»Neben den Sex Pistols ist Rock’n’Roll und die Hall Of Fame nichts als ein Pissfleck. Euer Museum. Urin im Wein. Wir kommen nicht. Wir machen uns für euch nicht zum Affen. Wenn ihr für uns gestimmt habt, habt ihr euch hoffentlich eure Gründe notiert. Als Jurymitglieder seid ihr anonym, aber ihr seid trotzdem Teil der Musikindustrie. Wir kommen nicht. Ihr hört uns nicht zu. Jenseits dieses Scheißestroms gibt es eine wirkliche Sex Pistol.«
Es war eine Art seltsame Trotzhandlung. Schließlich hatte die Gruppe ihren Beitrag zur Retro-Kultur bereits geleistet, als sie sich 1996 für die sechsmonatige Filthy-Lucre-Tour reformiert hatte, und nur ein Jahr nachdem sie der Hall of Fame den Mittelfinger gezeigt hatten, machten sie die eigene Legende mit einer Reihe von Konzerten 2007 und 2008 wieder zu Geld. Allerdings konnten diese Reunions – Never Mind the Bollocks als eine reisende Wanderausstellung – als erfrischend zynisch, ja sogar als eine Erweiterung der ursprünglichen Entmystifizierung der Musikindustrie durch die Pistols gesehen werden: Die Parole war nicht mehr »Aus Chaos Geld machen«, sondern aus der Nostalgie für das Chaos Geld machen. Wenn sie bei der Ehrung durch die Hall of Fame aufgetaucht wären, hätte das bedeutet, dass die Gruppe sich wirklich jede verbliebene Kante abgestoßen hätte. In einem Interview mit dem National Public Radio verkündete Pistols-Gitarrist Steve Jones: »Sobald man in ein Museum gesteckt wird, ist es aus mit Rock’n’Roll.«
Wenn Bands 25 Jahre nach ihrer Gründung die Berechtigung erlangt haben, in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen zu werden, ist das zu guter Letzt das Übergangsritual ins Rock-Jenseits. In manchen Fällen ist der Künstler tatsächlich tot; in fast allen anderen Fällen ist die Kreativität des Musikers bereits vor einiger Zeit erloschen. Adorno hat als erster auf die Ähnlichkeit der Wörter »Museum« und »Mausoleum« aufmerksam gemacht. Abgesehen von der phonetischen Assoziation gibt es noch eine tiefere Nähe: Museen bezeichnen den Friedhof für »Gegenstände, zu denen der Betrachter sich nicht mehr lebendig verhält und die selber absterben.« Die Hard-Rock-Cafe-Kette (die in den 70ern begann, Erinnerungsstücke aus der Rockgeschichte wie signierte Gitarren als Dekoration zu nutzen) nannte ihr eigenes Museum in Orlando »Vault« [A. d. Ü.: Gruft]. Und »Wolfgang’s Vault« lautet auch der etwas gruselige Name des größten Musik-Fanartikel-Vertriebs der Welt, der aus einem riesigen unterirdischen Lager hervorging, in dem der berühmte Konzertveranstalter Bill Graham aus San Francisco (der eigentlich Wolfgang Grajonca hieß) sein Archiv mit Ton- und Videomitschnitten von Konzerten, Postern und verschiedensten Rock-Relikten aufbewahrte. Gruselig ist das deshalb, weil Graham/Grajonca 1991 starb und Wolfgang’s Vault an einen Grabhügel erinnert, wo der König mit all seinen Schätzen begraben liegt.
Bevor die Besucher in das Rock and Roll Hall of Fame and Museum Annex in New York eingelassen werden, müssen sie in einem kleinen Raum warten, der tatsächlich einem Mausoleum gleicht. Von der Decke bis zum Boden sind die Wände mit rechteckigen Plaketten bedeckt. Auf jeder davon wird eines Künstlers gedacht – und trägt jeweils dessen Namenszug –, der in die Hall of Fame aufgenommen wurde. Neben dem Eingang geht es los mit den ersten Rekruten Mitte der 80er – Carl Perkins und Clyde McPhatters – und die Ausstellung arbeitet sich dann langsam zu den zeitgenössischeren Künstlern, wie den Pretenders (die 2005 geehrt wurden) vor, die sich bei der Eingangstür zum eigentlichen Museum finden. Die Plaketten erinnern stark an die kleinen »Nischen« für Urnen, wie man sie aus manchen Grabgewölben kennt. Es läuft Musik, und bei jedem Song leuchtet die silberne Handschrift des entsprechenden Künstlers in orange oder violett, was gleichermaßen kitschig und unheimlich ist.
Das Museum in Cleveland setzt gegenüber seiner Filiale sogar noch eins drauf. Als Fusion aus Museum und Mausoleum stellt es die irdischen Überreste von Alan Freed aus, dem DJ, der den Begriff »Rock’n’Roll« bekannt gemacht und 1952 mit dem Moondog Coronation Ball in Cleveland das erste Rock’n’Roll-Festival organisiert hat. Jim Henke, der Chefkurator des Museums, erklärte, dass »wir mit Freeds Kindern bei der Auswahl der Ausstellung zusammengearbeitet haben, und sie eines Tages sagten: ›Passt auf, unser Vater ist in Upstate New York begraben, aber das ergibt überhaupt keinen Sinn. Wenn wir euch die Asche bringen würden, würdet ihr sie nehmen?‹ Also sagten wir zu und jetzt haben wir in der Abteilung von Alan Freed einen Glasabschnitt in der Wand mit seiner Asche.«
Aufgabe der Rock and Roll Hall of Fame ist es, Inhalte zu vermitteln und zu unterhalten, und nicht, durch die Verehrung der Ahnherren Aberglauben zu provozieren. Henke beschreibt den ursprünglichen Prozess, die Ausstellung des Museums zu kuratieren als eine Fortsetzung seiner Arbeit, die er als Herausgeber von The Rolling Stone Illustrated History of Rock & Roll geleistet hat: »Ich habe einen Entwurf gemacht, als würde ich ein Buch über die Geschichte des Rock zusammenstellen.« Er ist stolz auf die große Bibliothek und das Archiv, das kürzlich eröffnet wurde und das bedeutendste Forschungszentrum für Popmusik werden soll. Trotzdem provozieren viele der Exponate in Cleveland und im New Yorker Ableger (der im Januar 2010 nach nur zwei Jahren wieder geschlossen wurde) etwas, was an die heiligen Reliquien aus dem Mittelalter erinnert, an die Splitter des Kreuzes, die Knochen eines Heiligen oder an Fläschchen mit dem Blut Christi: Sie evozieren eher morbide Ehrfurcht als wissenschaftlichen Respekt. Beispielsweise wird in Cleveland eine von Bob Marleys Dreadlocks ausgestellt. »Die haben wir von seiner Familie«, sagt Henke. »Ich denke, als er Krebs bekam, fielen ihm die Haare aus, und sie haben eben eine seiner Dreadlocks aufgehoben.« In der Sonderausstellung in New York, die John Lennons Zeit in der Stadt dokumentiert, ist das Highlight eine große Papiertüte mit der Kleidung, die Lennon am Tag des Attentats trug, und die Yoko Ono im Krankenhaus ausgehändigt worden ist. Da man genaugenommen kein getrocknetes Blut darauf erkennen kann, bleibt man als Besucher immer vom realen Körper des ermordeten Sängers entfernt, von derjenigen Gestalt im Rock, die einem Erlöser am nächsten kommt.
Andere Ausstellungsstücke ziehen eher durch eine Übertragung in ihren Bann als dadurch, dass sie tatsächlich, wie das Buch Lennons, direkt dem Körper eines Idols entstammten: von Stars getragene Klamotten und von ihnen benutzte Instrumente, die eine »Aura« ausstrahlen. Der New-York-Ableger präsentiert zwei Glanzstücke. Das erste ist das 1957er Chevrolet-Bel-Air-Cabrio, Bruce Springsteens erstes Auto, das er auch zur Zeit der Aufnahme von Born to Run 1975 fuhr. Das zweite ist eine Nachbildung des Innenraums des CBGB’s, die originale Gegenstände aus dem legendären Punk-Club enthält: die altmodische Registrierkasse, das klassische Münztelefon, das noch aus den 20ern stammt, als der Ort noch eine schäbige Absteige war. Es gibt ein paar nette Kleinigkeiten – überall sind leere Bierflaschen, Graffiti und Band-Aufkleber –, aber es gibt nirgends Aschenbecher (ein entscheidender Bestandteil der Einrichtung jener Jahre, wenn man bedenkt, dass hier die Blütezeit des CBGB’s dargestellt werden soll, die Epoche der Ramones). Es klebt auch kein getrockneter Kaugummi unter den Tischen. Ich fragte mich, wo die berühmt-berüchtigte verwahrloste Toilette des CBGB’s ist, fand sie jedoch, als ich vor dem Verlassen des Museums kurz nach unten zur Toilette huschte. Dort ist das Pissoir des CBGB’s, auf der Außenseite übersät mit Aufklebern. »Die Toilette des CBGB war berüchtigt«, heißt es auf der Plakette daneben nüchtern, aber treffend. Marcel Duchamp trifft auf die Retro-Kultur! Ich habe damit gerechnet, sie noch in Benutzung vorzufinden, aber vermutlich ist dieser Pisspott eine Antiquität und außerdem hätte das bedeutet, dass nur ein Geschlecht einen Blick darauf hätte werfen können. (Zufälligerweise erfuhr ich, während ich dieses Kapitel zusammenstellte, dass der Künstler Justin Lowe im Sommer 2010 die mit Graffiti beschmierte Toilette des CBGB im Wadsworth Atheneum in Connecticut nachgebaut hat – nicht nur als Hommage an den Punk-Laden, sondern auch an das Museum, das sich in seiner Geschichte durch die Unterstützung surrealistischer Kunst ausgezeichnet hat –, während im August des gleichen Jahres die Kommode aus dem Anwesen, das John Lennon von 1969 bis 1972 bewohnte, für 15.000 Dollar auf einer Auktion für Beatles-Erinnerungsstücke versteigert wurde.)
»Wir sind ein Museum mit einem Standpunkt«, behauptete der Direktor des Rock and Roll Hall of Fame, Dennis Barrie, optimistisch bei der Eröffnung im September 1995. Der große Rivale der Einrichtung in Cleveland, das Experience Music Project (EMP) in Seattle – 2000 eröffnet, vom Millionär Paul Allen, der sein Vermögen als Mitbegründer von Microsoft gemacht hatte, finanziert