Ende der 90er war die Bewahrung von Kultur in Großbritannien zu einer derart vorherrschenden Kraft geworden, dass Julian Barnes mit England, England einen satirischen Roman darüber schrieb. Darin wird die gesamte Isle of Wight mit einer Themenpark-Version des Landes bebaut, die sich hauptsächlich auf die touristischen Klischees von Britishness stützt (strohbedeckte Häuschen, Melonenhüte, Doppeldeckerbusse, Cricket etc.).
In ganz Großbritannien sind einzig die Chavs gegen die Romantik des Antiquierten immun – Chav ist eine abwertende Bezeichnung für Angehörige der weißen Arbeiterklasse, die sich mit der Musik und dem Stil des schwarzen Amerika identifizieren, wo er am protzigsten und materialistischsten daherkommt. Obwohl die Gegner der Chavs sich über deren Mangel an Geschmack und deren Vulgarität beschweren – der pompöse Schmuck, die grellen Trainingsanzüge, »Spaceship«-Turnschuhe –, steht im Subtext dieser Anfeindungen aber, dass die Chavs an alten Dingen wie Antiquitäten, Kulturgütern, Kostümfilmen nicht interessiert und damit unbritisch sind. Diese Abneigung gegen Vintage, das Gebrauchte und Abgetragene aus zweiter Hand, haben ethnische Minderheiten auf beiden Seiten des Atlantiks und die traditionelle weiße Arbeiterklasse gemeinsam.
In Großbritannien sind die Chavs selber eine Art ethnische Minderheit. Die breite konservative Mittelschicht ist den mittelmäßigen Reizen des Altmodischen erlegen. In den 80ern hat dort ein Gesinnungswandel stattgefunden, der zweifelsfrei auf die gleichen sozialen und kulturellen Ursachen zurückzuführen ist wie die Gründung des National Heritage Act 1983. Wie der Architektur-Blogger Charles Holland gezeigt hat, empfehlen Einrichtungsund Heimwerkerbücher bis weit in die 70er das Verdecken von Täfelungen, das Herausreißen von Kaminen mit eisernem Gitterrost, das Überstreichen von Mauerwerk an der Fassade und das Kaschieren von hohen Räumen mittels Zwischendecken. Der moderne Haushalt kam in den 50ern in Mode, der goldenen Zeit der Design-Messen, Weltausstellungen und Verbraucherschauen mit Titeln wie This Is Tomorrow. Resopal und Chrom, Leuchtstoffröhren und das rigorose Entfernen von dekorativem Plunder wie Gesims und Stuck waren in jedem Mittelklassehaushalt unerlässlich. In den 80ern veränderte sich all das allerdings: Eingezogene Decken wurden entfernt, Kamine wieder freigelegt und Plastik-Türklinken durch die originalen aus Messing ersetzt. Fliesen und Holzdielen kamen wieder in Mode und alle möglichen Absonderlichkeiten wurden von Maklern und Kaufinteressenten als »originale Ausstattung« betrachtet. Darauf folgte ein wahrer Boom an Restaurierungen und architektonischen Rettungsaktionen – altmodische Emaille-Bäder und andere Armaturen wurden aus vom Abriss bedrohten Häusern, Schulen und Hotels geborgen – und es gab immer mehr »altertümelnde Marotten« (ein Begriff von Samuel Raphael) wie die Liebe zu artifizieller Abnutzung von Möbeln oder Baustoffen, künstlich gealterte Ziegel, die russfleckig oder durchlöchert aussahen.
Angesichts dieser konservatorischen Haltung, die unsere gesamte Kultur durchzieht, überrascht es nicht, wenn eine ganze Industrie entsteht, in der Rock als Kulturgut bewahrt wird. In diesem Zusammenhang ist es vollkommen logisch, beinahe unausweichlich, dass die Abbey-Road-Studios in Nordlondon per Beschluss des Kulturministerums erhalten werden oder dass zum 30. Todestag von Ian Curtis ein Stadtrundgang durch Macclesfield angeboten wird. »Rock gehört genauso zur Vergangenheit wie zur Zukunft«, sagt James Miller in seinem Buch Flower in the Dustbin, das seinen Titel einem Sex-Pistols-Song entlehnt, und in dem er behauptet, Rock habe bereits 1977 alle wesentlichen Bewegungen, Archetypen und Wege der Selbsterneuerung durchlaufen, so dass alles, was seither kam, entweder Recycling oder der Gang über ausgetretene Pfade sei. Ich würde nicht ganz so weit gehen. Aber wenn Huyssen die rhetorische Frage stellt »Warum bauen wir Museen, als gäbe es kein Morgen?«, frage ich mich, ob die Antwort lautet, dass wir uns das Morgen einfach nicht mehr länger vorstellen können.
DEM ARCHIV VERSCHRIEBEN
Der Titel eines Buches von Jacques Derrida, »Dem Archiv verschrieben« (im Original »Mal d’archive«), bezeichnet sehr gut den heute herrschenden dokumentarischen Fieberwahn, der nicht nur Institutionen und professionelle Historiker befallen hat und das Internet zu einem explosionsartig anwachsenden Amateur-Archiv macht. Bei all dieser Aktivität stellt sich ein Gefühl der Ekstase ein; es ist, als würden die Leute den Kram – Informationen, Bilder, Zeugnisse – in einer wahnwitzigen Raserei »dort hinein« schleudern, bevor unsere Gehirne simultan stillgelegt werden. Nichts ist zu banal, zu belanglos, um weggeworfen zu werden; jeder popkulturelle Schrott, jeder Trend und jede Mode, jeder nahezu in Vergessenheit geratene Künstler oder jede Fernsehsendung wird kommentiert und verurhebert. Das Ergebnis ist, wie überall im Netz zu beobachten, dass das Archiv zu einem Anarchiv verkommt: ein kaum überschaubares Durcheinander an Datenmüll und Erinnerungsschrott. Damit ein Archiv irgendeine Form von Seriosität bewahren kann, muss es gesichtet und sortiert und manche Erinnerungen dem Vergessen überlassen werden. Die Geschichte braucht einen Mülleimer, sonst wird sie zu einem Mülleimer, einer gigantischen, wuchernden Müllkippe.
Eine Mainstream-Erscheinungsform dieses Anarchivs ist die I Love the …-Reihe, die in den 2000ern extrem populär war. Ursprünglich die Idee des Produzenten Alan Brown für BBC2, wurden die Lizenzrechte an VH1 nach Amerika verkauft und ebenso inspirierten sie Channel 4 zu den Top 10-Sendungen. Die seichten und schnelllebigen I Love …-Sendungen boten eine Reihe zweitklassiger Comedians und unbedeutender Prominenter, die über die massenkulturellen Trends und Torheiten eines bestimmten Jahrzehnts witzelten: Soap-Operas, Kassenschlager, Popsongs, Frisuren und Mode, Spielzeug und Spiele, Skandale, Slogans und Redensarten. In den USA begann die Reihe 2002 mit den 80ern, machte einen Schritt zurück zu I Love the ’70s, ging dann über zu I Love the ’90s und Spin-Offs wie I Love Toys oder I Love the Holidays. Die zwanghafte Logik dieses Archivierungswahns beschleunigte die Serie so weit, dass die US-Version die Nullerjahre bereits 2008 in der Serie I Love the New Millennium zusammenfasste.
»Diese Sendungen wurden bis zum Erbrechen gespielt«, sagt Mark Cooper, der als kreativer Leiter der Musikabteilung des BBC-Fernsehprogramms im letzten Jahrzehnt die treibende Kraft hinter dem Boom von qualitativ hochwertigen Rockdokumentationen auf BBC2 und besonders auf BBC4 war. »Anfangs war schön, dass es noch darum ging, einen gewissen Sinn für Nostalgie zu erzeugen, aber es ging ihnen nicht ums Hinterfragen oder Verstehen. Sie wollten nur eine Kostprobe davon haben, nur mal schnuppern. Es ging meistens nur um ein ›Erinnert ihr euch an diese Frisur?‹ Nach einiger Zeit wurde die Sendung inhaltsleer, die von den Produktionsteams mehr als Show denn als Dokumentation betrachtet wurde. Die Vergangenheit wurde nicht als Geschichte, sondern als reine Nostalgie betrachtet.«
Geschichte ist eine Form, Realität zu bearbeiten. Damit eine historische Erzählung funktioniert, bedarf es eines Filters, ansonsten überschwemmt der Informationsmatsch den Erzählstrom. Die Dokumentationen, die Cooper für die BBC betreut, und besonders die »Britannia«-Reihe auf BBC4 (Folk Britannia, Blues Britannia, Prog Britannia, Synth Britannia etc.), sind das Gegenteil all der Shows, die einfach nur alles auflisten. »Sie rücken die Musikgenres von den 50ern bis in die Gegenwart in den Fokus und versuchen die Geschichte der britischen Musik als Suche nach einer Identität zu erzählen«, sagt Cooper. »So haben Jazz, Blues und Soul dazu beigetragen, uns von den 50ern zu emanzipieren.« In manchen Fällen passiert es, dass die Erzählungen mit der offiziellen Geschichtsschreibung brechen oder sie anzweifeln. Beispielsweise sagt Cooper, dass die Prog Britannia-Dokumentation mit dem »Klischee brach, alles vor Punk, vor 1976 sei langweilig und Mist gewesen. Diese ›offizielle‹ Sichtweise, dass die erste Hälfte der 70er Brachland war. Prog Britannia versuchte anhand der musikalischen Landschaft nach Sgt Pepper’s nachzuvollziehen, dass es einen