wir uns so sehr an diesen bequemen Zugang gewöhnt haben, ist es undenkbar geworden, sich daran zu erinnern, dass das Leben nicht immer so war: Es ist noch nicht so lange her, dass man die meiste Zeit in der kulturellen Gegenwart lebte und die Vergangenheit auf Zonen beschränkt war, die in bestimmten Objekten und Orten gefangen waren.
Am ehesten lassen sich diese Veränderungen veranschaulichen, wenn man die Gegenwart mit den Bedingungen der späten 70er vergleicht, als ich ein junger Kerl war. Betrachten wir zuerst die Musik. Plattenfirmen haben damals Platten aus ihrem Sortiment gestrichen; zwar konnte man Alben, die nicht mehr nachgepresst wurden, in Second-Hand-Läden finden oder über spezialisierte Mailorder bekommen, aber die ganze Plattensammler-Kultur steckte noch in den Kinderschuhen. Ich kann mich noch gut an den Zeitpunkt erinnern, als mir auffiel, dass Reissues in Musikzeitschriften besprochen wurden – Tim Buckleys Greetings from LA oder ein paar Faust-Alben –, eben weil das wirklich seltene Ereignisse waren. Von Box-Sets oder Deluxe-Neuauflagen klassischer Künstler hatte man in den 70ern praktisch noch nichts gehört. Wenn man sich alte Musik anhören wollte, dann war man auf das beschränkt, was in den Läden zu finden war und was man sich von seinem kleinen Budget leisten konnte. Es gab auch die Möglichkeit, sich Sachen aus den Sammlungen von Freunden oder aus öffentlichen Bibliotheken zu überspielen, aber auch das wurde von der Verfügbarkeit und den Kosten für die Leerkassetten determiniert. Heute hat jeder junge Mensch Zugang zu praktisch allem, was jemals aufgenommen wurde, kostenlos, und jeder kann dank Wikipedia und Tausenden von Musikblogs und Fanseiten problemlos die Geschichte und den Kontext der Musik nachlesen.
In anderen popkulturellen Feldern ist die Situation ähnlich. Wiederholungen gab es im Fernsehen nur vereinzelt und die reichten selten weiter als ein paar Jahre zurück. Es gab keine Sender, die sich ausschließlich dem Vintage-Fernsehen widmeten, keine DVD-Collections von Serienklassikern, kein Netflix oder überhaupt nur Videotheken. Klassische Filme oder cineastische Obskuritäten flackerten durch das Fernsehprogramm und wenn man sie verpasst hatte, waren sie verloren, ganz und gar unerreichbar – abgesehen von flüchtigen unvorhersehbaren Vorführungen in Programmkinos, die sich den »Midnight Movies« oder überhaupt einem abseitigen Repertoire verschrieben hatten.
Unser Verhältnis zu Raum und Zeit hat sich im YouTube/Wikipedia/Rapidshare/iTunes/Spotify-Zeitalter gänzlich gewandelt. Entfernungen und Verzögerungen wurden auf ein Minimum reduziert. Um nur ein Beispiel zu geben: Als ich den letzten Absatz schrieb, habe ich mir eine parodistische Version von Beethovens Sechster Symphonie (die »Pastorale«) auf einer »komischen« Avantgarde-Compilation namens Smiling Through My Teeth angehört. Daraufhin wollte ich mir die richtige Fassung in unverstümmelter Form anhören. Ich hätte einfach durch meine Wohnung zu dem begehbaren Schrank schlendern können, wo der Großteil meiner Plattensammlung versteckt ist, aber um meinen Arbeitsablauf nicht zu unterbrechen, blieb ich vor dem Rechner sitzen und ging auf YouTube, wo ich zig Versionen der verschiedensten Orchester fand. (Ich hätte mir die Pastorale genauso gut ohne Bilder mittels der Sounddateien im Wikipedia-Eintrag zu Beethovens Sechster anhören oder im Handumdrehen sowohl legal als auch illegal runterladen können.) Ich staunte darüber, wie schnell ich dieses bestimmte Musikstück bekommen konnte – und vertiefte mich natürlich in den Vergleich der verschiedenen Versionen der Pastorale, die auf der YouTube-Seitenleiste, die man beliebig herunterscrollen kann, zu finden sind: dies, falls nötig, als Beweis für die Kehrseite von vereinfachtem Zugang und gestiegenem Angebot.
YouTube ist natürlich nicht die einzige Video-Plattform. Aber da es der Pionier und Marktführer in diesem Bereich ist, wird es zu einem Synonym für die ganze Industrie, so wie Kleenex und Hoover allgemeine Begriffe für Papiertuch und Staubsauger geworden sind. Zur Zeit der Niederschrift dieses Buches (Sommer 2010) hat YouTube einen Meilenstein erreicht: Mit atemberaubenden zwei Milliarden Aufrufen pro Tag ist es die am dritthäufigsten besuchte Website der Welt. Pro Minute werden weitere 24 Stunden Videomaterial hochgeladen, und ein einzelner Betrachter würde 1.700 Jahre brauchen, um all die hundert Millionen Videos anzusehen.
YouTube ist nicht einfach irgendeine Website oder eine Technologie, sondern eher ein ganzes Feld kultureller Praktiken. Der Medientheoretiker Lucas Hilderbrand gebraucht Begriffe wie »Remediation« (A. d. Ü.: Sanierung) oder »Post-Broadcasting«, um auf den Punkt zu bringen, was an YouTube so innovativ ist. Das »Re« in Remediation unterstreicht, dass YouTube größtenteils, wenn nicht sogar völlig, von den Programmen der Mainstream-Unternehmen der Unterhaltungsindustrie abhängig ist: Musikpromos, die von Major-Labels, Fernsehsendern und Hollywood gemacht und bezahlt wurden. Selbstverständlich gibt es auch eine Menge Sachen, die nicht dem Mainstream oder DIY zuzurechnen sind: Es gibt abseitige und Underground-Musik/Kunst/Filme/Animationen, Amateur-Videos von Babys und Hunden, die putzige Sachen machen, von Teenagern,